Paul Grabein
Das stille Leuchten
Paul Grabein

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II.

Langhin streckte sich drunten das Tal, ein weiter, grüner Plan, jetzt in die satten Töne des Herbstes getaucht, umfangen von den massigen Felswänden, die Tausende von Fuß steil hinaufstürmten. Hoch oben über der Grenze, wo die letzten Tannen krochen und die Almenmatten sich an den Hängen des kahlen Gesteins festklammerten, schimmerten die abenteuerlich zerrissenen Zacken und Hörner des Wilden Hauergebietes im ewigen Eis und Schnee. Wie die wehenden Schleier »seliger Fräulein« schwebten ihre silberweißen, zarten Konturen geisterhaft im blassen Dämmerblau des Abendhimmels.

Die Augen auf die fernen Höhen gerichtet, saß Holten in Sinnen verloren. Er war nachmittags hier auf den Burgstein heraufgestiegen, den smaragdgrünen Thronsessel, auf dem der das Tal beherrschende Gamskogel sich niedergelassen, der mit senkrechtem, schwindelndem Felsenabsturz jäh aus der Ebene aufsteigt. In seinem Schutz drunten lag das Dorf, malerische Holzhäuser auf grünem Wiesenplan, und leise wehte der Klang der Vesperglocke herauf.

Das war die stille Stunde, wo seine Gedanken einst ihren Flug zu nehmen pflegten – rückwärts, in die Ferne. Wo aus dämmernden Weiten eine lichte, freundliche Gestalt vor seinen Augen schwebte – ein blasses Gesichtchen, das ihn aus dunklen Augen so traurig-süß anschaute, die zarten ungeküßten Lippen fest verschlossen von tiefem Weh.

Monate waren verflossen seit jener Abschiedsstunde dereinst im Berchtesgadener Land, Monate, in denen Holten rastlos das Hochgebirge durchstreift hatte, ein einsamer, menschenscheuer Wanderer, der sich fern hielt vom Touristenstrom und nur in Begleitung eines alten, schweigsamen Führers entlegene Täler und Gipfel aufsuchte. Monate. Des jungen Sommers blühende Pracht war inzwischen dem reifen Herbst gewichen. Die Almen waren verödet, Nachtfröste und Schneefälle hatten Menschen und Tiere bereits zu Tal getrieben in die warmen Winterquartiere – da war's Zeit, daß auch der weltflüchtige Wanderer seinen Weg aus einsamen Höhen zu den Hütten der Menschen zurückfand. So war Holten nach Längenfeld gekommen – seine letzte Tour hatte ihn aus dem Schnalser Tal über das Hochjoch nach Vent geführt – und hier wollte er nun noch den Schluß seiner Urlaubszeit verbringen.

Da war er also nun wieder unter Menschen, zurückgekehrt ins Leben, dem er voll Überdruß entflohen war. Aber wie war er zurückgekehrt! Er kannte sich mitunter selber nicht mehr, so sehr war er ein anderer geworden, seit jener Stunde, wo ihm die kaum wieder zum Leben erwachten Hoffnungen von neuem erbarmungslos zertreten worden waren. Der Riß, der damals durch seine Seele gegangen war, wollte nicht wieder heilen. Mit kalt verächtlichem Lächeln sah er ins Leben: Was sollte eigentlich diese ganze Komödie? Wozu alles Streben und Schaffen, Sichmeistern, Entsagen, wenn doch das Ziel nicht zu erreichen war, um das sich das alles noch gelohnt hätte – das persönliche Glück. Wo man doch bloß ein ohnmächtiger Spielball war in der Hand eines launenhaften, brutalen Fatums, war es da nicht eine Narrheit, noch mit Bewußtsein die verlogene Rolle des »Herrn der Schöpfung«, des sich selbstbestimmenden Menschen spielen zu wollen? Wozu all der überflüssige sittliche Kraftaufwand? Das einzig Vernünftige war, sich von den Wogen treiben zu lassen, mit unbedenklicher Faust zu ergreifen, was der Zufall bot, und sich nach Kräften zu erraffen, was Genuß verschaffte – sich im Rausch des Lebens Vergessen zu trinken von allen zertrümmerten Hoffnungen und Wünschen. – – –

