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Holten war eben gerade dabei, sich zum Ausgehen fertig zu machen in einer guten halben Stunde wollte er ja bei Ruth eintreffen – da rief ihn die Korridorglocke an die Tür. Ein Rohrpostbrief wurde ihm überreicht. Er warf, wieder in sein Zimmer tretend, einen Blick auf den Umschlag: Ruths Schriftzüge, aber sehr flüchtig, nicht wie sonst die klaren ruhigen Zeichen ihrer Hand. Offenbar eine eilige Absage in letzter Stunde.
Wie ärgerlich! Mißmutig zerriß er den Umschlag und trat mit dem Schreiben ans Fenster. Er las:
Kommen Sie nicht zu mir heute Nachmittag. Sie dürfen nicht mehr kommen, heute nicht und überhaupt nicht mehr. Ich kann Ihnen nicht sagen, was mir soeben geschehen ist – ich bin vernichtet! Nur so viel muß ich Ihnen ja wohl andeuten: Der Klatsch, der häßlichste, gemeinste Klatsch hat sich an unsere Freundschaft geheftet. Darum dürfen Sie nicht mehr zu mir kommen, dürfen Sie mich nicht mehr sehen. Es geht nicht. Ich habe getan, was ich konnte, um Ihnen die Segnungen der Freundschaft, die Sie ja so hoch für Ihr Leben einschätzten, zu gewähren, ich habe das Urteil der Menschen nicht gescheut. Aber daß sie so niedrig, so vernichtend von mir denken könnten – das hab' ich ja nie ahnen können. Das geht über meine Kraft. Halten Sie mich für klein, für schwach – ich bin es ja vielleicht auch, daß ich nicht stolz erhobenen Hauptes im Bewußtsein meiner Unschuld kalt über diesen Schmutz hinwegschreite – aber ich kann es nicht. Und niemand vermag über die Grenzen seiner Kraft hinaus zu tragen.
Darum, Herr Doktor, dürfen Sie mich nicht mehr wiedersehen. Leben Sie wohl, und haben Sie Dank für alles, was Sie mir gegeben haben – tausend innigen Dank.
Ihre
verzweifelte
Ruth.
Erschüttert ließ Holten den Brief auf den Tisch vorm Fenster niederfallen.
Was mochte man ihr getan haben?
Die Frage bohrte ihm wie ein schneidender Stahl im Herzen. Aber es konnte ja kein Zweifel sein – ihr Brief enthüllte es ja ganz klar: Eine furchtbare Verleumdung, die ihre Ehre besudelte, hatte sie getroffen – eine Verleumdung wegen ihres Verkehrs mit ihm.
Mit ihm! Also seinetwegen dieser Schimpf, diese Verzweiflung. O arme, liebe, gütige Ruth! Daß dir dein Mitleid mit dem einsamen Mann so gelohnt wurde! Ah, diese Schandmäuler, die es wagten, ihr Gift auf die Hohe, Reine zu spritzen, deren Schuhsohlen sauberer waren als jener schmutzigen, niederen Seelen. In maßlosem Grimm krampfte sich seine Faust, wie er so durchs Zimmer raste, zusammen: daß er sie niederschmettern könnte, alle mitsammen, diese ekle Brut, in ihren Spießbürgerwinkeln.
Um seinetwillen! Aber plötzlich schoß es ihm durch den Kopf: Nicht auch durch seine Schuld? Mit verschränkten Armen stand er still. Jetzt der Wahrheit die Ehre, bei allem, was ihm heilig. Kein Verstecken und Beschönigen. War er es nicht schließlich, der dies Unheil über sie heraufbeschworen hatte, mit seinem Verlangen nach einem vertrauten freundschaftlichen Verkehr? Da hatte er monatelang die unerhörten Opfer ihrer Großmut angenommen, wie etwas Selbstverständliches, und hatte nie danach gefragt, was sie ihr kosteten. Mit einem Male fielen ihm nun die Schuppen von den Augen; nun sie am Boden lag, von dem Unheil vernichtet, das er heraufbeschworen hatte. All die Vorteile und Annehmlichkeiten des vertrauten Beisammenseins mit einem lieben, weiblichen Wesen hatte er haben wollen, wie sie sonst nur die Ehe bietet, aber den Unannehmlichkeiten, allen Opfern von seiner Seite, hatte er sich feige entziehen wollen. Ah, wie selbstsüchtig! Sollte nicht die Hand, die sich da eben zornbebend gegen die anderen hatte kehren wollen, lieber ihn selbst treffen, mit besserem Recht?
Arme, arme Ruth! Und um dieses Mannes willen hast du jetzt Schimpf und Schande zu tragen. Es schoß ihm heiß in die Augen: Könnte er zu ihr eilen – ihre Verzeihung erbitten, alles gut machen!
Wenn er sie sich jetzt so vorstellte, die Zarte, Liebe, ganz zerschmettert von Jammer und Verzweiflung! Und eine plötzliche dunkle Angst überfiel ihn: Wenn sie sich in diesem Zustand vergaß – ein Leid antat? Bei ihrem so überfeinen, empfindlichen Ehrgefühl!
Gequält sank er auf einen Stuhl. Der Gedanke krallte sich immer fester in seinem Gehirn, bereitete ihm Folterqualen. Seine überhitzte Phantasie sah sie schon mit starren, wachsbleichen Zügen leblos auf dem Sofa liegen – das Todeswerkzeug in der schlaff herabhängenden Hand, der lieben, feinen Hand, von der ihm so oft Ruhe und Frieden ins Herz geströmt war.
Ein krampfhaftes Schlucken würgte ihm in der Kehle. Jetzt in dieser Stunde, wo er sie vielleicht verlieren sollte, für immer, jetzt sah er mit einem Male, wie teuer sie ihm war – wie unsagbar lieb er sie hatte.
Und plötzlich sprang er auf – in einem unwiderstehlichen Trieb riß er Hut und Mantel vom Nagel. Hin zu ihr! Er konnte nicht anders.