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§ 114–134. Verfahren dabei, wenn man sie an andern Personen versuchen läßt.

§. 114.

Bei Prüfung der Arzneien auf ihre Wirkungen im gesunden Körper muß man bedenken, daß die starken, sogenannten heroischen Substanzen schon in geringer Gabe Befindensveränderungen selbst bei starken Personen zu erregen pflegen. Die von milderer Kraft müssen zu diesen Versuchen in ansehnlicherer Gabe gereicht werden: die schwächsten aber können, damit man ihre Wirkung wahrnehme, bloß bei solchen von Krankheit freien Personen versucht werden, welche zärtlich, reizbar und empfindlich sind.

§. 115.

Es dürfen zu solchen Versuchen – denn von ihnen hängt die Gewißheit der ganzen Heilkunst und das Wohl aller folgenden Menschen-Generationen ab – es dürfen, sage ich, zu solchen Versuchen keine andern Arzneien, als solche genommen werden, die man genau kennt, und von deren Reinheit, Aechtheit und Vollkräftigkeit man gänzlich überzeugt ist.

§. 116.

Jede dieser Arzneien muß in ganz einfacher, ungekünstelter Form, die einheimischen Pflanzen als frisch ausgepreßter Saft, mit etwas Weingeist vermischt, sein Verderben zu verhüten, die ausländischen Gewächse aber als Pulver, oder mit Weingeist zur Tinctur ausgezogen, dann aber mit etlichen Theilen Wasser gemischt eingenommen werden, die Salze und Gummen aber gleich vor der Einnahme in Wasser aufgelöst. Ist die Pflanze nur in trockner Gestalt zu haben und ihrer Natur nach von Kräften schwach, so dient zu einem solchen Versuche der Aufguß, indem das zerkleinte Kraut mit kochendem Wasser übergossen und so ausgezogen worden ist; er muß gleich nach seiner Bereitung noch warm getrunken werden, denn alle ausgepreßte Pflanzensäfte und alle wässerigen Pflanzen-Aufgüsse gehen ohne geistigen Zusatz schnell in Gährung und Verderbniß über, und haben dann ihre Arzneikraft verloren.

§. 117.

Jeden Arzneistoff muß man zu dieser Absicht ganz allein, ganz rein anwenden, ohne irgend eine fremdartige Substanz zuzumischen, oder sonst etwas fremdartig Arzneiliches an demselben Tage zu sich zu nehmen, und eben so wenig die folgenden Tage, als so lange man die Wirkungen der Arznei beobachten will. Da die Tincturen zum Einnehmen mit vielem Wasser gemischt werden, so ist der wenige, so sehr verdünnte Weingeist darin nicht als ein fremder Reiz anzusehen.

§. 118.

Während dieser Versuchszeit muß auch die Diät recht mäßig eingerichtet werden; möglichst ohne Gewürze, von bloß nährender, einfacher Art, so daß die grünen Zugemüße Junge grüne Erbsen (Schoten), grüne Bohnen und allenfalls Möhren (Mohrrüben) sind zulässig, als die am wenigsten arzneilichen grünen Gemüße. und Wurzeln und alle Salate und Suppenkräuter (welche sämmtlich immer einige störende Arzneikraft auch bei aller Zubereitung behalten) vermieden werden. Die Getränke sollen die alltäglichen seyn, so wenig als möglich reizend.

§. 119.

Die Versuchsperson muß sich während des Versuchs vor Anstrengungen des Geistes und Körpers, vor allen Ausschweifungen und störenden Leidenschaften hüten; keine dringenden Geschäfte dürfen sie von der gehörigen Beobachtung abhalten; sie muß mit gutem Willen genaue Aufmerksamkeit auf sich selbst richten, und dabei ungestört seyn; in ihrer Art gesund an Körper, muß sie auch den nöthigen Verstand besitzen, um ihre Empfindungen in deutlichen Ausdrücken benennen und beschreiben tu können.

§. 120.

