Paul Grabein
Das stille Leuchten
Paul Grabein

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IX.

Ein miserabler Tag heute. Mißmutig stapfte Holten durch die Pfützen. Seit dreimal vierundzwanzig Stunden goß es schon ununterbrochen. Grau verhängt war das ganze Tal, man konnte nicht einmal bis zu der Felswand des Burgsteins hinübersehen. Dazu eine höchst ungemütliche Kälte – mit einem Wort, es war ein Wetter zum Davonlaufen. Er wußte auch eigentlich gar nicht, was ihn hier noch zurückhielt. Die meisten Gäste waren auch schon aufgebrochen, die Saison war ja sowieso schon längst zu Ende und der rauhe letzte Herbst schien in das Gebirge bereits seinen Einzug zu halten. So war auch Dr. Adlon abgereist – gleich noch am Tage ihrer Rückkehr in den »Hirschen« – und gestern war mit dem Gros der Hausgenossen auch der Leutnant Bencken abgezogen. Frau Jutta war eigentlich ganz vereinsamt, was hielt sie nur noch hier?

Hundertmal schon hatte es sich Holten gefragt, wenn er so, wie eben wieder, in seinen Mantel gehüllt, den Lodenhut tief ins Gesicht gezogen, im strömenden Regen die winkligen Gäßchen des Orts entlang durch den aufgeweichten Boden watete – man konnte doch nicht ewig in der Wirtsstube hocken! – Was mochte sie hier halten?

Holten hatte mit Frau Jutta seit der Rückkehr von jener mißlungenen Tour nur ein paar gleichgültige Worte gewechselt. Er wollte ihr nicht nachgeben, und sie offenbar ebensowenig. So hatte sie denn bei Tisch sich fast ausschließlich mit den paar anderen noch zurückgebliebenen Gästen unterhalten, wenn sie sich überhaupt unterhielt; aber sie verhielt sich zumeist schweigend, ähnlich wie Holten. Und doch hatte dieser ab und zu bemerkt, daß ihr Blick zu ihm hinfuhr, wenn sie sich unbeobachtet von ihm wähnte, in geheimem Zorn und doch fast mit dem Wunsche, daß er den Anfang machen möchte. Sie erwünschte also insgeheim doch wieder seine Annäherung? Ob es ihr ging wie ihm? Ob auch sie das Gefühl beherrschte, daß der Kampf zwischen ihnen, einmal angefangen, nun auch zu Ende geführt werden mußte? Daß ein Gefühl stark treibender Ungeduld und Unbefriedigung sie wie ihn ausfüllte, daß dieses Ringen ohne Ergebnis plötzlich abgebrochen war – gerade nach einem Augenblick hoher Spannung, der sie beide in Erregung versetzt hatte?

Immer wieder und wieder mußte Holten an jenen Augenblick denken. Ein geheimes Verlangen durchglühte ihn, noch einmal einen solchen Augenblick mit ihr zu durchleben, noch einmal, auch körperlich, ihre Kräfte zu messen. Wie wonnig das gewesen war, wie sich dieser stolze, herrliche Frauenleib aufgebäumt hatte gegen seine überlegene Manneskraft. Und dazu dieser flammende Blick aus den grüngrauen Nixenaugen, aus denen es im tiefsten Grunde doch wie ein verborgenes Sehnen aufgeleuchtet hatte.

Törichtes Verlangen, aussichtslos, aber doch so unwiderstehlich, daß Holten nun schon zum fünften Male den Weg vom »Hirschen« bis zur Dépendance drinnen im Dorf hin und her gewandelt war. Er schämte sich es vor sich selbst einzugestehen, es geschah nur in der stillen Hoffnung, ihr zu begegnen, sie ging ja vielleicht zur Kaffeezeit in den »Hirschen« hinüber. Wie ein verliebter Sekundaner. Es war doch wirklich ein Skandal. Nein, er wollte auch nicht mehr. Und voller Ingrimm über sich selbst zwang er sich mit einem Ruck, über ihr Haus hinaus weiter durchs Dorf zu gehen, nach der Ache zu, aber dabei quälte ihn nun wieder der Gedanke, daß sie sicherlich nun gerade des Wegs gekommen sein würde. Er bezwang sich jedoch und kehrte erst nach einem halbstündigen Wege im Bogen durch das Lärchengehölz am Fischbach ins Dorf zurück.

