Paul Grabein
Das stille Leuchten
Paul Grabein

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VII.

Nun, Fränzl – du allein hier? Wo ist denn der Herr Doktor?«

Ruth war zu der Freundin getreten, die auf der Bank vor dem Watzmann-Haus saß, still gesenkten Hauptes vor sich hinblickend.

»Er ist schon vor einer ganzen Weile hineingegangen.« Fränzl sah nicht auf. »Er wollte wegen des Abendessens Anordnungen treffen.«

Ruth blickte die Freundin verwundert an. »Du bist wohl recht müde, Fränzl?« Herzlich legte sie den Arm um ihre Schulter.

Fränzl schüttelte stumm den Kopf.

»Ja, was ist dir denn, Herzl? Komm, sag' mir's doch!« Und liebevoll suchte Ruth das gesenkte Gesicht der anderen zu sich emporzurichten.

»Ach, Ruth, es ist alles so anders, als ich mir's gedacht hatte. Und ich hatte mich doch so darauf gefreut!« Tränen schimmerten Fränzl an den Wimpern der immer noch niedergeschlagenen Augen. Ruth drückte sie zärtlich an sich.

»Du meinst Holten? Es ist mir allerdings auch aufgefallen. Er ist so verändert heute – mitunter still, fast bedrückt, und dann plötzlich wieder ausgelassen lustig; aber man sieht's ihm an, es kommt ihm nicht von Herzen.«

»Nicht wahr?« brach sich heftig in Fränzl der lange zurückgedrängte Kummer durch. »Er hat irgendwas gegen mich – ich fühle es ja nur zu deutlich.«

Sie war wirklich tief unglücklich. Kein lieber Blick, kein geheimer Händedruck von ihm hatte sie heute gestreift, und sie hatte sich doch innerlich so verzehrt vor Sehnsucht danach.

»Gegen dich?« wunderte sich Ruth. »Aber wieso, Fränzl? Du hast ihm doch nichts getan. Und noch gestern abend war er gegen dich die Herzlichkeit selber.«

»Das ist es ja eben!« rief Fränzl ganz verzweifelt. »Es muß ihm über Nacht irgend etwas gegen mich in den Sinn gekommen sein.« Und plötzlich schoß der Gedanke in ihr auf, daß ihn ihr Benehmen gestern beim Abschied abgestoßen haben könnte, wie sie am Wagen heimlich sich an ihn gedrängt, seine Hand so leidenschaftlich gepreßt hatte. Heiße Röte brannte auf ihren Wangen. Sicherlich hatte er das unweiblich gefunden. Es war ja auch wohl schließlich für ein Mädchen nicht schicklich – gewiß – aber, mein Gott, sie hatte sich ja so gar nichts dabei gedacht. In aller Unschuld hatte sie es getan, einem Triebe ihres Herzens folgend. Ach. daß man doch so leicht mißverstanden werden konnte, selbst von einem lieben Menschen, der doch jedes leiseste Regen in unsrer Seele ahnen sollte!

Aus tiefstem Herzen entrang sich Fränzl ein Seufzen. Und wie sollte sie das wieder gut machen? Sie konnte ihm doch nicht sagen, was sie eben dachte.

Stimmengewirr hinter ihnen vom Watzmann-Haus her ließ sie aufschrecken; lustig plaudernd trat eine Anzahl anderer Touristen aus dem Bergwirtshaus, um noch die Stunde des Sonnenuntergangs draußen auf dem Plateau zu genießen. Fränzl mochte ihnen ihr trauriges Gesicht nicht zeigen.

»Komm,« bat sie die Freundin, »laß uns abseits gehen.«

Ruth schob ihren Arm in den der Gefährtin, und sie schritten langsam um das Haus herum, wo sich der Zickzackweg zum Hocheck hinüberzuwinden beginnt. Plötzlich aber zuckte Fränzl zusammen. Ruth sah auf. Da lehnte ein wenig abseits, an einem Felsblock, Holten und starrte, ihnen abgewandt, mit verschränkten Armen in die Ferne hinaus.