Die zur gehörigen Ausführung des Versuchs geschickte, bereitwillige, gesunde Person nimmt zu dieser Absicht früh nüchtern eine solche Gabe der zu prüfenden Arznei, als man in der gewöhnlichen Praxis in Recepten gegen Krankheiten zu brauchen pflegt, am besten in Auflösung, und mit etwa zehn Theilen nicht ganz kalten Wassers gemischt, ein.

§. 121.

Sollte diese Gabe binnen ein Paar Stunden In neuern Zeiten fand ich es zweckmäßiger, der Versuchs-Person nur jeden Morgen nüchtern, wenn die Gabe des vorigen Tages nicht schon viele Symptome erregt hatte, eine, wo nöthig, stärkere Gabe des zu prüfenden Arzneimittels einnehmen zu lassen und in den neuesten Zeiten nur kleine, aber hoch verdünnte und hoch potenzirte, weil deren Kräfte am vielfachsten entwickelt sind. keine, oder nur sehr geringe Befindensveränderung hervorbringen, so nimmt die Person (die Arznei muß sowohl an Mannspersonen, als an Weibspersonen versucht werden) eine größere, nach Befinden der Umstände zwiefache Gabe ein, am besten, mit ebenfalls zehn Theilen nicht kalten Wassers genau gemischt und zusammengeschüttelt.

§. 122.

Wenn die erstere Gabe Anfangs viel zu wirken scheint, nach einigen Stunden aber in ihrer Thätigkeit nachläßt, so muß die zweite stärkere Gabe erst den Morgen darauf, ebenfalls nüchtern, genommen werden, und wenn auch diese der Absicht noch nicht entspräche, so wird eine noch stärkere, nach Befinden wohl vierfache Gabe, den dritten Morgen gegeben, ihre Wirkung schon an den Tag legen.

§. 123.

Nicht alle Personen werden von einer Arznei gleich stark angegriffen; es findet im Gegenteile eine große Verschiedenheit in diesem Punkte statt, so daß von einer als sehr kräftig bekannten Arznei in mäßiger Gabe zuweilen eine schwächlich scheinende Person fast gar nicht erregt wird, aber von mehren andern dagegen weit schwächern, stark genug. Und hinwiederum giebt es sehr starke Personen, die von einer mild scheinenden Arznei sehr beträchtliche Krankheitssymptome spüren, von stärkern aber geringere. Da dieß nun im voraus unbekannt ist, so ist es sehr räthlich, bei Jedem zuerst mit einer kleinen Arzneigabe den Anfang zu machen, und wo es angemessen und erforderlich ist, entweder denselben Tag nach ein Paar Stunden, oder von Tage zu Tage zu einer höhern und höhern (etwa jedesmal verdoppelten) Gabe in steigen.

§. 124.

Hat man gleich Anfangs zum ersten Male eine gehörig starke Arzneigabe gereicht, so hat man den Vortheil, daß die Versuchsperson die Aufeinanderfolge der Symptome erfährt und die Zeit, wann jedes erschienen ist, genau aufzeichnen kann, welches zur Kenntniß des Genius der Arznei sehr belehrend ist, weil dann die Ordnung der Erstwirkungen, so wie die der Wechselwirkungen am unzweideutigsten zum Vorscheine kommt. Auch eine sehr mäßige Gabe ist zum Versuche oft schon hinreichend, wenn nur der Versuchende feinfühlig genug und möglichst aufmerksam auf sein Befinden ist. Die Wirkungsdauer einer Arznei wird erst bei Vergleichung mehrer Versuche bekannt.

§. 125.

Muß man aber, um nur etwas zu erfahren, einige Tage nach einander dieselbe Arznei in immer erhöheten Gaben zum Versuche derselben Person geben, so erfährt man zwar die mancherlei Krankheitszustände, die diese Arznei überhaupt zuwege bringen kann, aber man erfährt ihre Reihenfolge nicht, und die darauffolgende Gabe nimmt oft ein oder das andre, von der vorgängigen Gabe erregte Symptom hinweg, heilwirkend, oder bringt dafür den entgegengesetzten Zustand hervor, – Symptome, welche eingeklammert werden müssen, als zweideutig, bis folgende, reinere Versuche zeigen, ob sie Gegenwirkung des Organisms und Nachwirkung, oder eine Wechselwirkung dieser Arznei sind.

