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Liebes Lenchen

Liebes Lenchen, schönes Kind,
oh, wie war dein Auge lind
und so tief wie Meeresflut!
Oh, wie saß dein Schäferhut,
goldgefleckt, mit bunten Bändern,
über deiner Lockenflut!
Leicht in seidenen Gewändern
schrittest du den Sommer hin.
Eine märchenhafte Blume
aus des Paradieses Krume:
ging es oft mir durch den Sinn.
Ihr, Helenen, aller Frauen
schönster, schienst du mir verwandt.

Ich verlor mich selbst im Schauen,
wenn sie bei der Schwester stand.
Durfte denn sie mit der Hohen,
Stolzen wie mit ihresgleichen
sprechen, ohne des zum Zeichen
zu erbeben, zu erbleichen?
Stunden, Tage, Wochen flohen,
immer lag sie mir im Sinne,
stets von neuem im Erblicken
ward ich ihrer Hoheit inne.
»Wem wird dieses Wunder werden?«
fragt' ich einst die kluge Schwester,
»lebt ein solcher Mann auf Erden?«
Und sie sagte: »Guter, Bester,
wenn er lebt und sie erringt,
möge keiner ihn beneiden.
Eine Glocke, die nicht klingt,
ob der Glöckner' sie auch schwingt,
nenn' ich sie, ein Ding aus Erz,
taub, so wie ein geizig Herz.«
Lachend aber sprach sie dann:
»Was fängt ein gesunder Zahn
wohl mit tauben Nüssen an?«

War es so? O bittres Los!
Konnte deiner Mutter Schoß
dich so überköstlich bilden,
und du bliebst doch seelenlos?
Strahlt dein Lächeln zwar den milden
Geist der Liebe in mich ein,
aber nur als leeren Schein?
Sollten Golems und Lemuren
deine wahren Eltern sein?
Oh, wie gerne mich erbarmen
möcht' ich, Kind, und dich erwarmen!
Über deinem Hause steht
eines Flammensternes Bild.
Eines Sternes Flamme wild
meiner Liebe Blut durchweht.
Sollte nicht das Wunder glücken,
dich zu schmelzen in den Feuern
ganzen Seins und zu erneuern?
uns zu Gottes Thron entzücken
und in unsrer Liebe Lodern
deine Seele nachzufodern?

Rapallo, 20. Februar 1938.


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