»Er ist also gar nicht ins Haus gegangen,« flüsterte Ruth betroffen.

»Laß uns umkehren!« bat Fränzl aufgeregt und suchte Ruth wegzuziehen. »Wir wollen uns ihm nicht aufdrängen.«

Aber da wandte Holten den Kopf herum, von dem Geräusch ihrer Tritte aufgestört. Er zeigte keine Überraschung oder gar Verlegenheit in seinen Mienen, als er sich nun zugleich zu ihnen wandte; vielmehr lag eine ruhige, feste Entschlossenheit auf seinem Gesicht.

»Verzeihen Sie, bitte, daß ich mich ein paar Minuten zurückgezogen habe,« bat er. »Ich fühlte mich nicht ganz wohl. Nun bin ich aber wieder ganz au fait

»Sie sahen heute schon den ganzen Tag nicht gut aus, Herr Doktor,« bestätigte Ruth teilnehmend. »Hat Sie die Tour doch angestrengt? Wir hätten lieber nicht gleich die Spitze noch mitnehmen sollen.«

In der Tat hatten sie ursprünglich nur für heute den Ausflug bis zum Watzmann-Haus geplant; als sie aber vormittags hier angelangt waren und die Damen sich noch gar nicht ermüdet fühlten, hatten sie auf deren eigenen Wunsch nach längerer Rast gleich noch die Besteigung der Nordspitze, des »Hochecks«, gemacht.

»O, das ist es nicht,« versicherte Holten. »Ich fühlte mich bereits vorher nicht so recht. Ich hatte schon eine schlechte Nacht.« Er sprach ja die Wahrheit – hatte er doch kein Auge zugetan in dieser Nacht, wo sich sein Herz blutend losgerungen hatte von dem Glück und der Jugend.

Fränzl sah verstohlen zu ihm hinüber. Wirklich, er sah auch ganz fahl aus und so matt um die Augen. Wie brennend gern hätte sie seine Hand gedrückt, ihm ihre Herzensteilnahme zu zeigen. Aber sie wagte es nicht, nach seinem heutigen Benehmen. Sie wollte ihn nicht noch einmal mit ihrer Unweiblichkeit abstoßen. So schwieg sie still, aber wie weh tat ihr dies Verstecken ihrer heißen Gefühle.

Ihre Teilnahmslosigkeit fiel Holten auf, und nun sah er den geheimen Schmerz in ihrer stillen Miene.

»Es tut mir nur leid, daß ich Ihnen die Freude so getrübt habe an unserer so heiß ersehnten Watzmann-Partie,« wandte er sich Fränzl zu. »Ich weiß – ich war heut ein sehr schlechter Gesellschafter.«

Fränzl fühlte seine Blicke auf ihrem Antlitz, und nun sah sie zaghaft in seine Augen, die sie so warm und zärtlich, aber wie in stiller Trauer ansahen. Da ward sie glücklich und unglücklich in einem. Er zürnte ihr nicht, im Gegenteil – aus seinem Blick da eben sprach so viel Liebe – aber warum schaute er sie so anders an, so ganz anders als gestern noch? Sie wußte es nicht, aber sie hätte am liebsten in Tränen ausbrechen mögen, so beklommen war ihr das Herz.

»O, wenn man sich nicht wohl fühlt!« stammelte sie endlich, sie mußte ihm doch irgend etwas sagen. »Es ist ja im Gegenteil so rührend, daß Sie unter solchen Umständen die Partie überhaupt noch unternommen haben.«

Holten hörte die unterdrückten Tränen aus ihrer Stimme heraus, und er mußte sich einen Ruck geben, daß er nicht selber weich wurde.