Verdrossen schritt Holten durch das Wäldchen hin, da sah er plötzlich durch die Stämme hindurch auf einem Seitenpfade eine weibliche Gestalt gehen, in hellgrauer langer Lodenpelerine, die Kapuze über den Kopf geschlagen, wahrhaftig, Frau Jutta. Auch sie hatte sich hier Bewegung gemacht. Das Gehölz unmittelbar am Dorfe, mit seinem gewissen Schutz gegen den Regen, war ja schließlich auch der gegebene Ort dafür.

Helle Freude klärte sofort Holtens Züge auf, und eilends schritt er durch die Bäume zu ihr hinüber. Nun war er hinter ihr, aber sie hatte ihn noch immer nicht bemerkt. Auf ihren Spuren folgte er ihr, im vollsten Sinne des Worts; die Abdrücke ihrer Füße zeichneten sich in dem weichen Boden des Wegs deutlich vor ihm ab. Ein Gedicht seines Lieblingspoeten fiel ihm plötzlich ein – lange hatten sich übrigens seine Gedanken nicht mehr mit ihm beschäftigt: »Stapfen!« Aus den Spuren des zierlichen kleinen Fußes erwuchs ihm das Bild der ganzen lockenden Frauengestalt, deren feine, schmiegsame Formen jetzt bei ihr da vorn der weite Umhang neidisch verhüllte. Aber er ahnte, er wußte ja jetzt, was diese Hülle verbarg – seit jenem Augenblick droben in der Bergschlucht.

Nun war er neben ihr; sein Tritt mußte auf dem weichen Boden unhörbar gewesen sein, denn sie fuhr überrascht zusammen, wie er nun, den Hut ziehend, plötzlich an ihrer Seite stand.

»Verzeihung! Ich habe Sie erschreckt, gnädige Frau.«

»Woher tauchen Sie denn hier mit einem Male auf?«

»Ich komme drüben von der Ache« – er wies hinter sich – »und plötzlich sah ich Sie zu meiner Freude vor mir. Nehmen Sie meine Begleitung an?«

Aus seinen Augen leuchtete der Wunsch, der ihn schon seit Tagen erfüllte. Sie las es mit geheimer Freude: Aha, also endlich kam er ihr doch. Und liebenswürdiger als sonst erwiderte sie:

»Gern – man leidet ja jetzt wirklich nicht an einem Übermaß von Zerstreuung hier.«

»Weiß Gott, es ist zum Auswachsen!« schalt Holten. »Das einzige Vergnügen ist noch, im Regen auf der Chaussee herumzulaufen, aber selbst das verliert an Reiz, wenn man es drei Tage lang genossen hat. Was fangen Sie denn eigentlich den ganzen Tag lang an, gnädige Frau?« Und er sah ihr unter die Kapuze, wo ihn aus dem Halbdunkel ihre Augen mit lächelndem, übermütigem Ausdruck anglänzten.

»Ich sitze zu Hause.«

»Allein?«

»Sie sind kostbar! Hier, in Längenfeld!«

»Ja, was machen Sie denn aber da in aller Welt?«

»So neugierig?«

»Wahrhaftig, ja!« bekannte er offen. »Ich kann Sie mir wirklich nicht im tête-à-tête mit sich selbst vorstellen.«

»Aber warum? Ich bin doch dann, wie Sie zugeben werden, in bester Gesellschaft?« Kokett sah sie zu ihm auf. »Was soll mir also fehlen?«

»Der unumgängliche Mann.«

»O, Sie sind dreist, mein Verehrtester.«

»Nur aufrichtig.«

Sie blieb stehen.

»Im Ernst, glauben Sie wirklich, daß mir der Umgang mit Männern ein Lebensbedürfnis sei?«

»Ja – weil Ihnen Herrschen ein solches ist!« Fest erwiderte er ihren Blick.

