Paul Grabein
Das stille Leuchten
Paul Grabein

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II.

Holten hatte den Weg aus dem Westen in den südlichen Stadtteil, wo er aus dem Adreßbuch Ruths Wohnung festgestellt hatte, zu Fuß zurückgelegt, dem gewundenen Lauf des Landwehrkanals folgend. Er liebte diesen, für weltstädtische Verhältnisse stillen Weg, die Promenade, unter den schattigen alten Bäumen, die jetzt im bunten Kleide des Spätherbstes prangten. Auf dem schwarzen, schwerflüssigen Wasserspiegel drunten schwamm schon manches gelbe Blatt, aber noch ließ der warme leuchtende Himmel den Gedanken an das große Sterben nicht aufkommen.

Vor dem frisch dahinschreitenden, aber doch all die feinen Stimmungsreize des anmutigen Stadtbildes aufmerksam in sich aufnehmenden Fußgänger tauchte jetzt bei der letzten Biegung des Kanals die Brücke am Halleschen Tor mit ihren weißen Marmorstatuen und die massigen Monumentalgebäude zur Linken auf, die Wahrzeichen der neuen Gegend, in die er hier eintrat. Er kam nur selten in dieses Viertel, nur wenn er einmal die Gräber der Seinen draußen auf den Friedhöfen an der Hasenheide aufsuchte, und jedesmal von neuem hatte er dann das Gefühl, daß er hier gewissermaßen in eine Stadt für sich, in seine Vaterstadt eintrat. In der Tat sah es auch äußerlich so aus, wenn sich – wie jetzt wieder – seinem Auge der schmale, torwegförmige Zugang zur Blücherstraße darbot, rechts und links von den Mauern der dieses Viertel begrenzenden Häuserreihen flankiert. Da flog der Blick durch den Zugang hinein in diesen Stadtteil, der seine Kindheit und Jugend gesehen und daher mit ihm innerlich verwachsen war – über den Platz am Johannestisch, den jetzt die prächtige Heiligkreuzkirche mit rotgolden in den Abendhimmel leuchtendem Spitzturm friedvoll schirmte, anstatt der schmucklosen Kapelle, die ihn einst als Kind allsonntäglich mit traulichem Glockenruf geladen hatte. Verklärt vom warmen Goldhauch der Herbstsonne lag das altvertraute Bild vor ihm, weithin konnte er die Perspektiven der Straße bis fern zum blauen Himmel hin verfolgen, den Weg den sein Fuß vieltausendmal gewandelt war, zur Schule und später zur Universität.

Es mochte an der weichen Stimmung liegen, die Holten heute beherrschte, jedenfalls fühlte er sich diesmal ganz besonders bewegt von dem Anblick dieser Stätten seiner Jugend, und unwillkürlich bog er an der Kirche links ab, den kleinen Umweg nach der Stelle zu machen, wo sein Vaterhaus gestanden hatte. Mit verlangsamten Schritten ging er nun durch die abgelegenen kleinen Straßen, die Blicke um sich schickend. Äußerlich noch das alte Bild, die grauen, schmucklosen Häuser, fast alle noch dieselben wie zu seiner Zeit, nur drei Jahrzehnte älter und etwas grauer geworden. Er kannte jedes einzelne von ihnen, knüpften sich doch an jedes hundertfältige Erinnerungen. Hier gleich rechts die drei – im Volksmund der Gegend hießen sie die »Volkmännschen« – genossen damals eines üblen Rufes. Allerhand kleine Leute, ja lichtscheues Gesindel hatte dazumal dort seinen Unterschlupf, und er und seine Kameraden hatten mit dem schulpflichtigen Nachwuchs dieses dunklen Geschlechts, den verrufenen »Volkmännschen«, manch abenteuerlichen Strauß zu bestehen gehabt. Es war ihm immer etwas beklommen zumute gewesen, wenn er sich einmal allein an diesen dunkel gähnenden Torfluren hatte vorbeischleichen müssen, wie etwa einst zur Zeit des Faustrechts dem Kaufmann, der auf entlegener Landstraße an einem verrufenen Raubnest vorüber mußte. Wie dicht umsponnen von üppiger Romantik war überhaupt doch diese Knabenzeit gewesen! Da drüben hatte der erste Freund seiner Jugendtage gewohnt – wo mochte er heute weilen? – und hier im Laden, den damals, ein »Modesalon« eingenommen hatte, das blonde langzöpfige Mädel mit dem stolzen Gang, das der Gegenstand seines ersten Schwärmens, seiner ersten Verse gewesen war. »Von meiner Laute Saiten, soll dann so süß es gleiten, wie Nachtigallenschlag am Sängergrab.« Noch summten ihm die närrischen anphantasierten Verse im Ohr. Glückliche, selige Jugendzeit!