»Nun wollen wir jedenfalls aber den Abend noch recht vergnügt sein,« zwang er sich zu einem heitern Ton. »Kommen Sie – wir wollen uns drinnen einen gemütlichen Platz aussuchen.«

Alle drei wandten sich zum Gehen, aber da fiel ihr Blick auf die untergehende Sonne, die eben hinter den Vorbergen drunten versank und mit der warmen Flut ihres zitternden Lichts die Wellenlinien des dunklen Kuppenmeeres goldig umsäumte. Die Sonnenscheibe selbst war schon hinter der düstern Wand einer Wolke verschwunden, aber hinter dem schwarzen Leibe des Nachtgiganten schossen ihre flammenden Strahlen wie gleißende Lanzen und Schwerter noch einmal mit Siegerkraft zum Firmament empor: Das letzte, herrliche Aufbäumen eines sterbenden Helden.

Schweigend schauten die drei in das erlöschende Glühen hinein, ihre Seelen tief erfüllt von der Größe dieser Scheidestunde in einer erhabenen Natur, nahe den ewigen Firnen.

»Wie damals – das erstemal, als wir zusammen wanderten. Weißt du noch, Ruth? Und doch heut so anders.«

Fränzl richtete das Wort an die Freundin, aber Holten fühlte, wie es ihm galt. – Das erstemal, klang es ihm ins Ohr. Wenn sie ahnte, daß es heute das letztemal war!

»Wie unsagbar schön ist dieses Schauspiel,« flüsterte Ruth, »uns Menschen zum andachtsvollen Bewundern gemacht.«

»Und zum Nachahmen,« ergänzte Holten, ohne den ernsten Blick von der Ferne abzulenken. »Diese Stunde zeigt uns, wie wir scheiden sollen von dem, was uns lieb und wert war: Nicht in stumpfer Verzweiflung, nicht mit lauten Klagen – sondern still und groß wie die Sonne da am Firmament.«

Ruth sah ihn schweigend, aber mit einem tief forschenden Blick an.

»Scheiden? Warum reden Sie vom Scheiden in dieser Stunde?« Mit weit geöffneten Augen, aus denen ihr gequältes Herz schrie, starrte ihn Fränzl an.

Holten sah fest zu ihr hin.

»Weil wir alle es einmal lernen müssen, Fräulein Fränzl.« Tiefer Ernst sprach aus seiner Stimme. »Und je eher, desto besser.«

Fränzl erschauerte im Innersten. »Sprechen Sie doch nicht davon! Noch ist ja, gottlob, diese Stunde fern von uns allen.«

Holten lächelte leise, mitleidig. Sie hatte seinen Worten einen übertragenen Sinn gegeben, als habe er vom Tod gesprochen. Um so besser! So wurde ihr wenigstens der Abschiedsschmerz verkürzt.

»Sie haben recht, Fräulein Fränzl. Nach menschlichem Ermessen werden wir ja wohl bis dahin alle drei noch eine ganze Spanne zu wandern haben.« Und er wandte sich langsam ab nach dem Hause zu. –

Der Abend war schon vorgeschritten. Drinnen in der Gaststube des Bergwirtshauses herrschte eine frohe Stimmung. Die Touristen waren, wie das auf Berghöhe so geht, schnell miteinander bekannt geworden, der berühmte »Führertanz«, diese Spezialität des Watzmann-Hauses hatte das seinige dazu getan, und so hatte sich denn schließlich an gemeinsamer Tafel eine ungezwungene Geselligkeit entwickelt. Alles schwirrte laut durcheinander, Plaudern, Lachen, Necken, der Wein machte die Herzen leichter und löste die Zungen.

Auch Holten hatte mit Hilfe perlenden Sekts versucht, bei sich und seinen Weggefährtinnen wieder eine leichte Stimmung zu schaffen; er selbst ging tapfer mit gutem Beispiel voran, scherzte und plauderte aufs lebhafteste, aber doch konnte er dabei den Eindruck des Gewaltsamen nicht beseitigen, und so kam denn auch das Echo bei seinen Begleiterinnen nicht wirklich von Herzen. Sie spielten sich so alle drei regelrecht Komödie vor, und jeder merkte es doch dem andern an.

Sie sahen am einen Ende der langen Tafel, an der wohl an dreißig Personen beisammen waren, so waren sie wenigstens doch etwas unter sich und konnten gelegentlich wohl mal ein ernsteres Wort sprechen, als es sonst wohl in dieser ausgelassenen Runde üblich war.

