Paul Grabein
Das stille Leuchten
Paul Grabein

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

III.

Ein grauer, naßkalter Regentag, nicht von der anheimelnden Winterstimmung, die lustig wirbelnde Flocken und eine weiße Schneehülle selbst in die Großstadt hineinzaubern können – so schaute heute der Weihnachtstag drein, und dennoch – sonderbar, gerade heute – war Holten viel weihnachtlicher zumute denn je zuvor. Mit einem stillen, behaglichen Lächeln schaute er die Leute an, die an ihm paketbeladen vorübereilten, heute alle von dem einen freundlichen Streben beseelt – Freude zu bereiten – wirklich ein Menschheits-Feiertag.

In den letzten Jahren hatte ihm vor diesem Tage stets geradezu gegraut. Mit seinem wunden, scheuen Herzen hatte er sich in seiner trostlosen Einsamkeit dann noch tiefer vergraben als sonst, daß nicht der Jubel, der durch alle Welt klang, sein Ohr traf und seine Seele in bitterem Schmerz aufwühlte. Wie anders aber diesmal. Ruth, die liebe, gütige, hatte ihn eingeladen, das Fest mit ihr zu feiern. Wie gern hatte er da Ja gesagt.

Ein so schönes, trauliches Verhältnis hatte sich im Laufe des Winters zwischen ihnen herausgebildet. Mehrmals in jeder Woche kamen sie in den Nachmittagsstunden zusammen, meist auf einem Spaziergang, oder, nachdem Frost eingetreten war, auf der Eisbahn. Stunden, auf die sich Holten stets tagelang vorher freute, die die Sonnenblicke seines Lebens ausmachten. Da schloß er sein Innerstes rückhaltlos auf und genoß, von mal zu mal mehr, die so lang entbehrte Freude, von einem anderen, ihm tief sympathischen Menschen in jedem Regen verstanden, mit warmer Teilnahme über seine persönlichen Angelegenheiten befragt und beraten zu werden. Und auf der anderen Seite kam auch Ruth vertrauensvoll mit allem zu ihm, was ihr am Herzen lag – es machte ihn so froh, ihr gelegentlich einmal einen dankenswerten Wink geben zu können in einer sie beschäftigenden Unterrichtsfrage, ihr mit seinem weiteren Wissen Unklarheiten und Zweifel zu benehmen. Und dazu sprachen sie sich aus über Bücher und Theaterstücke, die sie beide kennen gelernt hatten, über Bilder, die sie wohl auch gemeinschaftlich sich angesehen hatten. Es fehlte ihnen nie an Stoff zur Unterhaltung, und ihre Neigungen zeigten oft eine so wunderbare Übereinstimmung. Oftmals wußte lächelnd schon der eine von ihnen vorher, was der andere in der nächsten Minute sagen oder tun würde.

So hatten sich allmählich immer mehr starke innere Fäden zwischen ihnen geknüpft und die dann herankommende Weihnachtszeit hatte das ihre dazu getan. Jeder hatte sich eine Überraschung für den anderen ausgedacht, und es war ihnen eine herzliche Vorfreude, sich auszumalen, wie wohl die Gabe aufgenommen werden würde. Dann hatten sie auch gemeinschaftlich etwas vorbereitet, eine Bescherung für ein paar arme Kinder aus Ruths Schule, die im Nebenhaus wohnten und für die sie schon seit längerer Zeit sorgte, soweit ihr dies möglich war. Gern hatte sie Holten auf seine Bitte erlaubt, sich an dieser Bescherung zu beteiligen, und eifrig hatten sie so in den letzten Wochen mit manch feiner List geheime Wünsche aufgespürt, gemeinschaftlich in den Läden ausgesucht, und dann gestern mit Hilfe der Wirtin den Weihnachtsbaum geputzt.

Wie reizend gemütlich war dies geheimnisvolle Treiben gewesen, wie froh hatten sie dabei gescherzt und gelacht, manchmal selber harmlos vergnügt wie ein paar Kinder, daß selbst die ewig ernste Frau Kuhlmann gestern ein paarmal davon angesteckt worden war. Und wie schön sollte das nun erst heut gar werden!

