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Kunst und Jugend

Rede, gehalten beim Bankett am 15. November 1912 zu Berlin.

Sie sind gekommen, um mit mir meinen fünfzigsten Geburtstag zu feiern. Ich danke Ihnen dafür und danke für die Begrüßung, die mir soeben zuteil geworden ist. Ich freue mich von Herzen aller der guten Gesinnungen, die Sie mir entgegenbringen, ohne mir die dankbare Empfindung meiner Seele durch die Frage trüben zu lassen, inwieweit ich dies alles verdient habe. Die meisten unter uns sind ebenso reich an Verdiensten wie ich; denn sie haben, so wie ich, getan, was sie zu tun schuldig gewesen sind.

Aber solche Ereignisse haben über das Persönliche hinaus etwas Bedeutsames. Indem Sie sich hier versammeln, haben Sie eine Bilanz aufgestellt und wollen zum Ausdruck bringen, daß unser aller Wirken innerhalb der letzten fünfundzwanzig Jahre nicht nutzlos gewesen ist. Und Sie wollen ferner durch diese Manifestation auf den Wert künstlerischen Fortschritts auch für die Nation hinweisen. Eine solche Manifestation ist von Wichtigkeit.

Als ich vor fünfundzwanzig Jahren das erste jungdeutsche Drama auf die Bühne stellte, ahnten wir nicht, welch eine Entwicklung vor uns lag. Wir dürfen nicht sauertöpfisch sein und uns blind gegen alles das machen, was seither auf den Fluren deutscher Sprache und Dichtung entstanden ist. Damals schmolz eine Kruste von Eis, unter der die deutsche Dichtung begraben lag. Ich sage das, trotz der einzelnen großen Namen von reinstem Klang, deren Träger damals noch unter den Lebenden waren. Die Jugend fehlte; die Jugend kam und hat seitdem nicht aufgehört, immer wieder ihr Wort zu sprechen. Und da ohne sie nichts von einem schönen bleibenden Werte entsteht, ist das geblieben und nicht abhanden gekommen, was die Stunde von damals gebar und wodurch sie sich auszeichnete: nämlich jene Kraft, jener Ernst und jener Mut und jene Wahrhaftigkeit, ohne die eine wahrhaftige Kunst nicht zu denken ist.

Ich erinnere mich daran, als ich eines denkwürdigen Tages mit dem alten Henrik Ibsen wie mit einem wandelnden Turm die Friedrichstraße herunterging. Er hatte mein erstes Stück gelesen und sagte mir – ja, was sagte er mir? – nichts, als daß es tapfer und mutig sei. Ja, meine Damen und Herren, tapfer und mutig. Es liegt eine unerhörte Schönheit im geistigen Mut und in geistiger Tapferkeit. Wir hatten sie! Und wir hatten sie notwendig.

Sollte ich nun darauf eingehen, Ihnen zu sagen, wieso man sie hier in Deutschland ganz besonders notwendig hat? und welche Gegner sie notwendig machen? Damit finge ich ein Kapitel an, das sich zu Buch und Büchern auswachsen müßte: also lasse ich meine Hand davon. Die großen Emanationen der Kunst zerstören immer und überall das Gewohnheitsmäßige, und wir wissen alle, welchen Grad von Unantastbarkeit man vielfach jener Schimmelschicht der Gewohnheit zubilligt, die alles sanft-selig, ich möchte sagen, wie ein molliges Leichentuch überzieht.

Also Ernst und Mut, die uns niemals verlorengehen dürfen, sind uns bis heut nicht verlorengegangen. Daß ich einer solchen Überzeugung in diesem Augenblick Ausdruck geben darf, ist vielleicht meine stärkste Festfreude. Denn Deutschland ist in der Kunst nicht Amerika, das in Kunstdingen nichts eigentlich zu verlieren hat. Deutschland hat sehr viel in der Kunst zu verlieren. Und wir wissen, daß Stillstand in Sachen der Kunst Rückschritt ist! Also müssen wir mutig vorwärtsgehen. Nur eine kühne, lebendige Kunst der Gegenwart besitzt die Kunst der Vergangenheit. Kein anderes Feuer als das Feuer lebendiger Kunst hat die Kraft, in die dunklen Tiefen vergangener Kunst hinabzuleuchten und ihre ewigen Schätze zu entschleiern.

Zu diesem Zweck genügt der Kult der Gelehrtenstuben bei weitem nicht. Ich bin weit davon entfernt, seinen Wert und seine Bedeutung anzutasten. Aber was wäre ein Homer, ein Shakespeare, ein Goethe, der nur in Gelehrtenstuben und nirgend anders lebendig ist oder etwa nur in den Häusern von Sonderlingen?! Die Dokumente des großen Leidens menschlicher Ingenien, in einem immateriellen und doch gestalteten Stoffe ausgedrückt, müssen ins breite Leben zurückwirken. So veredeln, so erfüllen, so verinnerlichen sie dieses Leben und befruchten es und geben ihm wahrhaft Religion.

Zweifellos errege ich mit diesem letzten Satz in weiten Kreisen gewaltigen Widerspruch. Ich weiß sehr wohl, daß etwa ein evangelisch-lutherisches Theater nicht möglich ist und daß ich mit meiner Ansicht als Vertreter des Satans gelte. Aber das ist eine Köhlermeinung, die eine Sache ältesten Vorurteils und mangelnder Einsicht ist. Man nehme ein Senkblei und lasse es in die Werke Calderons oder Shakespeares hinab, und man wird vergeblich irdischen Grund suchen. Unter der Oberschicht von Gestalten und Bildern ruhen die Schauer der Ewigkeit, der Unendlichkeit. Der Dichter, wahrhaft durchdrungen vom Göttlichen, vom Hauch einer tiefen Erkenntnis berührt, ist zum Werkzeug göttlicher Bildkraft geworden und erfüllt eine köstliche, lebendige Mission, die ihn zum dogmenfreien Priester macht.

Meine Damen und Herren, meine lieben Freunde: Es lebe die dogmenfreie, die große Kunst, der wir alle nach Kräften dienen, es lebe der Geist, der zugleich das Heute, das Gestern und das Morgen lebendig macht, und es lebe die Jugend, die wach bleiben muß, um selber immer wieder die Welt, die oft müde Welt, aufzuwecken, und der das volle, ganze Erbe der Kunst immer wieder überantwortet ist!


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