Und da war nun vor ihm die Stätte, wo das Elternhaus gestanden hatte. Vor dem ernstsinnenden Blick stand es plötzlich wieder da, das kleine, schmucklose Gebäude, das ihm doch so teuer gewesen war, mit seinem lauschigen Garten inmitten des ganzen, damals erst entstehenden Stadtviertels, eine kleine Welt für sich – seine eigenste Welt. Was hatte hier alles das Herz bewegt!

Wie im Flug zogen die Bilder an ihm vorüber: Das kleine, einfache Wohnstübchen, in das der goldene Abendstrahl flog, die Mutter mit ihren lieben Zügen unter schlicht gescheiteltem Haar am Fenster mit einem Brief, er selbst, ein kleines Kerlchen in den ersten Hosen, an der schwarzledernen Ottomane über ein Bild gebeugt, eine große gelbe Postkutsche – fernher gekommen – aus Frankreich, aus dem Kriegsgetümmel, vom lieben Vater mit dem Bleistiftgruß: Für meinen kleinen Schlingel! – Der üppig verwachsene Garten zwischen dem dichten Gesträuch ein Waldparadies für ihn und die spielende Schwester mit ihren Puppen und Wagen. Was wurde da alles im grünen Gedämmer geträumt und gefabelt! – Die Schuljahre mit ihrem ersten Stolz, mit den wechselreichen Schicksalen schwankender Freundschaften, dem Aufbäumen des heranreifenden Jünglings gegen pedantischen Zwang, und den Kämpfen gegen die eigene erwachende Wildheit. – Und dann andere Bilder, ernster, trauriger, unvergeßlicher Art: Die starren, wachsbleichen Züge der Mutter, aus denen das stete freundliche Lächeln gewichen war, auf dem Totenbett, an das der ahnungslose Zwölfjährige aus lachender Sommersonne von der Stachelbeerhecke weggeholt worden war. Da hatte ihn zum erstenmal unter eisigem Erschauern jene große dunkle Macht angepackt, die nachher noch so oft erbarmungslos in sein Leben gegriffen hatte. – Jene Nächte, wo der Heranreifende qualvoll mit seinem Gott rang: Laß mir den geliebten einzigen Vater nicht sterben! Nimm mein Leben für seines. – Aber der Vater starb, allzu früh und mit ihm der Gott, an den das junge Herz sich einst so heißblütig, vertrauensselig gehängt hatte. Er starb, wie später die Schwester, als sie dem kaum gewonnenen Gatten das erste Kind in den Arm gelegt hatte, und zuletzt die beiden, die ihm dann die einzigen auf der Welt gewesen waren. Vorüber alles, was einst mit ihm verbunden, was ihm teuer gewesen war – dahin auch dieses Haus, das seine Jugend und sein Kinderglück gesehen hatte. An seiner Stelle ragte jetzt ein hoher, vierstöckiger Bau, und darin hausten Menschen, die nicht ahnten, welchen geweihten Boden sie tagtäglich achtlos mit ihren Füßen traten.

Die zudringlich neugierigen Blicke des Menschen dort im Hausflur, die verwundert den Mann da im ernsten Sinnen vor dem Hause trafen, taten Holten weh, empörten ihn. Schnell wandte er sich ab und bog in die Querstraße ein, die ihn Ruths Wohnung zuführte. Torheit, daß er wieder einmal dem sentimentalen Verlangen nachgegeben hatte! Nun blieb die Bitterkeit und die Enttäuschung nicht aus. Man soll die Toten ruhen lassen. – –

Wenig später stand Holten vor dem Hause, wo Ruth wohnte. Es lag in der Nähe der Gemeindeschule, an der sie unterrichtete, eine richtige Mietskaserne wie alle Häuser hier in dieser Gegend, vor dem Hausflur, die ganze Straße entlang, Haufen von lärmenden Kindern. Auf seine Frage an einen der Kleinen, ein blasses, altkluges Geschöpf mit einem Säugling auf dem Arm, nach Fräulein Henning hatte er gleich die ganze, ihn neugierig angaffende Gesellschaft um sich.

