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§ . 207–227. Behandlung der sogenannten Geistes- oder Gemüths-Krankheiten.

§. 207.

Der Psora gehört fast alles an, was ich ehedem einseitige Krankheiten nannte, welche dieser Einseitigkeit wegen, wo vor dem einzelnen, großen, hervorragenden Symptome alle übrige Krankheits-Zeichen gleichsam verschwinden, schwieriger heilbar scheinen. Dieser Art sind die sogenannten Gemüths- und Geistes-Krankheiten. Sie machen jedoch keine von den übrigen scharf getrennte Classe von Krankheiten aus, indem auch in allen übrigen sogenannten Körperkrankheiten die Gemüths- und Geistes-Verfassung allemal geändert ist Wie oft trifft man nicht, z. B. in den schmerzhaftesten, mehrjährigen Krankheiten ein mildes, sanftes Gemüth an, so daß der Heilkünstler Achtung und Mitleid gegen den Kranken zu hegen sich gedrungen fühlt. Besiegt er aber die Krankheit und stellt den Kranken wieder her – wie nach homöopathischer Art nicht selten möglich ist – da erstaunt und erschrickt er nicht selten über die schauderhafte Veränderung des Gemüths. Da sieht er oft Undankbarkeit, Hartherzigkeit, ausgesuchte Bosheit und die die Menschheit entehrendsten und empörendsten Launen hervortreten, welche gerade dem Kranken in seinen ehemaligen gesunden Tagen eigen gewesen waren. Die in gesunden Zeiten Geduldigen findet man oft in Krankheiten störrisch, heftig, hastig, auch wohl unleidlich, eigensinnig und wiederum auch wohl ungeduldig oder verzweifelt, die ehedem Züchtigen und Schamhaften findet man nun geil und schamlos. Den hellen Kopf trifft man nicht selten stumpfsinnig, den gewöhnlich Schwachsinnigen hinwiederum gleichsam klüger, sinniger, und den von langsamer Besinnung zuweilen voll Geistesgegenwart und schnell entschlossen an, u. s. w., und in allen zu heilenden Krankheitsfällen der Gemüthszustand des Kranken als eins der vorzüglichsten mit in den Inbegriff der Symptome aufzunehmen ist, wenn man ein treues Bild von der Krankheit verzeichnen will, um sie hienach mit Erfolg homöopathisch heilen zu können.

§. 208.

Dieß geht so weit, daß bei homöopathischer Wahl eines Heilmittels der Gemüthszustand des Kranken oft am meisten den Ausschlag giebt, als Zeichen von bestimmter Eigenheit, was dem genau beobachtenden Arzte unter allen am wenigsten verborgen bleiben kann.

§. 209.

Auf dieses Haupt-Ingredienz aller Krankheiten, auf den veränderten Gemüths- und Geisteszustand hat auch der Schöpfer der Heilpotenzen vorzüglich Rücksicht genommen, indem es keinen kräftigen Arzneistoff auf der Welt giebt, welcher nicht den Gemüths- und Geisteszustand in dem ihn versuchenden gesunden Menschen sehr merkbar veränderte, und zwar jede Arznei anders.

§. 210.

Man wird daher nie naturgemäß, das ist, nie homöopathisch heilen, wenn man nicht bei jedem, selbst acuten, Krankheitsfalle zugleich mit auf das Symptom der Geistes- und Gemüths-Veränderungen siehet, und nicht zur Hülfe eine solche Krankheits-Potenz unter den Heilmitteln auswählt, welche nächst der Aehnlichkeit ihrer andern Symptome mit denen der Krankheit, auch einen ähnlichen Gemüths- oder Geistes-Zustand für sich zu erzeugen fähig ist So wird bei einem stillen, gleichförmig gelassenen Gemüthe, der Napell-Sturmhut selten oder nie eine, weder schnelle noch dauerhafte Heilung bewirken, eben so wenig, als die Krähenaugen bei einem milden, phlegmatischen, die Pulsatille bei einem frohen, heitern und hartnäckigen, oder die Ignazbohne bei einem unwandelbaren, weder zu Schreck, noch zu Aergerniß geneigten Gemüthszustande..

§. 211.

Was ich also über die Heilung der Geistes- und Gemüths-Krankheiten zu lehren habe, wird sich auf Weniges beschränken können, da sie auf dieselbe Art, als alle übrigen Krankheiten, das ist, durch ein Heilmittel, was eine dem Krankheitsfalle möglichst ähnliche Krankheits-Potenz in ihren, an Leib und Seele des gesunden Menschen zu Tage gelegten Symptomen darbietet, zu heilen ist, und gar nicht anders geheilt werden kann.

§. 212.