§. 126.

Wo man aber noch, ohne Rücksicht auf Folgereihe der Zufälle und Wirkungsdauer der Arznei, bloß die Symptome für sich, besonders eines schwachkräftigen Arzneistoffs, erforschen will, da ist die Veranstaltung vorzuziehen, daß man einige Tage nach einander, jeden Tag eine erhöhete Gabe, auch wohl des Tages mehrmal eine solche reiche. Dann wird die Wirkung selbst der mildesten, noch unbekannten Arznei, besonders an empfindlichen Personen versucht, an den Tag kommen.

§. 127.

Bei Empfindung dieser oder jener Arzneibeschwerde ist's zur genauen Bestimmung des Symptoms dienlich, ja erforderlich, sich dabei in verschiedne Lagen zu versetzen und zu beobachten, ob der Zufall durch Bewegung des eben leidenden Theils, durch Gehen in der Stube oder in freier Luft, durch Stehen, Sitzen oder Liegen sich vermehre, mindere oder vergehe, und etwa in der ersten Lage wiederkomme, – ob durch Essen oder Trinken oder durch eine andre Bedingung sich das Symptom ändre, oder durch Sprechen, Husten, Niesen oder bei einer andern Verrichtung des Körpers, und darauf zu achten, zu welcher Tages- oder Nachtzeit es sich vorzüglich einzustellen pflege, wodurch das jedem Symptome Eigentümliche und Charakteristische offenbar wird.

§. 128.

Alle äußere Potenzen und vorzüglich die Arzneien haben die Eigenschaft, eine ihnen eigenthümliche, besonders geartete Veränderung im Befinden des lebenden Organisms hervorzubringen; doch kommen nicht alle, einer Arznei eignen Symptome schon bei Einer Person, auch nicht alle sogleich, oder in demselben Versuche zum Vorscheine, sondern bei der einen Person dießmal diese, bei einem zweiten und dritten Versuche wieder andre, bei einer andern Person diese oder jene Symptome vorzugsweise hervor, doch so, daß vielleicht bei der vierten, achten, zehnten u. s. w. Person wieder einige oder mehre von den Zufällen sich zeigen, die schon etwa bei der zweiten, sechsten, neunten u. s. w. Person sich ereigneten; auch erscheinen sie nicht zu derselben Stunde wieder.

§. 129.

Der Inbegriff aller Krankheits-Elemente, die eine Arznei zu erzeugen vermag, wird erst in vielfachen, an vielen dazu tauglichen, verschiedenartigen Körpern beiderlei Geschlechts angestellten Beobachtungen der Vollständigkeit nahe gebracht. Nur erst dann kann man versichert seyn, eine Arznei auf die Krankheitszustände, die sie erregen kann, das ist, auf ihre reinen Kräfte in Veränderung des Menschenbefindens ausgeprüft zu haben, wenn die folgenden Versuchspersonen wenig Neues mehr von ihr bemerken können, und fast immer nur dieselben, schon von Andern beobachteten Symptome an sich wahrnehmen.

§. 130.

(Obgleich, wie gesagt, eine Arznei bei ihrer Prüfung im gesunden Zustande nicht bei Einer Person alle ihre Befindens-Veränderungen hervorbringen kann, sondern nur bei vielen, verschiednen, von abweichender Leibes- und Seelenbeschaffenheit, so liegt doch die Neigung (Tendenz), alle diese Symptome in jedem Menschen zu erregen, in ihr (§. 110.), nach einem ewigen, unwandelbaren Naturgesetze gegründet, vermöge dessen sie alle ihre, selbst die selten von ihr in Gesunden hervorgebrachten Wirkungen bei einem jeden Menschen in Ausübung bringt, dem man sie in einem Krankheitszustande von ähnlichen Beschwerden eingiebt; selbst in der mindesten Gabe erregt sie darin, homöopathisch gewählt, stillschweigend einen der natürlichen Krankheit nahe kommenden künstlichen Zustand im Kranken, der ihn von seinem ursprünglichen Uebel schnell und dauerhaft (homöopathisch) befreit und heilt.)