Das Fremdenbuch, das am Tisch herumging und in das ein jeder ein humoristisches Verschen eintragen sollte, das alsbald vorgelesen und heiter glossiert wurde, kam jetzt auch zu Holten. Aber er nahm es nur, um es gleich wieder Fränzl zuzuschieben, die rechts neben ihm saß.

»O, das gilt nicht! – Auch dichten!« protestierten mehrere Damen in der Nachbarschaft. »Wir haben uns auch mit dem Pegasus quälen müssen.«

»Ich scheue nicht diese Qual, meine Damen,« erwiderte Holten, leicht ironisch. »Sie würde nicht so groß sein. Aber ich schreibe mich grundsätzlich nicht in Fremdenbücher ein. Sie werden meine Grundsätze schon gelten lassen müssen.«

Es trafen ihn wohl erstaunte und pikierte Blicke, aber man ließ den Sonderling gewähren. Auch Franzi und Ruth trugen nur ihre Namen in das Buch ein, auch ihnen stand der Sinn nicht nach solchen Scherzen. Man kümmerte sich schließlich am Tische nicht mehr viel um die wenig umgängliche kleine Gesellschaft da unten an der Ecke. Der war aber das nur lieb.

Holten sprach noch über die landläufige, gedankenlose Gewohnheit der Reisenden, sich an allen möglichen Orten zu »verewigen«, ohne daß sie doch meist noch einmal an dieselbe Stelle kommen, ebensowenig, wie man schließlich aus den dickleibigen Fremdenbuchfolianten aus abertausend Namen den von lieben Freunden herausfinde. Da zog Fränzl aus ihrer Tasche eine Photographie und sah ihn unsicher an.

»Wer weiß, ob es Ihnen da sympathisch ist, mir hierauf ein paar Worte zu schreiben – ich hätte gern ein Andenken an unsre Watzmann-Tour gehabt. Ruth hat mir schon vorhin etwas draufgeschrieben.«

Holten nahm das Bild aus ihrer Hand. Es war eine Aufnahme des »Hocheck«, auf der Rückseite fanden sich einige Zeilen mit Ruths klaren, großen Schriftzügen.

»Aber das ist doch ganz etwas anderes, Fräulein Fränzl,« sagte er freundlich und löste den Bleistift von der Uhrkette. »Herzlich gern natürlich!«

Einige Augenblicke sann Holten nach, die Stirn in die Hand gestützt, während die Mädchen zusammen sprachen. Nun sollte er ihr ein Erinnerungszeichen geben – alles, was ihr bleiben würde von diesem flüchtigen, schönen Sommertraum. Unwillkürlich kamen ihm da ernste, schwermutsvolle Worte in die schreibende Hand.

Dann reichte er Fränzl das Bild wieder hin, und sie las:

»Verlorne Jugend ist ein Schmerz
Und einer ew'gen Sehnsucht Hort,
Nach seinem Lenze sucht das Herz,
In einem fort, in einem fort.«

Das Ergebnis der so fröhlich erwarteten Watzmannfahrt.

K. H.

Holten sah, wie beim Lesen ihr liebes Gesicht ein trüber Schatten überflog; nun heftete sie die verschleierten Blicke auf ihn, in stummer, banger Frage.

»Es gefällt Ihnen nicht, was ich geschrieben habe?« Mit leisem Lächeln fragte er es.