Die sogenannten Geistes- und Gemüths-Krankheiten sind fast alle nichts anderes, als Körper-Krankheiten, bei denen das jeder eigentümliche Symptom der Geistes- und Gemüths-Verstimmung sich unter Verminderung der Körper-Symptome (schneller oder langsamer) erhöhet – endlich bis zur auffallendsten Einseitigkeit, fast wie ein Local-Uebel.

§. 213.

Die Fälle sind nicht selten, wo eine den Tod drohende, sogenannte Körper-Krankheit – eine Lungenvereiterung, oder die Verderbniß irgend eines andern, edeln Eingeweides, oder eine andere hitzige (acute) Krankheit, z. B. im Kindbette u. s. w., durch schnelles Steigen des bisherigen Gemüths-Symptoms in einen Wahnsinn, in eine Art Melancholie, oder in eine Raserei ausartet und dadurch alle Todesgefahr der Körper-Symptome verschwinden macht; letztere bessern sich indeß fast bis zur Gesundheit, oder verringern sich vielmehr bis zu dem Grade, daß ihre dunkel fortwährende Gegenwart nur von dem beharrlich und fein beobachtenden Arzte noch erkannt werden kann. Sie arten auf diese Weise zur einseitigen Krankheit, gleichsam zu einer Local-Krankheit aus, in welcher das vordem nur gelinde Symptom der Gemüths-Verstimmung zum Haupt-Symptome sich vergrößert, welches dann größtentheils die übrigen (Körper-) Symptome vertritt, und ihre Heftigkeit palliativ beschwichtiget, so daß, mit einem Worte, die Uebel der gröbern Körper-Organe auf die fast geistigen, von keinem Zergliederungs-Messer je erreichten oder erreichbaren Geistes- und Gemüths-Organe gleichsam übergetragen und auf sie abgeleitet werden.

§. 214.

Mit Sorgfalt muß bei ihnen die Erforschung des ganzen Zeichen-Inbegriffs unternommen werden, in Absicht der Körper-Symptome sowohl, als auch, und zwar vorzüglich, in Absicht der genauen Auffassung der bestimmten Eigenheit (des Charakters) seines Hauptsymptoms, des besondern, jedesmal vorwaltenden Geistes- und Gemüths-Zustandes, um zur Auslöschung der Gesammtkrankheit eine homöopathische Arzneikrankheits-Potenz unter den nach ihren reinen Wirkungen gekannten Heilmitteln auszufinden, ein Heilmittel, welches in seinem Symptomen-Inhalte nicht nur die in diesem Krankheitsfalle gegenwärtigen Körperkrankheits-Symptome, sondern auch vorzüglich diesen Geistes- und Gemüths-Zustand in möglichster Aehnlichkeit darbietet.

§. 215.

Zu diesem Symptomen-Inbegriffe gehört zuerst die genaue Beschreibung der sämmtlichen Zufälle der vormaligen sogenannten Körper-Krankheit, ehe sie zur einseitigen Erhöhung des Geistes-Symptoms, zur Geistes- und Gemüths-Krankheit ausartete. Aus dem Berichte der Angehörigen wird dieses erhellen.

§. 216.

Die Vergleichung dieser ehemaligen Körperkrankheits-Symptome mit den davon jetzt noch übrigen, obgleich unscheinbarer gewordenen Spuren (welche auch jetzt noch sich zuweilen hervorthun, wenn ein lichter Zwischenraum und eine überhingehende Minderung der Geistes-Krankheit eintritt) wird zur Bestätigung der fortdauernden verdeckten Gegenwart derselben dienen.

§. 217.

Setzt man nun hinzu den genau von den Angehörigen und dem Arzte selbst beobachteten Geistes- und Gemüths-Zustand, so ist das vollständige Krankheitsbild zusammengesetzt, für welches dann eine, treffend ähnliche Symptome und vorzüglich die ähnliche Geistes-Zerrüttung zu erregen fähige Arznei unter den antipsorischen Mitteln zur homöopathischen Heilung des Uebels aufgesucht werden kann, wenn die Geistes-Krankheit schon seit einiger Zeit fortdauerte.

§. 218.

War jedoch aus dem gewöhnlichen, ruhigen Zustande auf einmal plötzlich zuerst ein Wahnsinn oder eine Raserei (auf Veranlassung von Schreck, Aergerniß, geistigem Getränke u. s. w.) als eine acute Krankheit ausgebrochen, so kann, ob sie gleich fast ohne Ausnahme aus innerer Psora, gleichsam als eine von ihr auflodernde Flamme, entsprang, sie doch in diesem ihrem acuten Antritte nicht sogleich mit antipsorischen, sondern sie muß mit den hier angedeuteten Arzneien aus der übrigen Classe geprüfter Arzneien (z. B. Aconit, Belladonne, Stechapfel, Bilsen, Quecksilber u. s. w.) in hoch potenzirten, feinen, homöopathischen Gaben erst behandelt werden, um sie so weit zu beseitigen, daß die Psora in ihren vorigen, latenten Zustand vor der Hand wieder zurückkehre, in welchem der Kranke genesen erscheint.

