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§ 77–92. Vorschrift, wie der Arzt das Krankheitsbild zu erkundigen und aufzuzeichnen hat.

§. 77.

Der Kranke klagt den Vorgang seiner Beschwerden; die Angehörigen erzählen seine Klagen, sein Benehmen, und was sie an ihm wahrgenommen; der Arzt sieht, hört und bemerkt durch die übrigen Sinne, was verändert und ungewöhnlich an ihm ist. Er schreibt alles genau mit denselben Ausdrücken auf, deren der Kranke und die Angehörigen sich bedienen. Stillschweigend läßt er sie ausreden, wo möglich, wenn sie nicht auf Nebendinge abschweifen, ohne Unterbrechung Jede Unterbrechung stört die Gedankenreihe der Erzählenden, und es fällt ihnen hinterdrein nicht alles genau so wieder ein, wie sie's Anfangs sagen wollten.. Bloß langsam zu sprechen ermahne sie der Arzt gleich Anfangs, damit er den Sprechenden im Nachschreiben des Nöthigen folgen könne.

§. 78.

Mit jeder Angabe des Kranken oder der Angehörigen bricht er die Zeile ab, damit die Symptome alle einzeln unter einander zu stehen kommen. So kann er bei jedem nachtragen, was ihm anfänglich allzu unbestimmt, nachgehends aber deutlicher angegeben wird.

§. 79.

Sind die Erzählenden fertig mit dem, was sie von selbst sagen wollten, so trägt der Arzt bei jedem einzelnen Symptome die nähere Bestimmung nach, auf folgende Weise erkundigt: Er liest die einzelnen, ihm gesagten Symptome durch, und fragt bei jedem insbesondere: z. B. zu welcher Zeit ereignete sich dieser Zufall? In der Zeit vor dem bisherigen Arzneigebrauche? Während des Arzneieinnehmens? Oder erst einige Tage nach Beiseitesetzung der Arzneien? Was für ein Schmerz, welche Empfindung, genau beschrieben, war es, die sich an dieser Stelle ereignete? Welche genaue Stelle war es? Erfolgte der Schmerz abgesetzt und einzeln, in verschiednen Zeiten? Oder war er anhaltend, unausgesetzt? Wie lange? Zu welcher Zeit des Tages oder der Nacht, und in welcher Lage des Körpers war er am schlimmsten, oder setzte ganz aus? Wie war dieser, wie war jener angegebene Zufall oder Umstand – mit deutlichen Worten beschrieben – genau beschaffen?

§. 80.

Und so läßt sich der Arzt die nähere Bestimmung von jeder einzelnen Angabe noch dazu sagen, ohne jedoch jemals dem Kranken bei der Frage schon die Antwort mit in den Mund zu legen Der Arzt darf z. B. nicht fragen: »war nicht etwa auch dieser oder jener Umstand da?« Dergleichen zu einer falschen Antwort und Angabe verführende Suggestionen darf sich der Arzt nie zu Schulden kommen lassen., so daß der Kranke dann bloß mit Ja oder Nein darauf zu antworten hätte; sonst wird er verleitet, etwas Unwahres, Halbwahres oder anders Vorhandnes, aus Bequemlichkeit oder dem Fragenden zu Gefallen, zu bejahen oder zu verneinen, wodurch ein falsches Bild der Krankheit und eine unpassende Curart entstehen muß.

§. 81.

Ist nun bei diesen freiwilligen Angaben von mehren Theilen oder Functionen des Körpers oder von seiner Gemüths-Stimmung nichts erwähnt worden, so fragt der Arzt, was in Rücksicht dieser Theile und dieser Functionen, so wie wegen seines Geistes oder Gemüths-Zustandes Z. B. Wie ist es mit dem Stuhlgange? Wie geht der Urin ab? Wie ist es mit dem Schlafe, bei Tage, bei der Nacht? Wie ist sein Gemüth, seine Laune, seine Besinnungskraft beschaffen? Wie ist es mit dem Durste? Wie ist es mit dem Geschmacke so für sich im Munde? Welche Speisen und Getränke schmecken ihm am besten? Welche sind ihm am meisten zuwider? Hat jedes seinen natürlichen, vollen, oder einen andern, fremden Geschmack? Wie wird ihm nach Essen oder Trinken? Ist etwas wegen des Kopfs, der Glieder, oder des Unterleibes zu erinnern?, noch zu erinnern sey, aber in allgemeinen Ausdrücken, damit der Berichtgeber genöthigt sey, sich speciell darüber zu äußern.