 

Langsam glitten Holtens Blicke von den Höhen droben nieder zu Tal, zu den Wohnstätten zu seinen Füßen: Feierglockenklang und behagliches Rauchgekräusel über jedem Dach drunten – auf dem Herd kochte das Abendsüpplein – Anzeichen friedlichen, freundlichen Hausens. Und doch, sein Blick suchte drunten das stattliche Haus des »Hirschen«, wie anders schaute es wohl aus, wenn man hineinsah in die Wohnstätten. Wo Menschen, da auch Unfriede, Streit, Mißgunst – er mußte an den Vorfall heute Mittag denken; mit dem Bild des alten verbitterten Sonderlings stiegen auch die Gestalten der anderen Tischgenossen vor ihm auf – da war auch plötzlich sie, die schlangenhaft schmiegsame Frau mit dem Rothaar und den spöttisch gleißenden Augen.

Wo hatte er doch nur dieses blasse Gesicht mit den umschatteten Augen schon gesehen, dieses leuchtende Rotblond und den dämonischen Blick? Richtig, jetzt fiel es ihm ein – vor Jahren einmal, in Berlin, auf der Kunstausstellung, auf einem viel bewunderten Bilde. Da stand dieses Weib in prangender, nackter Schönheit, und um den weißen Leib wand sich eine dunkelprächtig schillernde Schlange, den Kopf mit den grüngleißenden Augen lauernd über die blendende Schulter des verführerischen Weibes gereckt – es hieß: »Die Sünde.«

Die Sünde! Holten sann weiter. Was hatte er doch von dieser Jutta Salome alles gelesen? Wie er sich jetzt daraufhin prüfte, mußte er sich gestehen, im Grunde nicht viel – ein paar Novellen, durchtränkt von einem beißenden Spott und Zweifel, der vor dem Heiligsten selbst nicht halt machte, der unbarmherzig die innere Verkommenheit der modernen Großstadtgesellschaft geißelte. Und einige Gedichte – richtig – darunter eines, ein längeres, episches, das damals beim Lesen ihn unwillkürlich in seinen Bann gezwungen hatte: Die Geschichte einer Frau, die mit blinder Mädchenliebe sich einem vergötterten Manne zu eigen gegeben, die dann aber, von ihm betrogen, seelisch mißhandelt und elend gemacht, zur glühenden Hasserin und Verächterin dieses Mannes wie seines gesamten Geschlechts geworden war und wie eine Würgerin dieses Geschlecht durch ihre Verführungskünste vernichtete.

Sonderbare Frau! Wie er sie nun heute von Angesicht schaute, schien es Holten beinahe selbstverständlich, daß ein Stück von dieser dämonischen Heldin in der Dichterin selber steckte, ja, daß sie vielleicht sogar in diesem Gedicht die Geschichte ihrer eigenen unglücklichen Ehe geschrieben habe. Der Gedanke setzte sich immer fester in ihm. Auch schon die Wahl ihres Dichternamens: Salome! Klang nicht auch hieraus schon der heiße Rachedurst, die dämonische Grausamkeit der Frau, die nach dem Blut des Mannes lechzt? – Und dann das Spiel, das sie mit dem jungen Maler trieb, wie ihm der Professor gesagt hatte, ebenso wahrscheinlich aber auch mit den anderen Verehrern drunten – wahrhaftig, es konnte einen wirklich reizen, dieser nachtdunklen Psyche nachzuspüren.

Unwillkürlich war Holten aufgestanden. Er hatte keine Augen mehr für die Reize des Tals, das sich in weiche Dämmerung hüllte; die stille Stunde der Andacht, die er im Abendschein hatte abhalten wollen, war ihm gestört. Die Seele, die so lange in selbstgewollter Einsamkeit um einen zerronnenen Traum von Glück und Jugend getrauert hatte, begann wieder die Fäden des Lebens zu umspinnen – des beutegierigen, lauernden, dem sich keiner für immer zu entziehen vermag.

 


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