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Der Geist der Kultur

Rede, gehalten in der Paulskirche zu Frankfurt am Main am 28. August 1932.

Was ist der Kulturbesitz eines Volkes? Seine Geistigkeit! Nur seine Geistigkeit? Ja, nur seine Geistigkeit! Aber seine Geistigkeit insgesamt. Damit ist gemeint eine Geistigkeit, die sich in Architektur, bildender Kunst und Musik sowie in Wissenschaft und Technik äußert, in reiner Dichtung, reinem Denken und Religion. Es ist ein anderer Geist, den man heiliggesprochen hat, aber der Geist der Kultur bleibt ein Geistesverwandter. Darum hält man ihn hoch – man sollte ihn deshalb noch höher halten!

Geist ist immer zugleich geistiger Überfluß. Also ist auch jede wahre Kultur geistiger Überfluß; ohne geistigen Reichtum weder Kultur noch Geist. Ich stehe nicht an zu sagen, daß die Kirche des Mittelalters, aus der auch wir Protestanten hervorgegangen sind, geistige Fülle, geistiger Reichtum, geistiger Überfluß gewesen ist. Nichts freilich ist in der Welt ohne Mißbräuche: so gibt es denn auch solche im Geist.

Als das schnell errichtete Reich Alexanders des Großen zerfiel – denn der Götterjüngling war tot, der es zusammenhielt –, da war es der Reichtum, der Überfluß des griechischen Geistes, also der griechischen Kultur, der, indem er die Trümmer überströmte, sie zu einer neuen Einheit verband. Griechenland gab sein geistiges Blut: es selber krankte dahin, dieses Griechenland, aber es gab einer Welt das Leben.

Auf dem Römerberg hat der Knabe Wolfgang Goethe gespielt, ein Frankfurter Kind. Nie mehr, solange ein deutsches Wort von einer deutschen Lippe springt, wird man diesen Wolfgang vergessen. Sollte aber das deutsche Volk im Laufe der Jahrhunderte, wie einst das griechische, verschwunden sein, so wird immer noch dieser Wolfgang die Erinnerung an unser Volk wachhalten. Noch lange wird dann die Menschheit zehren von unserem geistigen Reichtum, unserer Kultur, kurz: von unserem geistigen Überfluß.

Huldigt man einem großen Geist, so ist zugleich alles Große seines Schlages gegenwärtig. Wer, der an Goethe denkt, denkt nicht zugleich an Homer, Dante, Shakespeare, Herder, Kant, Spinoza, Diderot, an griechische Tempel und gotische Dome, an Ossian und das Bibelbuch, an Galilei, Newton und Kepler und so fort. Das bedeutet den Überfluß und den Zusammenfluß aller Kultur von Süd und Nord, von West und Ost. Hat doch Wolfgang Goethe gesagt:

Wer sich selbst und andre kennt,
wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
sind nicht mehr zu trennen.

Sagt man, wir stünden an einer Weltwende, so antworte ich: In dieser Beziehung nicht! Nationalkulturen sind vielleicht national getrennt; kulturell, also durch den Reichtum und Überfluß im Geist, aber immer verbunden. Und darin liegt auch der Sinn des Festes, das wir in dieser Stunde feiern: bodenständig, von dieser herrlichen Scholle ausgehend, verbreiten wir uns mit dem grenzenlosen Geiste Goethes über die Ökumene, die ganze Menschenwelt, und empfinden, erhaben über alle Kleinlichkeit und Erbärmlichkeit: es ist ein Himmel, der sich über die Erde spannt, es ist eine Erde, die wir bewohnen, ein Herz, das in allen Menschen schlägt, und über uns allen ein Gott im Himmel. So hat Johann Sebastian Bach gefühlt, ebenso Gluck, Mozart und Beethoven. Allgemeines Menschenschicksal ist es, was in ihren Werken mystisch erhabenen Ausdruck gewinnt.

Kultur, Geist, geistiger Überfluß, geistiges Schenken an alle, Menschlichkeit, Humanität, verstehende Liebe, liebendes Verstehen überall ist es, was wir zu dieser Stunde, im Zeichen Wolf gang Goethes, feiern; nicht zu vergessen: im Zeichen des Friedens.

Man glaube aber nicht, daß Weichlichkeit aus solchen Gedanken spricht. Matt soll nicht meinen, Gott habe dem strahlenden Cherub des Friedens ein Feiglingsherz in die Brust gesenkt. Auch dieser Engel hat Waffen und Macht. Er ist es gewesen, unter dessen Schutz der höhere Mensch sich entwickelt hat, unter dessen goldenem Schild die Welt der Künste, Städte, Kathedralen, Tempel, Bildsäulen, heilige Schriften der Weltweisheit und der Religion sowie der Dichtkunst entstanden sind. Dabei ist er zugleich ein einfacher Flurwächter, der bei Weizen-, Gersten- und Roggenfeldern Wache steht, damit der Mensch sein tägliches Brot esse. Wenn man nach ihm mit dem heute diffamierten Wort Pazifist wie mit einem Steine würfe, so würde dieser Stein entkräftet zu Boden sinken, tausend Meilen entfernt von der Glorie seiner unnahbaren Gegenwart.

Im Zeichen Goethes sage ich das und gratuliere der alten, herrlichen Stadt Frankfurt dazu, daß sich nicht dreißig Städte um die Ehre, Goethes Geburtsort zu sein, streiten können, sondern daß sie allein die Ehre hat!


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