§. 131.

Je mäßiger, bis zu einer gewissen Masse, die Gaben einer zu solchen Versuchen bestimmten Arznei sind, – vorausgesetzt, daß man die Beobachtung durch die Wahl einer Wahrheit liebenden, in jeder Rücksicht gemäßigten, feinfühligen Person, die die gespannteste Aufmerksamkeit auf sich richtet, zu erleichtern sich bestrebt – desto deutlicher kommen die Erstwirkungen, und fast, bloß diese, als die wissenswürdigsten, hervor, und fast keine Nachwirkungen oder Körper-Gegenwirkungen. Bei übermäßig großen Gaben hingegen kommen nicht allein mehre Nachwirkungen unter den Symptomen mit vor, sondern die Erstwirkungen treten auch in so verwirrter Eile und mit solcher Heftigkeit auf, daß sich nichts genau beobachten läßt; die Gefahr derselben nicht einmal zu erwähnen, die demjenigen, welcher Achtung gegen die Menschheit hat, und auch den Geringsten im Volke für seinen Bruder schätzt, nicht gleichgültig seyn kann.

§. 132.

Alle Beschwerden, Zufälle und Veränderungen des Befindens der Versuchs-Person während der Wirkungsdauer einer Arznei (im Fall obige Bedingungen [§. 117-120.] eines guten, reinen Versuchs beobachtet wurden) rühren bloß von dieser Arznei her und müssen als dieser Arznei eigenthümlich zugehörig, als Symptome dieser Arznei angesehen und aufgezeichnet werden, gesetzt, die Person hätte auch ähnliche Zufälle vor längerer Zeit bei sich von selbst wahrgenommen. Die ähnliche Wiedererscheinung derselben beim Arznei-Versuche zeigt dann bloß an, daß dieser Mensch, vermöge seiner besondern Körperbeschaffenheit, vorzüglich aufgelegt ist, zu dergleichen erregt zu werden. In unserm Falle ist es von der Arznei geschehen; die Symptome kommen jetzt nicht von selbst, während die eingenommene kräftige Arznei sein ganzes Befinden beherrscht, sondern von dieser.

§. 133.

Wenn der Arzt die Arznei zum Versuche nicht selbst eingenommen, sondern einer andern Person eingegeben hat, so muß diese ihre gehabten Empfindungen, Beschwerden, Zufälle und Befindensveränderungen deutlich aufschreiben in dem Zeitpunkte, wo sie sich ereignen, mit Angabe der nach der Einnahme verflossenen Zeit der Entstehung jedes Symptoms, und wenn es lange anhielt, der Zeit der Dauer. – Der Arzt sieht den Aufsatz in Gegenwart der Versuchs-Person gleich nach vollendetem Versuche, oder, wenn der Versuch mehre Tage dauert, jeden Tag durch, um sie, da ihr dann noch alles in frischem Gedächtnisse ist, über die genaue Beschaffenheit jedes dieser Vorfälle zu befragen und die so erkundigten nähern Umstände beizuschreiben, oder nach ihrer Aussage dieselben abzuändern.

§. 134.

Kann die Person nicht schreiben, so muß sie der Arzt jeden Tag darüber vernehmen, was und wie es ihr begegnet sey. Dieß muß dann aber größtentheils nur freiwillige Erzählung der zum Versuche gebrauchten Person seyn, nichts Errathenes, nichts Vermuthetes und so wenig als möglich Ausgefragtes, was man als Befund niederschreiben will, alles mit der Vorsicht, die ich oben (§. 77-83.) bei Erkundigung des Befundes und Bildes der natürlichen Krankheiten angegeben habe.


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