»Jawohl – die wohnt drei Treppen links bei Frau Kuhlmann.«

Mit zwiespältigen Empfindungen stieg Holten die Treppen empor. Würde nicht etwa auch dieser Besuch ihm eine große Enttäuschung bringen? Galt nicht auch hier das Wort, das er sich vorhin zugerufen hatte: Nicht wieder zurückrufen wollen, was einmal dahin ist?

Aber da stand er schon vor der Flurtür. Richtig, neben dem Porzellanschild der Frau Kuhlmann steckte über dem Klingelzug eine Visitenkarte: Ruth Henning, städtische Lehrerin. Wie sonderbar ihn wieder dies erste Lebenszeichen von ihr berührte – in dieser ernsten beruflichen Kennzeichnung. Wie würde sie sich ausnehmen hier in dieser Umgebung, so ganz anders als damals, draußen in den freien Bergen – gewiß haftete ihr hier fühlbar der Bücherstaub, die Schulluft an. Schade, daß ihm nun das anmutige, frische Erinnerungsbild, das er von ihr bewahrt hatte, vielleicht grausam zerstört werden sollte. Am liebsten wäre er wieder umgekehrt, doch da schrillte schon sein Klingelruf durch das stille Haus.

Sofort ging nebenan auf dem Flur die Tür auf zur Nachbarwohnung und Holten fühlte, daß jemand ihn neugierig durch den dunklen Spalt musterte. Angewidert drehte er der Späherin den Rücken zu. Arme Ruth! mußte er dabei denken, daß sie, die feine, vornehme Natur, durch harten Lebenszwang dazu verdammt war, in dieser Kleinbürgeratmosphäre zu hausen.

Nunmehr aber schollen auch hinter der anderen Tür Schritte und in ihrem Rahmen erschien eine robuste Frau, sauber gekleidet, mit energischem, intelligentem Gesicht – offenbar Frau Kuhlmann in Person.

»Sie entschuldigen.« Holten lüftete den Hut leicht und griff dann nach seiner Brieftasche. »Ist Fräulein Henning wohl zu Hause? Bitte, melden Sie mich ihr doch.«

Frau Kuhlmann nahm und las die Karte vor seinen Augen; derartige Ankündigungszeremonien waren offenbar hier im Hause nicht geläufig.

»Doktor Holten,« vergewisserte sie sich mit einem etwas erstaunten, scharf kontrollierenden Blick auf den ungewöhnlichen Besucher. »Ich werde Fräulein fragen, ob sie zu sprechen ist.« Und schon fiel mißtrauisch wieder die Tür vor dem Fremden ins Schloß.

Holten wußte nicht, sollte er lachen oder sich ärgern. Es reizte ihn eigentlich mehr zu letzterem, zumal wenn er daran dachte, daß da immer noch die Nachbarin hinter der Türspalte lauerte. Aber da hörte er plötzlich einen leichten Schritt drinnen, und schon flog die Tür auf: Ruth stand auf der Schwelle.

»Herr Doktor – wirklich Sie? Nein, was für eine Freude!«

Nun stand Holten bei ihr im Zimmer drinnen, einem einfach möblierten Stübchen, aber sehr freundlich und anheimelnd durch die vielen, wohl aus dem Nachlaß der Eltern herübergenommenen eigenen Schmuck- und Erinnerungsgegenstände ringsum. In der Ecke verdeckte ein hoher japanischer Schirm mit schöner, aber schon etwas verschlissener Goldstickerei – gewiß einst ein Prunkstück im Salon ihrer toten Mutter – das Bett. Im hellen Licht des Fensters sah Holten sich jetzt ihr gegenüber, und ein geheimes Gott sei Dank! entrang sich ihm. Es war doch gar nichts Gouvernantenhaftes an ihr. Sie sah aus wie damals in den Bergen, nur daß das feine, anmutige Gesicht in der Großstadtluft ein wenig zarter geworden war und jetzt ein dunkles Tuchkleid statt des sommerlichen Wanderkostüms ihre schlanke Gestalt umschloß. Mit aufrichtiger Freude drückte ihr Holten noch einmal die Hand.