§. 82.

Hat nun der Kranke (denn diesem ist in Absicht seiner Empfindungen, außer in Verstellungs-Krankheiten, der meiste Glaube beizumessen) auch durch diese freiwilligen und bloß veranlaßten Aeußerungen dem Arzte gehörige Auskunft gegeben und das Bild der Krankheit ziemlich vervollständigt, so ist es diesem erlaubt, und nöthig (wenn er fühlt, daß er noch nicht gehörig unterrichtet sey), nähere, speciellere Fragen zu thun Z. B. Wie oft hatte er Stuhlgang; von welcher genauen Beschaffenheit? War der weißlichte Stuhlgang Schleim oder Koth? Waren Schmerzen beim Abgange, oder nicht? Welche genaue, und wo? Was brach der Kranke aus? Ist der garstige Geschmack im Munde faul, oder bitter, oder sauer, oder wie sonst? vor oder nach dem Essen und Trinken oder während desselben? Zu welcher Tageszeit am meisten? Von welchem Geschmacke ist das Aufstoßen? Wird der Urin erst beim Stehen trübe, oder läßt er ihn gleich trübe? Von welcher Farbe ist er, wenn er ihn eben gelassen hat? Von welcher Farbe ist der Satz? – Wie gebehrdet und äußert er sich im Schlafe? wimmert, stöhnt, redet oder schreiet er im Schlafe? erschrickt er im Schlafe? schnarcht er beim Einathmen, oder beim Ausathmen? Liegt er einzig auf dem Rücken, oder auf welcher Seite? Deckt er sich selbst fest zu, oder leidet er das Zudecken nicht? Wacht er leicht auf, oder schläft er allzu fest? Wie befindet er sich gleich nach dem Erwachen aus dem Schlafe? Wie oft kommt diese, wie oft jene Beschwerde; auf welche jedesmalige Veranlassung kommt sie? im Sitzen, im Liegen, im Stehen oder bei der Bewegung? bloß nüchtern, oder doch früh, oder bloß Abends, oder bloß nach der Mahlzeit, oder wann sonst gewöhnlich? – Wann kam der Frost? war es bloß Frostempfindung, oder war er zugleich kalt? an welchen Theilen? oder war er bei der Frostempfindung sogar heiß anzufühlen? war es bloß Empfindung von Kälte, ohne Schauder? war er heiß, ohne Gesichtsröthe? an welchen Theilen war er heiß anzufühlen? oder klagte er über Hitze, ohne heiß zu seyn beim Anfühlen? wie lange dauerte der Frost, wie lange die Hitze? – Wann kam der Durst? beim Froste? bei der Hitze? oder vorher? oder nachher? wie stark war der Durst, und worauf? – Wann kommt der Schweiß? beim Anfange, oder zu Ende der Hitze? oder wie viel Stunden nach der Hitze? im Schlafe oder im Wachen? wie stark ist der Schweiß? heiß oder kalt? in welchen Theilen? von welchem Geruche? – Was klagt er an Beschwerden vor oder bei dem Froste? was bei der Hitze? was nach derselben? was bei oder nach dem Schweiße? u. s. w..

§. 83.

Ist der Arzt mit Niederschreibung dieser Aussagen fertig, so merkt er sich an, was er selbst an dem Kranken wahrnimmt Z. B. Wie sich der Kranke bei dem Besuche gebehrdet hat, ob er verdrießlich, zänkisch, hastig, weinerlich, ängstlich, verzweifelt, oder traurig, oder getrost, gelassen, u. s. w.; ob er schlaftrunken oder überhaupt unbesinnlich war? ob er heisch, sehr leise, oder ob er unpassend, oder wie anders er redete? wie die Farbe des Gesichts und der Augen, und die Farbe der Haut überhaupt, wie die Lebhaftigkeit und Kraft der Mienen und Augen, wie die Zunge, der Athem, der Geruch aus dem Munde, oder das Gehör beschaffen ist? wie sehr die Pupillen erweitert, oder verengert sind? wie schnell, wie weit sie sich im Dunkeln und Hellen verändern? wie der Puls? wie der Unterleib? wie feucht oder heiß, wie kalt oder trocken die Haut an diesen oder jenen Theilen oder überhaupt anzufühlen ist? ob er mit zurückgebogenem Kopfe, mit halb oder ganz offenem Munde, mit über den Kopf gelegten Armen, ob er auf dem Rücken, oder in welcher andern Stellung er liegt? mit welcher Anstrengung er sich aufrichtet, und was von dem Arzte sonst auffallend Bemerkbares an ihm wahrgenommen werden konnte. und erkundigt sich, was dem Kranken hievon in gesunden Tagen eigen gewesen.