In ungeduldiger Erwartung schritt Holten schneller vorwärts, seine Pakete sorglich von neuem an sich nehmend. Ach, da scholl ja plötzlich schon die eherne, weihevolle Glockenstimme an sein Ohr – die Stunde der Bescherung stand vor der Tür, und nun bog er auch in Ruths Straße ein.

Oben empfing ihn schon Frau Kuhlmann hinter der nur angelehnten Tür, heute im Feiertagskleid und Feiertagsstimmung.

»Fräulein wartet schon auf Sie, Herr Doktor,« flüsterte sie. »Die Kleinen sind auch schon da,« und sie deutete hinter sich, nach der Küche, wo jetzt ein paar Kinderköpfe erwartungsvoll um die Ecke lugten.

»Na, da melden Sie nur schleunigst, daß ich da bin,« mahnte Holten und legte schnell seine Pakete auf dem Flur ab.

Kaum war er dann aus dem Mantel, so gingen auch schon die beiden Flügel der Tür zu Ruths Stube auf, und im traulichen Lichterschein lag das Zimmer da. Der brennende Christbaum auf dem reich bedeckten Gabentisch und links am Piano Ruth, heute in einem hellen, festlichen Kleid.

Auf einen Wink Frau Kuhlmanns erschienen an der Hand ihrer Mütter nun die drei Kinder, zwei Mädchen und ein Junge, ärmlich aber sauber gekleidet, ebenso wie die Mütter, die nun mit vielen linkischen Knixen vor Holten und Ruth die Kinder mit sich ins Zimmer führten.

»Stille Nacht, heilige Nacht,« klang es in vollen Akkorden vom Klavier, und nun kam auch der Sang von Ruths Lippen, schlicht, kunstlos, aber mit einer weichen, zu Herzen gehenden Stimme von tiefer Innigkeit. Auf das Zunicken Ruths hin setzten dann auch die drei Kinder, erst schüchtern, dann allmählich zuversichtlicher werdend, ein, und so tönte der alte, schöne Weihnachtschoral feierlich durch das Gemach.

Holten war nahe der Tür stehen geblieben, hinter den beiden Frauen mit den Kindern. Ernst, aber einen stillen Frieden im Herzen, schaute er schweigend auf das Bild: Die kleinen Mädchen, artig die Hände gefaltet, die mageren Gesichtchen mit den hellen, glückstrahlenden Augen auf die Lehrerin am Klavier gerichtet; der Junge, trotz der gefalteten Hände nach dem Gabentisch schielend; ihre Mütter in den vergrämten, hageren Zügen einen, vielleicht nicht ganz herzenswahren Zug frommchristlicher Ergebenheit, und daneben Frau Kuhlmann, in ihrer gedrungenen, robusten Erscheinung ein etwas seltsamer Kontrast zu der Weihe des ganzen Vorgangs.

Aber über diese Gruppe hinweg glitt Holtens Blick auf Ruth, und dort blieb er während des ganzen Liedes haften. Wie anmutsvoll, ja fast schön, sie heute Abend aussah, in ihrem weißen, festlichen Kleide – seltsam, es kam ihm das Beiwort »bräutlich« dabei in den Sinn – so rosig, glücklich leuchtete heute auch ihr feines Gesicht, bestrahlt von der geheimen Herzensfreude, Gutes erweisen zu können. Diese Freude verjüngte sie und verlieh ihr etwas Liebliches, wie in der ersten Mädchenjugend, das zu ihrer schlanken, zarten Gestalt aufs glücklichste paßte. Holten empfand es mit stiller Befriedigung. Wenn doch immer eine solche geheime Freude ihr Wesen durchleuchten möchte! Wie würde sie dadurch noch gewinnen bei all den reichen Schätzen ihres Herzens. Und während er so ihr liebes Gesicht sinnend anschaute, zogen, ausgelöst von den altvertrauten Klängen des Weihnachtsliedes traurig-süße Erinnerungen durch seine Seele. Aus der Jugendzeit! Abermals, wie bei seinem ersten Besuche – verband sich so ihre Person mit teuren Bildern der Vergangenheit zu einer ihm unaussprechlich wohltuenden Einheit. Es war ihm, als ob sie mit dazu gehöre zu jenem geheim gehüteten Schatz dessen, was ihm lieb im Innersten war.

Nun war der Sang verhallt, und Ruth vom Klavier aufgestanden.