»Man kann doch auch über Frauen herrschen,« warf sie ein und schritt weiter.

»Das ist nur ein Surrogat. Zur vollen Befriedigung des Herrschertriebs gehört bei der Frau die Unterwerfung des Mannes. Wollen Sie es leugnen?«

Frau Jutta überhörte die Frage. »Sie halten demnach die Beziehungen zwischen den Geschlechtern für einen Kriegszustand?« fragte sie ihrerseits.

»Unzweifelhaft.« Es reizte ihn, mit dieser Frau ganz rückhaltlos zu sprechen. »Wenigstens bei Vollnaturen. Das ist ein ewiges Anziehen und Abstoßen, ein Kämpfen mit sich und dem anderen – natürlich je nach dem Grade dieser Beziehungen.«

»Sie übertragen Ihr spezifisch männliches Empfinden sehr willkürlich auf die Frau, Verehrtester,« spöttelte Frau Jutta.

»O, ganz und gar nicht!« Er suchte ihren Blick. »Natürlich gibt es Frauen, die vollkommen gleichgültig gegen den Mann sind; ebenso wie umgekehrt Männer. Aber ich sage es noch einmal, das Vollweib kann sich diesem Naturgesetz, dieser gegenseitigen Anziehung ebensowenig entziehen wie der Mann.« Sein Auge forschte nach dem geheimen Ausdruck des ihren. Aber sie sah mit gezwungener Gleichgültigkeit vor sich hin. Sie waren inzwischen an den ersten Häusern des Dorfes angelangt, neugierig gaffte manch Auge von der Haustür oder hinterm Fenster her nach ihnen hin.

»Wir dürften am Ende unseres Disputs sein.« Sie winkte leicht nach ein paar Frauen hin, wenige Schritt von ihnen im offenen Hausflur. »Was nun? Gehn wir heim, ein jeglicher in sein Kämmerlein und machen ein Nachmittagsschläfchen?«

»Sie scherzen!« Das Geplänkel mit ihr hatte ihn von neuem gereizt. »Gewähren Sie mir noch weiter Audienz!«

Sie sah schweigend zu ihm hin, mit einem halb triumphierenden, halb forschenden Blick, der ihm das Blut noch heißer wallen machte. »Soll ich einmal gnädig sein?« fragte selbstbewußt kühl und doch kokett herausfordernd dieser Blick.

»Ja sagen!« forderte er drängend, und seine Augen brannten auf.

Ein leises Lächeln spielte um ihren Mund. »Wo?« fragte sie und sah ihn neckend an.

Er sann ungeduldig nach. »Gehen wir in den ›Hirschen‹ – vielleicht nach oben in den Saal?«

»Da übt jetzt Fräulein Hedwig Klavier.« Eine kleine Grausamkeit lag in ihrem Lächeln; es machte ihr Freude, ihn so an der Angel zappeln zu sehen.

»So kehren wir wieder um – ins Wäldchen,« schlug er vor.

»Danke! Ich bin naß genug geworden.« Und sie schüttelte das Wasser von ihrer Pelerine.

»Also dann lassen wir's ganz sein!« Zornig stieß er weitergehend den Stock in den Boden. Sie wollte ihn offenbar ja nur zum besten haben. Daß er erst so dumm war, sich von ihr einfangen zu lassen! Ein Weilchen schritt sie schweigend neben ihm; sie weidete sich leuchtenden Auges an seinem Ärger, aber sie wärmte sich zugleich wohlig an dem Feuer seiner Leidenschaft, das da bei dem so lange Widerstrebenden plötzlich auflodernd hindurchbrach.

»Wollen Sie den Tee bei mir nehmen?« klang ihm plötzlich ihre Frage unvermittelt ins Ohr.

Er fuhr auf in seiner Überraschung. War das wirklich wahr? Doch sie sah ihn wahrhaftig ganz ernsthaft an.

»Aber natürlich, mit tausend Dank! Das ist ja eine großartige Idee!«

Und ungeduldig schlug er, die Führung nehmend, den Weg zur Dépendance ein.

 


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