§. 84.

Die Zufälle und das Befinden des Kranken während eines etwa vorgängigen Arzneigebrauchs geben nicht das reine Bild der Krankheit; diejenigen Symptome und Beschwerden hingegen, welche er vor dem Gebrauche der Arzneien oder nach ihrer mehrtägigen Zurücksetzung litt, geben den ächten Grundbegriff von der ursprünglichen Gestalt der Krankheit, und vorzüglich diese muß der Arzt sich aufzeichnen. Er kann auch wohl, wenn die Krankheit langwierig ist, den Kranken, wenn er bis jetzt noch Arznei genommen hatte, einige Tage ganz ohne Arznei lassen, oder ihm etwas Unarzneiliches indeß geben und bis dahin die genauere Prüfung der Krankheitszeichen verschieben, um die dauerhaften, unvermischten Symptome des alten Uebels in ihrer Reinheit aufzufassen und ein untrügliches Bild von der Krankheit entwerfen zu können.

§. 85.

Ist es aber eine schnell verlaufende Krankheit, und leidet ihr dringender Zustand keinen Verzug, so muß sich der Arzt mit dem, selbst von den Arzneien geänderten Krankheitszustande begnügen – wenn er die vor dem Arzneigebrauche bemerkten Symptome nicht erfahren kann, – um wenigstens die gegenwärtige Gestalt des Uebels, das heißt, um die mit der ursprünglichen Krankheit vereinigte Arzneikrankheit, welche durch die oft zweckwidrigen Mittel gewöhnlich beträchtlicher und gefährlicher, als die ursprüngliche ist, und daher oft dringend zweckmäßige Hülfe heischt, in ein Gesammtbild zusammenfassen und, damit der Kranke an der genommenen schädlichen Arznei nicht sterbe, mit einem passend homöopathischen Heilmittel besiegen zu können.

§. 86.

Ist die Krankheit durch ein auffallendes Ereigniß seit Kurzem, oder bei einem langwierigen Uebel vor längerer Zeit verursacht worden, so wird der Kranke – oder wenigstens die im Geheim befragten Angehörigen – sie schon angeben, entweder von selbst und aus eignem Triebe oder auf eine behutsame Erkundigung Den etwanigen entehrenden Veranlassungen, welche der Kranke oder die Angehörigen nicht gern, wenigstens nicht von freien Stücken gestehen, muß der Arzt durch klügliche Wendungen der Fragen oder durch andre Privat-Erkundigungen auf die Spur zu kommen suchen. Dahin gehören: Vergiftung oder begonnener Selbstmord, Onanie, Ausschweifungen gewöhnlicher oder unnatürlicher Wohllust, Schwelgen in Wein, Liqueuren, Punsch und andern hitzigen Getränken, oder Kaffee, – Schwelgen in Essen überhaupt oder in besonders schädlichen Speisen, – venerische oder Krätz-Ansteckung, unglückliche Liebe, Eifersucht, Hausunfrieden, Aergerniß, Gram über ein Familien-Unglück, erlittene Mißhandlung, verbissene Rache, gekränkter Stolz, Zerrüttung der Vermögensumstände, – abergläubige Furcht, – Hunger – oder ein Körpergebrechen an den Schamtheilen, ein Bruch, ein Vorfall u. s. w..

§. 87.

Bei Erkundigung des Zustandes chronischer Krankheiten müssen die besondern Verhältnisse des Kranken in Absicht seiner gewöhnlichen Beschäftigungen, seiner gewohnten Lebensordnung und Diät, seiner häuslichen Lage u. s. w. wohl erwogen und geprüft werden, was sich in ihnen Krankheit Erregendes oder Unterhaltendes befindet, um durch dessen Entfernung die Genesung befördern zu können Vorzüglich muß bei chronischen Krankheiten des weiblichen Geschlechts auf Schwangerschaft, Unfruchtbarkeit, Neigung zur Begattung, Niederkunften, Fehlgeburten, Kindersäugen und den Zustand des monatlichen Blutflusses Rücksicht genommen werden. Insbesondere ist in Betreff des letztern die Erkundigung nicht zu versäumen, ob er in zu kurzen Perioden wiederkehrt, oder über die gehörige Zeit außen bleibt, wie viele Tage er anhält, ununterbrochen oder abgesetzt? in welcher Menge überhaupt, wie dunkel von Farbe, ob mit Leucorrhöe (Weißfluß) vor dem Eintritte oder nach der Beendigung? vorzüglich aber mit welchen Beschwerden Leibes und der Seele, mit welchen Empfindungen und Schmerzen vor dem Eintritte, bei dem Blutflusse oder nachher? Ist Weißfluß bei ihr; wie er beschaffen ist? in welcher Menge? und unter welchen Bedingungen und auf welche Veranlassungen er erscheint?.