»So, Kinder, nun kommt an den Weihnachtsbaum!« Froh lächelnd trat sie zu den Kleinen, die beiden Mädchen bei der Hand nehmend, aber über sie hinweg grüßte ihr in inniger Freude strahlender Blick den Freund an der Tür.

Das war freilich nun nicht das glückliche Aufjubeln froher Kinder, denen im wohlbestellten Haus die Elternhand den Gabentisch weist. Schüchtern, fast bedrückt, traten die Kleinen heran, sie waren ja doch bei einer Fremden, wo sie sich scheuten, ihr innerstes Gefühl zu zeigen, und auch in den Zügen der Mutter erschien es Holten bei aller zur Schau getragenen, fast allzu demütigen Dankbarkeit, leise aufzuzucken wie im bitteren Gedanken: Was nutzt mir das alles? Wenn ich nicht selbst im eigenen Haus, aus eigener Kraft, meinen Kindern froh bescheren kann!

Es tat Holten so leid um Ruths willen. Aber sie merkte, mit den Kindern beschäftigt, glücklicherweise nichts von all dem, sondern die Freude, geben zu können, nahm sie ganz in Anspruch.

Alle hatten sie nun ihre Geschenke erhalten, auch die Mütter und Frau Kuhlmann, da nahm Ruth den Freund bei den Händen.

»Nun kommen Sie endlich an die Reihe, lieber Herr Doktor! Last not least,« flüsterte sie, und mit einem vertraulichen Händedruck zog sie ihn eifrig mit sich zu einem Nebentischchen, das mit einer Decke verhüllt war. »Nun raten Sie mal! – Sind Sie ein bißchen neugierig?«

»Furchtbar!« beteuerte er scherzend, und ein helles Leuchten, so aus tiefstem Inneren heraus, lag auf seinem Gesicht. »Aber raten kann ich nicht. Ganz talentlos in dieser Beziehung.«

»Bloß zu bequem zum Kopfzerbrechen,« schalt Ruth vergnügt und wollte ihn, die Hände über ihren verborgenen Schatz breitend, noch eine Weile zappeln lassen. Aber da hatte er schon einen Zipfel der Decke erwischt.

»Wollen Sie wohl!« wehrte sie lachend, nach seiner Hand schlagend. »Sie wissen doch – die ungezogenen Kinder steckt heute Knecht Rupprecht in seinen Sack.« Aber zu spät – ein kräftiger Ruck, und da lag schon die prächtige Stickerei enthüllt da, die Decke für seinen Liegestuhl am Fenster, wo er beim Lesen behaglich zu ruhen pflegte. Die alte Decke an dem Stuhl war schon ziemlich verschossen gewesen.

»O, wie reizend! Wie wundervoll!« staunte er, ihr mit langem Händedruck dankend. »Wieviel Abende mögen Sie an dieser Riesenarbeit gesessen haben. Aber woher ahnten Sie –?«

»Christkindleins Geheimnis,« wich sie mit frohem Lächeln über die wohlgelungene Überraschung aus, um nicht zu verraten, daß sie einmal heimlich zu seiner Wohnung gegangen, als sie ihn fort wußte, um sich mit seiner Aufwärterin zu besprechen.

»Welch feine, herrliche Arbeit!« Und behutsam, fast zärtlich strich seine Hand über den weichen Stoff, den ihre fleißigen Finger so oft berührt hatten.

Doch nachdem er genug bewundert, bat er: »Nun müssen Sie aber einmal einen Augenblick hinaus!« Und als sie gehorsam in Frau Kuhlmanns Stube verschwunden war, holte er rasch seine Pakete vom Flur und breitete nun seinen Inhalt auf dem Tischchen aus. Dann öffnete er die Tür zum Nebenzimmer und rief:

»So – die artigen Kinder dürfen jetzt herein!«

Eilends lief Ruth herzu, mit lebhaft geröteten Wangen und glänzenden Augen heute so jugendlich, wirklich fast wie ein erwartungsvolles Kind anzuschauen.