»O, die Verse sind wunderbar schön, aber so traurig. Ihr Lieblingsdichter hat doch auch Heiteres gedichtet – warum wählen Sie gerade das?«

In seinem herben Schmerz erleuchtete doch einen Augenblick die Freude sein Gesicht, daß sie den Gedichtband Konrad Ferdinand Meyers, den er Ruth damals geliehen, so mit Interesse studiert hatte – sicherlich ihm zuliebe. Er dankte es ihr mit warmem Blick, dann erwiderte er ernst:

»Ich dachte, es hätte vielleicht Wert für Sie, Fräulein Fränzl, auf diesem Erinnerungsblatt mich so zu sehen, wie ich in dieser Stunde war.«

Sie nickte still. »Sie haben recht. Ich danke Ihnen.« Und sie verbarg das Bild wieder in der Tasche ihres Jäckchens. »Wie schade nur, daß Sie heut gerade in solcher Stimmung sind.«

»Nun, das geht schon wieder vorüber!« Mit gewaltsamem Anlauf zur Heiterkeit ergriff er die Sektflasche und füllte die Gläser.

»Stoßen wir an – auf die Jugend, auf Ihre Jugend, Fräulein Fränzl! Daß Sie sie nie verlieren mögen – die Jugend Ihres Herzens. Und wenn auch der erste rauhe Sturm über Sie hinfegen wird, Sie werden sich wieder aufrichten, in ungebrochener Kraft und Freude am Dasein. Ihr Wohl, Fräulein Fränzl!«

Seine Blicke tauchten mit einem so seltsamen Ausdruck tief in die ihren, und er leerte sein Glas auf einen Zug. Immer rätselhafter wurde Fränzl sein Benehmen. Sie dankte ihm und trank ihrerseits, aber ganz mechanisch – ihre Gedanken waren weitab; sie zermarterte sich insgeheim den Kopf, was denn nur in ihm vorging.

Immer ausgelassener war inzwischen die Stimmung am Tische geworden. Man hatte einen der Führer drüben aus der Führerstube geholt mit seiner Zither, und einige Herren aus der Gesellschaft gaben Schnadahüpfel zum besten, so gut sie's verstanden. Sie machten schnell Schule, bald versuchte sich so ziemlich ein jeder in der Runde mit einem Verschen, und Heiterkeitsausbrüche belohnten besonders gelungene oder verunglückte Stegreifdichtungen. Da schlich sich Fränzl leise vom Tisch weg und trat in die Ecke ans Fenster; die albernen, plumpen Späße taten ihrer wunden Seele weh. Mit brennenden Augen starrte sie in die dunkle Nacht hinaus. Kein milder Mondenschein – kein einziges Sternlein – schwarze, hoffnungslose Finsternis ringsum. Ihr war so todestraurig zumute, daß sie kaum noch die Tränen zurückhalten konnte. Was hatte das alles mit Holten nur heute zu bedeuten?

Da fuhr sie plötzlich zusammen. Sie hörte einen Tritt hinter sich, und sie wußte: Das war er. Nun stand er wirklich neben ihr, ganz dicht, und leise tönten ihr seine Worte ins Ohr.

»Warum fliehen Sie die Gesellschaft, Fräulein Fränzl?«

Daß er so fragen konnte! Wollte er denn auch noch den Aufschrei ihres gequälten Herzens hören? Sie antwortete nicht; fest preßte sie die Lippen zusammen und blickte weiter starr hinaus.

»Ich glaube, Fräulein Fränzl – Sie tun mir in Gedanken unrecht.« Aus seiner Stimme klang ein verhaltenes Weh. »Sie glauben, ich hätte etwas gegen Sie – ich wäre kalt und unfreundlich. – Aber Sie irren – bei Gott, Sie irren! – Noch nie habe ich so wie heute Ihre Güte und Freundlichkeit geschätzt und verehrt. Glauben Sie es mir doch, Fräulein Fränzl.«

Er streckte ihr die Hand hin, von den anderen da hinten in ihrer lärmenden Lustigkeit unbemerkt. Zaghaft ergriff sie Fränzl, sie war feucht und kalt, wie die eines Kranken.

»Warum sind Sie dann aber heute so anders?« Da war es heraus, und der fiebernde Druck ihrer Finger verriet ihm, wie lange schon diese Frage auf ihrer Seele gebrannt hatte. »Ich kann es ja nicht glauben, daß das nur Ihr Unwohlsein sein soll. Bitte, bitte, sagen Sie mir doch die Wahrheit.«

Ihr leises Flehen, aus angstgeschnürter Brust, schnitt ihm ins Herz. Er hätte ihren Kopf an seine Brust betten, ihr Blondhaar voll innigster Zärtlichkeit streicheln mögen, aber er durfte es ihr ja jetzt nicht mehr zeigen, was er für sie empfand. Es wäre grausam gewesen in dieser Stunde, wo er sie verlassen wollte.