§. 219.

Doch darf ein solcher, aus einer acuten Geistes- oder Gemüths-Krankheit durch gedachte unantipsorische Arzneien Genesener nie als geheilt angesehen werden; im Gegentheile darf man keine Zeit verlieren, um ihn durch eine fortgesetzte, antipsorische Cur von dem chronischen Miasm der jetzt zwar wieder latenten, aber zu ihrem Wieder-Ausbruche von nun an ganz bereiten Psora gänzlich zu befreien, da dann kein ähnlicher Anfall dereinst wieder zu befürchten ist, wenn er der diätetisch geordneten Lebensart treu bleibt.

§. 220.

Wird aber die antipsorische Cur unterlassen, so ist bei noch geringerer Veranlassung, als bei der ersten Erscheinung des Wahnsinns, bald ein neuer und zwar anhaltenderer, größerer Anfall davon fast mit Sicherheit zu erwarten, während welchem sich die Psora vollends zu entwickeln pflegt und in eine entweder periodische oder anhaltende Geistes-Zerrüttung übergeht, welche dann schwieriger antipsorisch geheilt werden kann.

§. 221.

Ist die Geistes-Krankheit noch nicht völlig ausgebildet, und es wäre noch einiger Zweifel, ob sie wirklich aus Körper-Leiden entstanden sey, oder vielmehr von Erziehungsfehlern, schlimmer Angewöhnung, verderbter Moralität, Vernachlässigung des Geistes, Aberglauben oder Unwissenheit herrühre; da dient als Merkmal, daß durch verständigendes, gutmeinendes Zureden, durch Trostgründe oder durch ernsthafte Vorstellung und Vernunftgründe letztere nachgeben und sich bessern, wahre, auf Körper-Krankheit beruhende Gemüths- oder Geistes-Krankheit aber schnell dadurch verschlimmert, Melancholie noch niedergeschlagener, klagender, untröstlicher und zurückgezogener, so auch boshafter Wahnsinn dadurch noch mehr erbittert und thörichtes Gewäsch offenbar noch unsinniger wird Es scheint, als fühle hier der Geist die Wahrheit dieser vernünftigen Vorstellungen, und wirke auf den Körper, gleich als wolle er die verlorne Harmonie wieder herstellen, aber dieser wirke mittels seiner Krankheit zurück auf die Geistes- und Gemüths-Organe, und setze sie in desto größern Aufruhr durch erneuertes Uebertragen seiner Leiden auf sie..

§. 222.

Es giebt dagegen, wie gesagt, allerdings einige wenige Gemüths-Krankheiten, welche nicht bloß aus Körper-Krankheiten dahin ausgeartet sind, sondern auf umgekehrtem Wege, bei geringer Kränklichkeit, vom Gemüthe aus, Anfang und Fortgang nehmen durch anhaltenden Kummer, Kränkung, Aergerniß, Beleidigungen und große, häufige Veranlassung zu Furcht und Schreck. Diese Art von Gemüthskrankheiten verderben dann mit der Zeit auch den körperlichen Gesundheitszustand, oft in hohem Grade.

§. 223.

Bloß diese durch die Seele zuerst angesponnenen und unterhaltenen Gemüths-Krankheiten lassen sich, so lange sie noch neu sind und den Körper-Zustand noch nicht allzusehr zerrüttet haben, durch psychische Heilmittel, Zutraulichkeit, gütliches Zureden, Vernunftgründe, oft aber durch eine wohlverdeckte Täuschung, schnell in Wohlbefinden der Seele (und bei angemessener Lebensordnung, auch scheinbar in Wohlbefinden des Leibes) verwandeln.

§. 224.

Aber auch bei diesen liegt ein Psora-Miasm zum Grunde, was nur seiner völligen Entwickelung noch nicht ganz nahe war, und es ist der Sicherheit gemäß, damit der Genesene nicht wieder, wie nur gar zu leicht, in eine ähnliche Geistes-Krankheit verfalle, ihn einer gründlichen, antipsorischen Cur zu unterwerfen.

§. 225.

