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Der Brunnen des Lebens

Rede, gehalten in der Großen Aula der Berliner Universität am 18. November 1932.

Kommilitonen!

Sie haben mir einen Empfang bereitet, für den ich Ihnen herzlich danke.

Ich denke, ich habe ein Recht, mich als Ihren Kommilitonen zu bezeichnen. Zwar brachte mich ein irregulärer Weg vor fünfzig Jahren an die schöne Universität Jena. Trotzdem war ich ein regulärer und echter Student wie nur irgendeiner.

Was ist es, was den Studenten macht? Jugend, Lebensfreude, Glaube, Wissenshunger, geistiges Eroberungsglück, Hingebung an Lehrer und gleichstrebende Freunde, dies alles getaucht in überschäumenden Lebensgenuß und – »O alte Burschenherrlichkeit!« – übermütige, herrliche Laune.

Kommilitonen! Viele unter Ihnen, hoffentlich nicht die meisten, werden sich in diesem Bilde des Studenten nicht wiedererkennen. Die bleiernen Schicksalswogen, die sich über uns alle hinwälzten, werden Sie sagen, dulden einen solchen Studenten nicht. Und doch sage ich Ihnen: Es ist und bleibt gut, heiter im Herzen und zuversichtlich im Geiste zu sein. Ich kann mich erinnern, daß ich es unabhängig von meinen äußeren Umständen, selbst als ich nur dreißig Mark im Monat zu verzehren hatte, erstaunlicherweise gewesen bin, womit ich nicht etwa dem Mangel das Wort rede – wahrhaftig nein! –, sondern ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen Mittel, die ausreichen, um Ihre Körper gesund zu erhalten, wünsche Ihnen heiliges Öl für das Lämpchen der Freude und Humus für ein schönes Florieren im Geist. Aber ich meine, das soziale Bewußtsein soll das junge Individuum nicht zu erdrücken versuchen, es nicht übermäßig belasten. Was es auch immer für äußere Pflichten gibt, es gibt auch für jeden das unantastbare Recht auf sich selbst.

Meine siebzig Lebensjahre haben es mit sich gebracht, daß ich heute mit einer Reihe von Universitäten ehrenvoll verbunden bin. Oxford in England ging im Jahre 1905 voran. Ihm folgte Leipzig, als die berühmte Universität ihr fünfhundertjähriges Bestehen feierte. Die älteste Universität deutscher Zunge, die in Prag, schloß mich in den Kreis ihres Geistes und ihrer Geister im Jahre 1921 ein. In diesem Jahre bin ich mit dem Haus- und Heimatrecht der mächtigen Columbia-Universität in New York belehnt worden. Und jedesmal, wenn der bedeutsame Gruß einer dieser Körperschaften mich traf, war es mir wie die Benetzung durch den Feuergeist eines Jungbrunnens.

Dieser Feuergeist eines Jungbrunnens ging zu meiner Zeit, ich möchte sagen, als köstliche Flamme von den deutschen Hochschulen aus. Dafür ist Idealismus ein viel zu schwaches, viel zu welkes Wort, ein Abstraktum, das dem lodernden Element nicht gewachsen ist, das uns damals brennend ins Blut leckte. In Jena wurde um Haeckel gekämpft, Rudolf Eucken holte mit begeisterter Beschwörung die Seele Platons aus dem Empyreum zu uns herab, Schliemann hatte den Goldschatz des Priamos aus trojanischer Erde gegraben, und die deutschen Archäologen waren irgendwie durch das Wunder zu noch höherem Leben geweckt und aufgeregt. Der große, wahrhaft große, unerreichte Leopold Ranke lebte noch, als Sprachgestalter so groß wie als Forscher. Mommsen, Treitschke, Helmholtz, Virchow, Du Bois-Reymond lehrten in Berlin, und keiner von ihnen hätte den Geistesbegriff ohne Adlerflügel gelten lassen. In allem damals lag eine Festivitas, eine Festlichkeit: bis in den Humus unter unsern Füßen drang damals gleichsam der Lichtäther hinein. Es gab keine Apathie, keine Gleichgültigkeit; das frohe Werden war allgemein. Und wer damals eine Schlafmütze oder einen Schlafrock hätte auftreiben wollen, der hätte ihn nirgends gefunden.

Die Schildbürger, wie Sie wissen, hatten ein Haus gebaut und die Fenster vergessen. Sie wußten sich aber zu helfen und trugen das Licht in Säcken hinein. Wäre es möglich, ich möchte wie sie handeln. Ich möchte eine gewisse Fensterlosigkeit, an der wir leiden, eine gewisse Enge, an der wir kranken, womöglich aufheben können, indem ich vom Jugendgeist meiner Jugend einige Säcke voll hineintrage. Oder aber ich denke an eine Bluttransfusion vom Damals zum Heut, um den anämischen oder leukämischen Faktoren im Körper unserer Zeit entgegenzuwirken. Oder ich denke an wahren geistigen Sturm, der die stehengebliebene, etwas modrig riechende Luft im fensterlosen Gehäuse hinausbliese. Wenn ich der Zeit, in der Sie leben und in der ich lebe, mit diesen Worten Unrecht tue, zürnen Sie mir deshalb als einem fehlbaren Menschen nicht. Habe ich unrecht: was könnte mir Besseres passieren? Ich möchte hoffen, ich möchte glauben, ich möchte heiß und innig wünschen, im Unrecht zu sein. Und ich überzeuge mich fast, wenn ich Sie ansehe.

Kommilitonen! Junge akademische Mitbürger! Deutsche Mitbürger! Brüder und Schwestern! Wenn Sie sich und andere reformieren wollen, glauben Sie mir, beginnen Sie es am besten im eigenen Geist; Geist, nicht im Sinne von Oberflächengeist, sondern suchen Sie ihn in der eigenen Tiefe! Dort nur finden Sie das lautere Quellwasser wahrer geistiger Menschlichkeit und wahrer menschlicher Geistigkeit. Ich habe gelebt und gewirket, sagt jemand zu Luthers Zeit ... ich habe gelebt und gewirket in der tröstlichen Meinung, auf die einst Graf Eberhard von Württemberg die Hohe Schule zu Tübingen gegründet hat: graben zu helfen den Brunnen des Lebens, daraus von allen Enden der Welt unversieglich möge geschöpft werden tröstliche und heilsame Weisheit zur Erlöschung des verderblichen Feuers menschlicher Unvernunft und Blindheit.

Graben Sie, graben Sie, meine jungen Freunde, bis Sie auf diesen Brunnen des Lebens stoßen! Graben Sie, graben Sie in sich selbst, und lassen Sie niemals nach in diesem Geschäft, auch wenn Sie den Brunnen gefunden haben, da der Sand des Alltags ihn zu verschütten immer wieder am Werke ist! Geistiger Adel, dem Sie sich zuzählen und dessen Ritterschlag Sie von der Universität erwarten, besteht in der Kraft zu eigenster Verantwortlichkeit. Er bedeutet Vergeistigung des Führerinstinkts, nicht des Herdeninstinkts, und sei man auch nur sein eigener Führer.

Kommilitonen! Mit diesen wenigen aus der Tiefe meines Herzens kommenden Worten sage ich Ihnen Lebewohl. Gehen Sie mutig und froh Ihren Lebensweg. Hunderttausend Meilen, hat jemand gesagt, beginnen unter deinem Fuß. Und denken Sie meiner mitunter als eines dem Ganzen des Lebens gegenüber zwar unzulänglichen, aber jedenfalls innigst wohlwollenden Ratgebers!


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