So sah er sie denn nur mit einem Blick voll unendlicher Trauer an.

»Ich habe gestern abend noch – spät – Nachrichten empfangen, die mich sehr niedergeschlagen gemacht haben.«

Ihre Augen bestürmten ihn mit stummer Bitte, sich ihr doch weiter mitzuteilen.

»Ich kann jetzt nicht darüber sprechen,« wich er aus. »Vielleicht später einmal. Aber, nicht wahr – nun glauben Sie nicht mehr, daß ich etwas gegen Sie hätte. Nun werden Sie wieder heiter aus Ihren lieben Augen schauen, nicht, Fräulein Fränzl?« Seine Stimme klang so weich, voll liebkosender Zärtlichkeit, daß ihr mit einemmal wieder ganz selig zumute wurde. Ein heißer Strahl hingebender Liebe traf ihn aus ihren Blicken; sie konnte in diesem Augenblick nicht länger mehr zurückhalten, was die Brust so weh und doch so süß zum Zerspringen schwellte.

Holten sog diesen Blick ein wie einen kostbaren seligen Trank – zum letzten Male schaute sie ihn so an. Dieser Blick sollte ihm vor der Seele stehen in aller Ewigkeit. Er sollte das letzte Vermächtnis ihrer Liebe sein, und nun wollte er sich wenden. Nicht länger wollte er sich die Marter verlängern; aber – er wußte nicht, wie es geschah – plötzlich hatte er noch einmal ihre Hand ergriffen:

»Fränzl, lassen Sie es mich Ihnen sagen – einmal, ein einziges Mal: Sie haben mir in diesen unvergeßlichen Sommerwochen das Schönste geschenkt, was das Leben geben kann. – Seien Sie bedankt dafür aus innerstem Herzen, und seien Sie sicher, daß dieser Dank nie in mir erlöschen wird – niemals!« Von seinem Gefühl überwältigt, führte er die kleine Hand eine Sekunde lang an seinen Mund.

Wie ein elektrischer Schlag durchzuckte es Fränzl, als sie mit einemmal die heißen, zitternden Männerlippen sich auf ihre Hand pressen fühlte. Sie schloß die Augen, einen Moment fast ohnmächtig vom Aufruhr ihres Inneren. Dann aber riß sie sich los und war von seiner Seite gewichen, ehe er noch ein Wort gefunden. Sie hatte das Zimmer verlassen.

Holten blieb noch am Fenster, von heftiger Reue gepeinigt, daß er sich im letzten Augenblick doch noch so vergessen hatte. Wie sollte er ihr nun morgen früh gegenübertreten? Sie mußten ja noch den ganzen Tag auf dem Rückweg beisammen sein, und nach seinem Benehmen da eben wäre er ihr doch als Ehrenmann gleich morgen eine Erklärung schuldig gewesen. Mit finster gefurchter Miene starrte Holten vor sich hin. Doch er mußte ja wieder an den Tisch, wollte er nicht noch mehr auffallen und wohl gar das hinausgeeilte Mädchen kompromittieren. Wie er aber zur Tafel zurückkehren wollte, da sah er, daß auch Ruth inzwischen aufgestanden war. Wahrscheinlich war sie Fränzl auf ihre Schlafkammer gefolgt.

Holten sah nun allerdings auch für sich keinen Zwang mehr, noch in der Gesellschaft zu verweilen; man vermißte ihn ja gar nicht, zudem war es ohnedies auch an der Zeit, sich zurückzuziehen. Er verließ also das Gastzimmer und trat noch einmal vor das Haus hinaus, um sich die kühle Nachtluft noch eine Weile um die Stirn wehen zu lassen.

 


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