Bei den durch Körper-Krankheit entstandenen Geistes- und Gemüths-Krankheiten, welche einzig durch antipsorisch homöopathische Arznei, nächst sorgfältig angemessener Lebensordnung zu heilen sind, muß allerdings auch, als beihülfliche Seelen-Diät, ein passendes, psychisches Verhalten von Seiten der Angehörigen und des Arztes gegen den Kranken sorgfältig beobachtet werden. Dem wüthenden Wahnsinn muß man stille Unerschrockenheit und kaltblütigen, festen Willen, – dem peinlich klagenden Jammer, stummes Bedauern in Mienen und Gebehrden, – dem unsinnigen Geschwätze, nicht ganz unaufmerksames Stillschweigen, – einem ekelhaften und gräuelvollen Benehmen und ähnlichem Gerede, völlige Unaufmerksamkeit entgegensetzen. Den Verwüstungen und Beschädigungen der Außendinge beuge man bloß vor und verhüte sie, ohne dem Kranken Vorwürfe darüber zu machen, und richte alles so ein, daß durchaus alle körperlichen Züchtigungen und Peinigungen Man muß über die Hartherzigkeit und Unbesonnenheit der Aerzte in mehren Krankenanstalten dieser Art, nicht bloß in England, sondern auch in Deutschland, erstaunen, welche, ohne die wahre Heilart solcher Krankheiten auf dem einzig hülfreichen, homöopathisch arzneilichen (antipsorischen) Wege zu suchen, sich begnügen, diese bedauernswürdigsten aller Menschen durch die heftigsten Schläge und andre qualvolle Martern zu peinigen. Sie erniedrigen sich durch dieß gewissenlose und empörende Verfahren tief unter den Stand der Zuchtmeister in Strafanstalten, denn diese vollführen solche Züchtigungen nur nach Pflicht ihres Amtes und an Verbrechern, jene aber scheinen ihre Bosheit gegen die scheinbare Unheilbarkeit der Geistes- und Gemüths-Krankheiten durch Härte an den bedauernswürdigen, schuldlosen Leidenden selbst auszulassen, da sie zur Hülfe zu unwissend und zu träge zur Annahme eines zweckmäßigen Heilverfahrens sind. wegfallen. Dieß geht um desto leichter an, da beim Arznei-Einnehmen – dem einzigen Falle, wo noch Zwang als Entschuldigung gerechtfertigt werden könnte – in der homöopathischen Heilart die kleinen Gaben hilfreicher Arznei dem Geschmacke nie auffallen, also dem Kranken ganz unbewußt in seinem Getränke gegeben werden können, wo dann aller Zwang unnöthig wird.

§. 226.

Auf der andern Seite sind Widerspruch, eifrige Verständigungen, heftige Zurechtweisungen und Schmähungen, so wie schwache, furchtsame Nachgiebigkeit bei ihnen ganz am unrechten Orte, sind gleich schädliche Behandlungen ihres Geistes und Gemüths. Am meisten werden sie jedoch durch Hohn, Betrug und ihnen merkliche Täuschungen erbittert und in ihrer Krankheit verschlimmert. Immer muß Arzt und Aufseher den Schein annehmen, als ob man ihnen Vernunft zutraue.

Dagegen suche man alle Arten von Störungen ihrer Sinne und ihres Gemüths von außen zu entfernen; es giebt keine Unterhaltungen für ihren benebelten Geist, keine wohlthätigen Zerstreuungen, keine Belehrungen, keine Besänftigung durch Worte, Bücher oder andre Gegenstände für ihre in den Fesseln des kranken Körpers schmachtende, oder empörte Seele, keine Erquickung für sie, als die Heilung; erst von ihrem zum Bessern umgestimmten Körper-Befinden strahlet Ruhe und Wohlbehagen auf ihren Geist zurück.

§. 227.

Sind die für den besondern Fall der jedesmaligen Geistes- oder Gemüths-Krankheit (– sie sind unglaublich verschieden –) gewählten antipsorischen Heilmittel dem treulich entworfenen Bilde des Krankheits-Zustandes ganz homöopathisch angemessen, welches, wenn nur der nach ihren reinen Wirkungen gekannten Arzneien dieser Art genug zur Wahl vorhanden sind, auch desto leichter zu erreichen ist, da der Gemüths- und Geistes-Zustand eines solchen Kranken, als das Hauptsymptom, sich so unverkennbar deutlich an den Tag legt –, so sind oft die kleinstmöglichen Gaben hinreichend, in nicht gar langer Zeit die auffallendste Besserung hervorzubringen, was durch die größten, öftern Gaben aller übrigen, unpassenden (allopathischen) Arzneien, bis zum Tode gebraucht, nicht zu erreichen war. Ja, ich kann aus vieler Erfahrung behaupten, daß sich der erhabne Vorzug der homöopathischen Heilkunst vor allen denkbaren Curmethoden nirgend in einem triumphirendern Lichte zeigt, als in alten Gemüths- und Geistes-Krankheiten, welche ursprünglich aus Körper-Leiden, oder auch nur gleichzeitig mit ihnen, entstanden waren.


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