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Sursum corda!

Rede, gehalten im Rundfunk am 25.Juni 1931.

Deutschland, das sind Berge, Wälder, Täler, Ströme, Zuflüsse und Quellen, das sind Städte und Dörfer, es sind Burgen, unzählige Burgen auf unzähligen Bergspitzen, die meisten zerfallen, einige erhalten bis heut. Es sind Wiesen, Bäche, Seen und Weiher, es sind Alpengipfel, weiß von ewigem Schnee.

Das ist Deutschland. Aber es ist nicht Deutschland durch sich selbst, sondern durch den deutschen Menschen, der es bewohnt, und den deutschen Geist. Sofern ihr, meine unsichtbaren Hörer, dieses glänzende, in Saaten wogende Bild vor euren Seelen festhaltet, festhaltet, wie es in diesen Tagen ist, wo es grünt, so weit das Auge reicht, grünt und grünt, so werden sich eure Herzen erwärmt und erhoben fühlen, zum mindesten in diesem einen Augenblick.

Was du mit deinen leiblichen Augen sowie mit den Augen deiner Seele siehst, ist kein armes Land. Es wird dir um so reicher entgegenblühen, je reicher dein Geist sich an ihm entfaltet. Dieser Reichtum freilich ist mit dem gemeinen Wohlstand, Geld, Gut oder einem bequemen, üppigen Dasein nicht gleichbedeutend. Denn wurde auch keinem Lande, das wir kennen, das Leben immer leicht gemacht, so ist es sicherlich keinem schwerer als dem deutschen gemacht worden. Und diese Wahrheit muß jeder voraussetzen, der zum Reichtum des deutschen Landes, des deutschen Volkes und des deutschen Wesens durchdringen will: denn gerade darin liegt er beschlossen. Er liegt beschlossen in seinem jahrtausendealten Leidensringen, seiner jahrtausendelangen schöpferischen Not, als die Kraft, der Mut und die Ausdauer, womit es sein Geschick handelnd und duldend bis heut getragen hat.

Tacitus nannte das schöne Land, wie es uns heute unter den Augen grünt, einen ungeheuren, wilden und wüsten Himmelsstrich, so kulturlos, trübe und unheimlich, daß wohl niemand Afrika und Asien freiwillig verlassen würde, um dahin zu pilgern, von nichts als finsterem Urwald und Sümpfen bedeckt, vom Regen gepeitscht, von Stürmen durchheult, unter Eis und Schnee im Winter begraben. Er schildert, in diesen unbewohnbaren Wüsteneien versteckt, unzählige vereinzelte deutsche Stämme, die vor noch nicht zweitausend Jahren wie die heute ausgestorbenen Feuerländer nackt leben und selbst bei dreißig Grad unter Null nur ein Mäntelchen auf der Schulter tragen. Es werden dann die zahllosen Stämme dieser verstreuten Buschmänner aufgezeigt, und es stellt sich heraus, daß ihre äußere sogenannte Unkultur mit einer tiefen Innenkultur verbunden ist, die sie menschlich vollwertig macht und fähig zum schwersten Kampf des Lebens. Durchweg im Hause nackt und bloß wächst die Jugend heran, ohne Standesunterschied, bis das Alter den inneren Adel des einen und anderen hervorhebt. Von Menschen, die zum Teil keine häuserähnlichen Unterkünfte, sondern nur aus Zweigen gebildete Unterschlupfe haben, wird gesagt, furchtbarer als des größten Tyrannen Herrschertum sei ihr Freiheitssinn. Und der Römer stellt fest, daß zu seiner Zeit römischer Eroberungsgeist sich bereits zweihundertzehn Jahre an diesem Gebiet vergeblich abgemartert hatte. Nun, meine lieben unsichtbaren Hörer, da haben wir Kraft, Mut, zähe, nie zu beugende Tüchtigkeit, die, wie sie lange vor Tacitus vorhanden war, noch heute Erbteil des Deutschen ist.

Ich muß von einer Warte herabsehen und herabsprechen, wenn meine Stimme zu den Millionen meiner unsichtbaren Hörer dringen und ihnen in wenigen kurzen Minuten etwas, das sie alle angeht, bringen soll. Ich muß das Beste davon voraussetzen. Ich muß voraussetzen, daß sie mit dem Lande, in dem sie wohnen, mit dem Volke, das sie sind, nicht nur schicksalhaft verwachsen, sondern grundhaft verbunden sind. Ich muß die deutsche Sprache voraussetzen, muß voraussetzen, daß sie wissen, welches unersetzliche, heilige Gut eine Sprache bedeutet, daß sie gleichbedeutend ist mit der Volksseele, daß sie das geistige Leben selber, daß in ihr die wahre, echte, letzte deutsche Einheit beschlossen ist, kurz gesagt: ich muß bewußte Deutsche voraussetzen.