»Nun sehe ich Sie also wirklich wieder. Sie haben wohl schon geglaubt, ich hätte Sie ganz vergessen.«

Ruth lächelte. »Mitunter – ja.«

»Das dürfen Sie nicht!« verteidigte er sich warm. »In meinen Gedanken war ich so manchmal bei Ihnen.«

»Und Sie kamen doch nicht?«

»Sie werden sich den Grund selber gesagt haben.« Holten wurde ernst. »Aber nun ist das vorbei. Ich kann ruhig über alles sprechen, und nun müssen Sie mir viel, viel erzählen, Fräulein Henning.«

»Gern – aber wollen wir uns nicht endlich setzen?«

Sie wies einladend auf einen Stuhl am Fenster, wo ein gemütliches Plauder- und Arbeitsplätzchen eingerichtet war und wollte die dort auf dem Luthertisch liegende Handarbeit, die sie bei seiner Anmeldung schnell hingeworfen hatte, wegräumen.

»Bitte, lassen Sie doch!« bat er aber. »Wenn Sie mir überhaupt eine große Freude machen wollen, so arbeiten Sie ruhig weiter. Ich finde, es plaudert sich so nett dabei.«

»Ja, wirklich?« lachte sie und nahm ungezwungen die zierliche Stickerei wieder zur Hand, sich ihm gegenüber auf dem leichten Sesselchen niederlassend. »Aber nun sagen Sie doch vor allen Dingen: Wie ist es Ihnen inzwischen ergangen?« Ihre klaren Augen ruhten einen Augenblick prüfend auf seinem Antlitz.

»Sie finden, daß ich alt geworden bin,« sagte Holten. »Bitte, genieren Sie sich nicht – ich bin doch kein junges Mädchen.« Er lächelte, aber doch mit einer gewissen Resignation.

»Wenn ich ganz offen sein soll – Sie sahen allerdings damals in Berchtesgaden jugendlicher aus.«

»Kann Sie das wundern?« fragte Holten mit ernsten Blick. »So ganz spurlos geht doch so etwas schließlich nicht an einem vorüber. Aber, wie ich Ihnen schon sagte, Fräulein Henning, – es ist jetzt überwunden. Doch nun lassen Sie uns, bitte, nicht länger Versteck spielen. Wie geht es Fränzl? Wie hat sie es ertragen?«

Sein Herz klopfte nun doch rascher, als er den Namen wieder aussprach – zum erstenmal seit mehr denn Jahresfrist.

Ruth ließ die Hände mit der Arbeit sinken; ein Weilchen zögerte sie mit der Antwort, nun aber sah sie ihn voll an.

»Sie brauchen sich ihretwegen keine Sorgen mehr zu machen, Herr Doktor,« erwiderte sie ernst. »Auch Fränzl hat überwunden.«

»Gott sei Dank!« Holten atmete erleichtert auf. Und doch – eine Wehmut stieg im gleichen Augenblick in ihm auf: So hatte er also aufgehört, in ihrem Leben etwas zu sein! »Waren Sie auch in diesem Jahr wieder bei ihr in Berchtesgaden?«

Ruth nickte. »Ich fand sie gesund und blühend vor, äußerlich ganz wieder die Alte. Nur ein wenig ernster geworden.«

Ein Gefühl der Genugtuung durchzuckte ihn; aber gleich darauf schämte er sich der egoistischen Regung. »Das schmerzt mich zu hören. Ihr Frohsinn war ja die glücklichste ihrer Gaben.«

»O, sie hat das Lachen nicht verlernt,« beruhigte ihn Ruth. »Wenn es darauf ankommt, kann sie genau so ausgelassen sein wie früher – nur im allgemeinen ist sie eben etwas reifer geworden. Und es wäre ja auch ein schlimmes Zeichen für sie, wollte es anders sein.«

»Sie haben recht,« nickte er. »Das Leben muß sein Werk auch an ihr tun. Nur schade, daß nicht wenigstens ein paar Jahre der völligen Harmlosigkeit ihr vergönnt waren. – Sagen Sie, bitte, Fräulein Henning, hat sie sich einmal zu Ihnen ausgesprochen, hat sie meinen Namen einmal erwähnt? Vermag sie meiner jetzt ohne Groll zu gedenken?« Erwartungsvoll hingen seine Blicke an Ruths Lippen.