»Aber nein!« Ganz betroffen stand sie vor dem Aufbau still. War es denn möglich? Die Gesamtausgabe aller acht Bände, von Konrad Ferdinand Meyer, den sie durch Holten so lieben gelernt hatte, in wundervollen Einbänden, und außerdem eine schöne, in braunem Leder getriebene Mappe mit großen Photographien – sie schlug sie auf: Lauter Ansichten aus Berchtesgaden und seiner Umgebung, alle jene Orte, die sie damals so froh zusammen durchstreift hatten.

»Herr Doktor!« Die Tränen standen ihr vor Freude und Dankbarkeit in den schönen, klaren Augen, als sie nun Holten beide Hände hinstreckte. Sie sagte nichts weiter, aber der bewegte Druck der schlanken Finger verriet, wie sie gerade dieses Geschenk im tiefsten Inneren erfreut hatte. Mit Rührung sah er in ihr liebes, feines Gesicht, selber so froh und glücklich. Wie schön war das doch, wenn man einem lieben Menschen eine solche Freude machen konnte. In ihrem Herzensüberschwang bemerkten sie nicht, wie sich die beiden Frauen da hinter ihnen heimlich anstießen und Frau Kuhlmann vielsagend lächelnd zu der Nachbarin mit den Augen hinwinkte: Na, sagte ich's Ihnen nicht? Die Sache ist richtig! Verlobung unterm Weihnachtsbaum – passen Sie auf! – Erst ein etwas ironisches Hüsteln der Frau Kuhlmann erinnerte sie an ihre Umgebung.

Nun widmete sich Ruth wieder ihren kleinen Gästen. Die Kinder waren allmählich doch etwas aufgetaut; namentlich das kleine fünfjährige Mädchen schloß sich zutraulich an Ruth an, die der Kleinen etwas abseits auf einem Stuhl ihren Puppenhausstand einrichtete. Holten sah aus seiner Sofaecke her, wo er mit den Frauen sich um den Tisch gesetzt hatte, auf das reizende Bild, wie Ruth ungezwungen neben der Kleinen auf dem Boden kniete, die schlanke, anmutige Gestalt dicht an den mageren Kinderkörper geschmiegt, den ihre Rechte liebevoll umschlang, während sie, ganz im Spiel aufgehend, eifrig der Kleinen alles mit ihrem Spielzeug vormachte. Die rosigen Wangen, das reiche Braunhaar Ruths lagen dicht an dem blonden Köpfchen des Kindes – wie eine jugendliche Mutter mit ihrem Töchterchen sah sie aus. Und unwillkürlich flog es durch Holtens Seele: War sie nicht zur liebespendenden Frau und Mutter wie geschaffen? Dies Bild da zeigte es ihm ja deutlich, wie stark, ihr unbewußt, Mutterinstinkte in ihr waren. War es nicht eigentlich ein Jammer, daß die reichen, beglückenden Schätze ihres Herzens ungenutzt verrosten, daß dieser noch so jugendlich-anmutige Körper allmählich in altjüngferlicher Vereinsamung verblühen und verwelken sollte? Ordentlich weh wollte es ihm bei solchen Ausblicken ums Herz werden, und der Wunsch stieg in ihm auf: Wenn doch ein rechter Mann kommen wollte, ihrer würdig, und diesem schlummernden Sehnen nach Frauenglück zum vollsten beseligenden Entfalten verhelfen wollte.

Aber dann schüttelte er solche Gedanken wieder mit Gewalt von sich. Es war ja doch eigentlich rechter Unsinn von ihm. Kaum hatte er da endlich einmal eine Menschenseele gefunden, die ihm etwas war, so zerbrach er sich schon wieder den Kopf, wie er sie los werden, einem anderen zuführen konnte. Wollte er denn nie und nimmer einmal lernen, ein bißchen gesunder Egoist zu werden? Außerdem, wer sagte ihm denn schließlich, daß Ruth wirklich solch geheimes Sehnen nach Eheglück in sich barg, wie er es ihr andichtete? Vielleicht dachte sie gar nicht an so etwas, vielleicht war ihr im Gegenteil ihre persönliche Freiheit, die Freude an ihrem Beruf viel mehr wert, als das oft sehr zweifelhafte Glück der Heirat. Nachdenklich sah er zu ihr hin.