Wenn ich von meiner Warte umherblicke, so sehe ich in dem heutigen sommerlich grün erstrahlenden Vaterlande die geistige Atmosphäre von Wolken beschwert. Es besteht ein Druck, unter dem wir atmen. Wie Dämonen in Drachengestalt kriechen Parteigespenster in den schweren und schwülen Dünsten herum, als ob sie einander verschlingen wollten. Wäre das aber ihre Absicht, so würden sie es gewiß nicht tun, wüßten sie, daß es möglich wäre. Aber auf dem düstersten Wolkenballen sind die bekannten furchtbaren Vier drohend aufgestellt:

Ich heiße der Mangel.
Ich heiße die Schuld.
Ich heiße die Sorge.
Ich heiße die Not ...

und diese halten ein schlimmes Konzil im Gange, das mit wütenden Anklagen, Richtersprüchen, Henkersschwertern und Galgen in sich selber entfesselt ist. Wo wäre der Mensch, der dieses Rasen beschwören könnte?! Einst habe ich einen Narren geschildert, der es versuchte: er erstieg im Sprunge einen Kirchturm und hielt seine Predigt von dort auf den kämpfenden Marktplatz hinab. Weshalb sollte ich Ihnen die Stelle aus dem Gedicht »Till Eulenspiegel« nicht vorlesen?

Und Till schrie in die Leere hinaus: »Stehe auf! Ich, der Heiland,
sage dir: Stehe auf! Armer Lazarus, werde lebendig!«
Wahnsinn schien ihn zu packen, den Narren! So rief er, so schrie er:
»Simson, hebe dich auf und zerreiße die Ketten des Alpdrucks!
Tanze, Simson! du hast nicht ein Gran deiner Kräfte verloren!
Tanze, Simson, und schüttle dein Haar! es wird wachsen im Tanze!
Deine Wunden, sie heilet die Zeit dir! nur reiße nicht neue,
rasend wider dich selber, dir auf mit dem eigenen Schwerte!
Fürchte, fürchte dein Schwert! Denn nicht ist dir bestimmt, durch ein fremdes
je zu fallen! Der Feind hat von je sich in deines verkrochen!
Und so fürchte dein eigenes Schwert und dich selber, mein Deutschland!«
Lauter wurde die Predigt des Narren: »Quiriten! Quiriten!
Kauft die Wahrheit für wenige Groschen, Quiriten! Quiriten!
Kauft die Rettung für wenige Groschen! Vertragt euch! vertragt euch!«

Und dann heißt es am Ende:

Piff paff puff! war die Antwort des Markts. Da und dort kam ein Brand auf,
Qualm umwölkte den Turm und erstickte dem Narren die Stimme.

Das ist schlimm, und trotzdem bleibt es Menschenpflicht und Menschenlos, dergleichen immer von neuem zu versuchen.

Darum, trotz alledem und alledem: Sursum corda – die Herzen empor! sei mein Wort. Es ist nur ein Wort, aber Worte sind Geist, und wir haben nichts anderes, um auf den Geist zu wirken. Und ich will nur auf Ihren Geist wirken und womöglich den drückenden Nebel ein wenig lüften helfen, der unser aller Geister lange trübte. Sursum corda – die Herzen empor! Was wir erleben, ist nicht neu. Frühere deutsche Geschlechter haben sich mit anderen ähnlichen Worten aufgerichtet, und daß sie es notwendig hatten, weil sie kämpften wie wir, weil sie mit ähnlichen Kleinmutsanwandlungen zu ringen hatten, dafür zeugen die unzähligen Wahlsprüche, wie sie uns Wappenschilder von Rittern und Zünften aufbewahren. »Arbeiten und nicht verzweifeln!« lautete solch ein Wort, und »Ein feste Burg ist unser Gott ...« hieß es in den Zeiten der deutschen Reformation.

Es gibt Leute genug, die dem deutschen Volke täglich vorhalten, wie schlimm seine Lage sei. Aber man macht eine schlimme Lage dadurch nicht besser, daß man. den Betroffenen, statt ihn zu ermutigen, entmutigt. Übrigens hat es Zeiten in Deutschland gegeben, die ärger als unsere gewesen sind, und wir haben sie überstanden. Vom Grauen des dreißigjährigen sogenannten Religionskrieges rede ich nicht. Aber selbst die Zeiten um achtzehnhundert herum bis tief in das neunzehnte Jahrhundert waren weit peinlicher. Und doch hat sich nicht nur Goethe, sondern haben sich die größten Geister auf allen Gebieten in ihnen entwickeln können.

Ich will das quälend Verworrene unserer europäischen Zustände keineswegs hinwegdisputieren, ebensowenig den duldenden Mut, zu dem wir verurteilt sind. Aber ich möchte, daß wir das übriggebliebene Gute sozusagen mit allen Poren unseres Wesens um unserer Erhaltung willen aufsaugen und keinen Trostgrund ungenützt lassen. Einen solchen fand ich bei John Stuart Mill. Was hat die europäische Völkerfamilie, so fragt er, zu einem fortschreitenden und nicht stillstehenden Teil der Menschheit gemacht? Nicht einer ihrer besonderen Vorzüge, gibt er zur Antwort, sondern ihre merkwürdige Mannigfaltigkeit an Individuen, Klassen, Völkern, kurz Charakteren. Und obgleich sie jederzeit gegeneinander unduldsam waren und alle gedacht haben mögen, es wäre vortrefflich, wenn die anderen ganz zum Schweigen gebracht werden könnten, so war es ein Wunsch, der nie erfüllt worden ist, und schließlich kam immer wieder die Zeit, wo das Ganze durch das innere Ringen sich auf eine wunderbare Weise gefördert erwies.