»Sie trägt Ihnen nichts mehr nach – ich weiß es aus ihrem eigenen Munde. Sie hat inzwischen gelernt, daß Sie nicht anders handeln konnten, daß es für Sie beide so das beste war, und Sie gedenkt Ihrer mit aufrichtigem Mitleid.«

»Mitleid!«

»Verzeihung,« bat Ruth, indem ein zartes Rot in ihrem feinen Gesicht aufstieg. »Ich wollte Ihnen nicht weh tun. Es war vielleicht nicht das richtige Wort. Fränzl denkt an Sie, wie an einen verlorenen Freund, der ihr einmal sehr teuer gewesen ist, und trotz des Schmerzes, den Sie ihr zugefügt haben, möchte sie dieses Begebnis ihres Lebens nicht missen. Das, was sie in jenen Stunden empfunden – das Leben kann es ihr nicht zum zweitenmal bieten. Das sind ihre eigenen Worte. Ich glaube, ich tue kein Unrecht, wenn ich es Ihnen wieder sage, Herr Doktor.«

Holten war in innerster Bewegung aufgestanden und griff nach Ruths Hand, die er mit festem Druck umspannte.

»Ich danke Ihnen, Fräulein Henning, aus tiefstem Herzen! In dieser Stunde haben Sie mir die letzte Bitterkeit aus der Seele genommen. Nun kann ich wirklich ungetrübt an Fränzl zurückdenken, an jene selige Sommerszeit – die mir auf ewig unvergeßlich sein wird. Wenn Sie einmal an Fränzl schreiben, Fräulein Henning, bitte, so sagen Sie ihr das, ja?«

Ruth nickte stumm, aber ohne ihn anzusehen, den Kopf wieder über ihre Arbeit gebeugt. So sah er, über ihr stehend, nicht, wie ihr Gesicht im Moment blaß geworden war.

Holten hatte seinen Platz wieder eingenommen. »Aber ich habe wahrhaftig noch gar nicht einmal gefragt, wie es Ihnen solange gegangen ist? Verzeihung, aber es war wirklich nicht Interesselosigkeit.«

Um Ruths Lippen zuckte es leicht. »Von mir? – Von mir ist nicht viel zu berichten – bei meinem Stilleben. Mir ist's gut gegangen. Aber Sie sind mir noch immer die Antwort auf dieselbe Frage schuldig.«

»Wenn Sie es hören wollen,« und Holten begann zu erzählen, was mit ihm seit ihrer Trennung vor sich gegangen war. Still hörte Ruth zu. Die Augen von ihrer Stickerei nicht erhebend; aber er fühlte doch, wie sie mit innerstem Interesse ihm lauschte, und es tat ihm unendlich wohl, sich so vom Herzen lossprechen zu können, was dort so lange gelastet hatte. Auch er sah sie nicht an, während er sprach, sondern seine Augen hefteten sich unwillkürlich auf ihre schlanken, weißen Hände, die mit leichten Bewegungen unaufhörlich Stich um Stich in das Deckchen fügten. Es war, als ob eine wohltätige Ruhe aus dem Rhythmus dieser immer wiederkehrenden gleichmäßigen Bewegung auch auf ihn selber überströmte. Und unwillkürlich flog ihn eine Erinnerung an: Er sah sich als Kind in frühester Jugend auf seinem Schemelchen zu Füßen der Mutter sitzen, deren fleißige Hände sich auch so anheimelnd ruhig bewegt hatten. Nie wieder hatte ihn seitdem die Gegenwart einer Frau mit einem solch stillen Frieden erfüllt. Von diesem Empfinden ganz beherrscht, verstummte er plötzlich mitten in seiner Rede.

Überrascht blickte Ruth auf und bemerkte den unablässig auf ihre Hände gerichteten Blick.

»Was sehen Sie mir denn so auf die Hände?« Etwas verwirrt versteckte sie unwillkürlich die Hände in dem Deckchen.

