Johann Peter Hebel
Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes
Johann Peter Hebel

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Das Blendwerk

Manche Leute, wenn sie etwas sehen, das sie nicht begreifen, noch weniger nachmachen können, so sagen sie kurz und gut, das ist ein Blendwerk. Nämlich, dass man etwas zu sehen glaube, wo nichts ist, oder dass man die Sache anders sehe, als sie wirklich ist.

Dass es aber viel Blendwerk gibt, das unterliegt keinem Zweifel. Z. B. wenn jemand im Mondschein auf der Strasse ist und sieht an einer Mauer oder im Nebel seinen Schatten aufrecht, dass er meint, es sei ein ungebetener Kamerad, der mit ihm geht, einer von der schwarzen Legion.

Item, wenn jemand einen falschen Freund für einen guten Freund hält und trotz aller Warnung dem Spitzbuben traut, bis er zuletzt um Hab und Gut betrogen ist und die Hände über dem Kopf zusammenschlägt. Das ist ein grosses Blendwerk.

Item, wenn jemand meint, etwas sei ein Blendwerk, und ist doch keins.

In einem namhaften Ort am Rheinstrom kam ein Gaukler an, ein Tausendkünstler, und bekam die Erlaubnis, auf einer alten Heubühne, die schon lange nicht mehr war gebraucht worden, seine Künste zu zeigen, und zwar gleich zum letzten Mal. Fast die ganze Gemeinde versammelte sich, und es war der Mühe wert.

Dem Vernehmen nach – der Hausfreund war nicht dabei – brachte der Tausendkünstler zuerst zwei schwarze Katzen hervor, die hörten einander das grosse Einmaleins ab und rechneten verschiedene Exempel aus der verkehrten Regeldetri.

Nachdem schlupfte er durch einen metallenen Fingerring hindurch und kam auf der andern Seite lebendig und ebenso dick wieder an, als er vorher war.

Etwas an der Sache scheint übertrieben zu sein.

Hierauf sagte er, das sei aber noch alles nichts. Jetzt wolle er sich mit einem scharfen Schrotmesser den Bauch aufschneiden. Hernach wolle er ganz in den Bauch hineinschlupfen, dass man gar nichts mehr von ihm sehe. Hernach wolle er sich wieder aus sich selber herauswickeln, dass er wieder sichtbar werde.

Ehe er aber das grosse Wägestück beginnen konnte, fing die Bühne an zu knacken. Es kracht links, es kracht rechts. Knack, stürzte der morsche Boden zusammen, und die ganze Zuschauerschaft wäre in dem untern Raume zusammengestürzt, wenn nicht noch einer sich an einem schwebenden Balken erhalten hätte. Die andern lagen alle unten. Da entstand nun ein grosses, vierstimmiges Not- und Zetergeschrei von Männern, Weibern, Kindern und Säuglingen. Es ist gar klug, wenn man kleine Kinder zu so etwas mitträgt. Sie sehen alles gar gut, und wenn's an Musik fehlt, so können sie machen. Alles schrie: »O mein Kopf, o mein Arm, o meine Rippen«, so dass der oben auf dem Balken genug zu trösten und zu ermahnen hatte. »Habt doch nur Geduld«, sagte er, »und seid verständig! Man muss sich ja schämen vor dem fremden Mann: Merkt ihr denn nicht, dass es nur Blendwerk ist? Euch Leuten«, sagte er, »ist keine Ehre anzutun.« Denn er hielt das Unglück für ein Blendwerk vom Künstler und meinte, unversehens würden wieder alle an ihren Plätzen sitzen.

 


 


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