Wir leben – auch das ist nicht fortzuleugnen – in einer allenthalben sorgenbelasteten Welt, die über die deutschen Grenzen mit dunklen Gewölken hereinflutet. Diese Welt ist vielleicht geistig krank, sie kann von dem Thema, der Last, den Schreckensträumen, dem Alpdruck des großen Krieges nicht loskommen, der zugleich Ursache dieser Erkrankung ist. In unzähligen deprimierten und deprimierenden Büchern wird dieser Zustand zum Ausdruck gebracht und sein graues Elend dadurch verschlimmert. Aber auch hier ist zu sagen: Sursum corda – die Herzen empor! Was sollte es uns nützen, wenn wir in die entsetzliche Niedergeschlagenheit verfielen, die nach dem Dreißigjährigen Kriege herrschend geworden ist und in den Gesangbüchern aus jener Zeit einen oft dichterisch hohen, aber verzweifelten Ausdruck findet mit dem Bestreben völliger Selbsterniedrigung und dem Leitwort: Ach Gott, sehr schrecklich ist dein Grimm! Ganz gewiß gibt es heute niemand, Gott sei Dank, der einen Vers wie diesen des edlen Paul Gerhardt noch nachfühlen könnte:

Ach, wie ofte dacht' ich doch,
da mir noch des Trübsals Joch
auf dem Haupt und Halse saß
und das Leid mein Herze fraß:
Nun ist keine Hoffnung mehr,
auch kein Ruhen, bis ich kehr'
in das schwarze Totenmeer.

Und wenn wir eine gesunde, recht naheliegende Erfrischung brauchen, so ist es geraten, einen Blick auf die allzeit Unerschrockenen unserer Epoche zu tun. Wir haben in ihnen die besten Beispiele. Ein Lindbergh, ein Wilkins, ein Piccard, ein Eckener und die ganze große Ehrenlegion kühner und todverachtender Geister lehren auf ihre Weise durch schweigende Tat Sursum corda, das begeisternde Wort. Zu diesen ungebrochenen und starken Naturen laßt uns aufblicken, wenn die unsere träge, müde und weltverdrossen ist: sie sind geeignet, uns aufzurichten und zu beschämen! Jeder Pilot in seinem Flugzeug hat in diesem Betracht die gleiche Kraft. Und ich grüße die deutschen Reiter, die jüngst zu Rom in heiter-kräftigem Wettbewerb, im friedlichen Krieg der Tüchtigkeit mit Ehren bestanden haben.

Nein, wir lehnen es ab, uns den allgemeinen Depressionen wehrlos auszuliefern. Wir lehnen es ab, das zu sein, was Goethe einen Philister nennt und mit den Worten charakterisiert:

Was ist ein Philister?
Ein hohler Darm,
mit Furcht und Hoffnung ausgefüllt.
Daß Gott erbarm'!

Es gibt ein Leiden, dem niemand entgeht, der geboren ist. Ich habe einen Vater gekannt, der in dem Augenblick, da er seinen neugeborenen Sohn als kleines bläuliches Würmchen quäken hörte, von einem schmerzlichen Mitleid bis zu Tränen erschüttert wurde, in dem Gedanken, welcher lange Kampf und Leidensweg im besten Falle ihm beschieden sei. Wir kennen es alle, das Menschenlos, und das Unabwendbare seines Verlaufs. Aber gerade diese große Grundtragik sollte uns besonderen Abweichungen gegenüber, die, im Verhältnis gesehen, geringe sind, stark machen. Und wir lassen uns von dem Gedanken nicht abbringen, daß ein erhabener, hoher und höchster Sinn im Menschendasein verborgen ist. Die größten Menschen, die gelebt haben, blieben diesem Gedanken treu. Er wirkt in Dantes düster großem Gedicht, wirkt in den Plastiken und Sonetten eines Michelangelo, wirkt in Beethoven und besonders in dem tongewaltigen Ringen seiner Neunten Sinfonie. Plötzlich erklingt da seine eigene Stimme: Freunde, nicht diese Töne, lasset uns andere, heitere anstimmen! Und dann hebt er, wie einen »tanzenden Stern«, aus den herrlich ringenden Düsternissen seiner Tonfluten den schönen Götterfunken Freude empor. Und wer ihn kennt, ihn allein, diesen Beethoven, diesen Deutschen, der kennt die höchste Gottesoffenbarung in Tönen, die der Welt je geworden ist. Er wird sich schon deshalb glücklich preisen, bis an sein Ende glücklich preisen, ein Mitglied der gleichen Familie, ein Kind deutschen Geistes zu sein.

Sursum corda! Die Herzen empor!


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