»Bitte, arbeiten Sie weiter,« bat er, aber mit einem offenen, sehr warmen Blick. »Sie glauben nicht, wie wohl mir diese stille, ruhevolle Tätigkeit tut. Sie verbreiten solchen Hauch von Frieden um sich, Fräulein Henning.«

Wieder stieg ein leises Rot in ihr Gesicht, und etwas schneller, unsicher führten die schlanken Finger die Nadel. »Erzählen Sie doch weiter,« mahnte sie leise.

Und Holten sprach von neuem. Es wurde eine rechte Herzensbeichte. Er rechnete mit sich selber noch einmal ab in dieser Stunde, und in dem Bewußtsein, zu einer Vertrauten zu reden, enthüllte er alles, was ihn bewegt hatte, seitdem sie damals Abschied genommen, auch das unstäte, irre Flattern seiner Seele in jener Zeit schmerzlicher Zerrissenheit, wie er aber dann seinen inneren Halt wiedergefunden hatte und nun gefestigt, aber in freudloser Einsamkeit dahinlebe.

»Und so kam ich zu Ihnen, Fräulein Henning,« schloß er. »Ich gestehe es Ihnen ganz offen: Es war der Wunsch, von Fränzl zu hören – aber doch nicht der allein. Ich sehnte mich vielleicht noch mehr danach, einmal wieder – endlich – eine Menschenseele zu haben, zu der ich mich aussprechen konnte. Und dafür danke ich Ihnen nun von ganzem Herzen, liebes Fräulein Henning.« Er war aufgestanden, sich von ihr zu verabschieden. »Sie ahnen nicht, wie unendlich wohl mir diese Stunde getan hat. Jetzt ist mir wieder so leicht und frisch ums Herz wie seit langem nicht. Wie ich vorhin zu Ihnen ging – ich bin in diesem Stadtteil groß geworden – – da stiegen so lockend alte, liebe Bilder aus der Jugendzeit vor mir auf, doch leider, die unbarmherzige Wirklichkeit verscheuchte sie mir alsbald wieder. Aber nun war der Gang doch nicht umsonst. Hier, in dieser Stunde eben bei Ihnen, Fräulein Henning, da hatte ich ein echtes Heimatsgefühl, das nicht trog. Verzeihen Sie mir meine Offenheit, meine Zudringlichkeit – aber ich muß es Sie fragen: Würden Sie mir erlauben, gelegentlich einmal wiederzukommen, um mir von neuem bei Ihnen Frieden und ein bißchen Freude zu holen?«

Bittend streckte Holten ihr die Hand hin. Einen Augenblick schwieg Ruth unschlüssig. Sie dachte daran, daß es im Grunde doch unschicklich war, daß zu ihr, dem alleinstehenden Mädchen, der fremde Mann zu Besuch kam. Was sollte ihre Wirtin, die Leute im Hause davon denken? Dann aber tönte ihr seine aus tiefstem Herzen kommende Bitte im Ohr. Sie fühlte es, sie konnte einem schwer vom Leben Enttäuschten einen wirklichen Dienst tun, und – daß sie ehrlich gegen sich selbst war – es war doch auch bei ihr drinnen ein warmes, frohes Gefühl, daß sie imstande war, einem Menschen, den sie schätzte, etwas zu sein. Warum sollte sie das alles zerstören, bloß um des Geredes der Leute willen, der fremden Menschen, denen sie nichts war und die ihr nichts gaben? War es nicht eigentlich eine kleinliche, ängstliche Schwäche, ihrer unwürdig? Denn für sie selbst fürchtete sie doch wahrhaftig nicht, und Holten war ein Mann, der auch seinerseits niemals die Situation falsch verstanden oder gar gemißbraucht hätte. Und zu guter Letzt fiel ihr ein, wie vertraut sie damals in den Bergen zusammen herumgestreift waren, doch auch manchmal ganz allein, ohne Beisein einer Menschenseele – und da hatte niemand etwas daran auszusetzen gefunden. War es da nicht wirklich eine lächerliche Inkonsequenz, jetzt plötzlich die Prüde zu spielen? War sie denn schließlich nicht ein selbständiger Mensch in ernsthafter Position, die sie vor jedem unwürdigen Verdacht schützte? Wahrhaftig doch! Und so antwortete sie denn, ihre Hand in die seine legend:

»Ja – kommen Sie wieder, Herr Doktor. Es soll mich aufrichtig freuen, wenn ich Ihnen ein wenig nützen kann. – Auf Wiedersehen also!«

 


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