§. 88.

Die Erforschung der obgedachten und aller übrigen Krankheitszeichen muß deßhalb bei chronischen Krankheiten so sorgfältig und umständlich, als möglich, geschehen und in die kleinsten Einzelheiten gehen, theils weil sie bei diesen Krankheiten am sonderlichsten sind, denen in den schnell vorübergehenden Krankheiten am wenigsten gleichend, und bei der Heilung, wenn sie gelingen soll, nicht genau genug genommen werden können; theils weil die Kranken der langen Leiden so gewohnt werden, daß sie auf die kleinern, oft sehr bezeichnungsvollen (charakteristischen) – bei Aufsuchung des Heilmittels oft viel entscheidenden – Nebenzufälle wenig oder gar nicht mehr achten und sie fast für einen Theil ihres notwendigen Zustandes, fast für Gesundheit ansehen, deren wahres Gefühl sie bei der oft fünfzehn-, zwanzigjährigen Dauer ihrer Leiden ziemlich vergessen haben, es ihnen auch kaum einfällt, zu glauben, daß diese Nebensymptome, diese übrigen kleinern oder größern Abweichungen vom gesunden Zustande mit ihrem Hauptübel im Zusammenhange stehen könnten.

§. 89.

Zudem sind die Kranken selbst von so abweichender Gemüthsart, daß einige, vorzüglich die sogenannten Hypochondristen und andre sehr gefühlige und unleidliche Personen ihre Klagen in allzu grellem Lichte ausstellen und, um den Arzt zur Hülfe aufzureizen, die Beschwerden mit überspannten Ausdrücken bezeichnen Eine reine Erdichtung von Zufällen und Beschwerden wird man wohl nie bei Hypochondristen, selbst bei den unleidlichsten nicht, antreffen, – dieß zeigt die Vergleichung ihrer zu verschiednen Zeiten geklagten Beschwerden, während der Arzt ihnen nichts oder etwas ganz Unarzneiliches eingiebt, deutlich; – nur muß man von ihren Uebertreibungen etwas abziehen, wenigstens die Stärke ihrer Ausdrücke auf Rechnung ihres übermäßigen Gefühls setzen; in welcher Hinsicht selbst diese Hochstimmung ihrer Ausdrücke über ihre Leiden für sich schon zum bedeutenden Symptome in der Reihe der übrigen wird, woraus das Bild der Krankheit zusammengesetzt ist. Bei Wahnsinnigen und böslichen Krankheits-Erdichtern ist es ein andrer Fall..

§. 90.

Andre, entgegengesetzte Personen aber halten, theils aus Trägheit, theils aus mißverstandner Scham, theils aus einer Art milder Gesinnung eine Menge Beschwerden zurück, bezeichnen sie mit undeutlichen Ausdrücken, oder geben mehre als unbeschwerlich an.

§. 91.

So gewiß man nun auch vorzüglich den Kranken über seine Beschwerden und Empfindungen zu hören und vorzüglich seinen eignen Ausdrücken, mit denen er seine Leiden zu verstehen geben kann, Glauben beizumessen hat, – weil sie im Munde der Angehörigen und Krankenwärter verändert und verfälscht zu werden pflegen, – so gewiß erfordert doch auf der andern Seite bei allen Krankheiten, vorzüglich aber bei den langwierigen, die Erforschung des wahren, vollständigen Bildes derselben und seiner Einzelheiten besondre Umsicht, Bedenklichkeit, Menschenkenntniß, Behutsamkeit im Erkundigen und Geduld, in hohem Grade.

§. 92.

Im Ganzen wird dem Arzte die Erkundigung acuter, oder sonst seit Kurzem entstandner Krankheiten leichter, weil dem Kranken und den Angehörigen alle Zufälle und Abweichungen von der nur unlängst erst verlornen Gesundheit noch in frischem Gedächtnisse, noch neu und auffallend geblieben sind. Der Arzt muß zwar auch hier alles wissen; er braucht aber weit weniger zu erforschen; man sagt ihm alles größtenteils von selbst.


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