Sie hatten nie über solche Dinge gesprochen, wie mochte sie wirklich wohl darüber denken? Es interessierte ihn plötzlich allen Ernstes, das zu erfahren. Und sieh – da zog sie plötzlich, in aufwallendem Gefühl das sich dankbar an sie anschmiegende Kindchen an sich und drückte ihm einen herzhaften Kuß auf die Schläfe – war das die Antwort auf seine Frage? Fast mochte er es glauben. Aber wie dem auch war, er wollte Gewißheit haben und bei der nächsten Gelegenheit einmal das Gespräch darauf bringen. – –

An zwei Stunden waren vergangen, da wurde es Zeit, daß die Kinder mit ihrer Mutter heimgingen, da nun auch der Vater von der Arbeit bald zu Hause ankommen mußte. Mit vielem Dank bei Ruth und Holten verabschiedeten sich die vier. Dann kam auch Frau Kuhlmann mit der Mitteilung, daß sie nun eigentlich auch weg wollte, zu ihrer verheirateten Schwester, die sie zur Bescherung erwartete. Das war ein recht unliebsamer, nicht vorhergesehener Zwischenfall. Holten hatte natürlich gedacht, unter der »Ehrengarde« der wackeren Wirtin den ganzen heiligen Abend bei Ruth verbringen zu können, und nun sollte das alles zuschanden werden? Denn natürlich durfte er doch nicht mit Ruth allein in der Wohnung bleiben. Nun konnte er also nach Haus gehen und einsam, trübselig, wie alle Jahre in seiner trostlosen Klause hocken am lieben Weihnachtsabend. Mit sehr trauriger Miene zog er die Uhr: Erst sechs durch. Also noch der ganze endlose Abend vor ihm.

Ernsten Antlitzes stand er vom Sofa auf; vorbei war all der lichte Frohsinn – ein schöner, allzu schnell zerflatterter Traum.

»Dann muß ich mich natürlich ja auch empfehlen,« sagte er zu Ruth hin. »Wenn Frau Kuhlmann uns im Stich läßt.«

»Es tut mir ja auch sehr leid, Herr Doktor,« versicherte diese. »Aber es geht wirklich nicht anders. Ich bin alle Jahr Heiligabend bei meiner Schwester – seitdem der selige Kuhlmann nicht mehr ist. – Das ist so wie das Amen in der Kirche!«

Unschlüssig sah Ruth auf ihn und die Frau. Es tat ihr so furchtbar leid, daß er nun so um seine Freude kommen sollte, aber was sollte sie machen? Sie konnte doch nicht mit ihm allein bleiben.

»Ja, ich weiß ja auch nicht –« Sehr betrübt kam es von ihren Lippen, während ihn ein wie um Entschuldigung bittender, zaghafter Blick traf.

»Selbstverständlich – ich will Sie nicht in Ungelegenheiten bringen.« Und Holten knöpfte sich zum Aufbruch den Rock zu. Aber es lag eine so tiefe Bitterkeit in seinem Ton als habe er im stillen doch noch immer gehofft daß es Ruth ins Herz schnitt.

»Ja, Frau Kuhlmann, meinen Sie denn – würden Sie denn etwas dabei finden, wenn Herr Doktor noch etwas – hier bliebe?

»I Gott doch! Aber wieso denn, Fräuleinchen?« beschwichtigte sie Frau Kuhlmann, zutraulich den Arm um Ruths Taille legend. »Wo sich die Herrschaften doch so gut bekannt und der Herr Doktor so'n solider Mann ist, na, und überhaupt –« sie vollendete den Satz nicht, aber ihr vertrauliches Lächeln sollte ihre Meinung verstehen geben, daß die beiden jungen Leute ja doch eigentlich schon so gut wie verlobt seien, da hätte doch also – nach der Auffassung ihrer Kreise – keiner was dabei zu finden, wenn sie allein zusammen wären.

»Nein, nein!« wehrte Holten ab. »Auf keinen Fall. Ich will Fräulein Henning nicht dem Gerede der Leute preisgeben,« und trat zum Abschied auf Ruth zu.

»Aber wieso denn Gerede?« meinte fast entrüstet Frau Kuhlmann. »Wer soll denn hier reden? In dem Haus wird überhaupt nicht geredet! Klatsch und so ist hier nicht. Hier wohnen lauter anständ'ge Leute im Haus, da können Sie ganz ruhig sein.«

Nun bat Ruth selber, und eine stille Größe lag in ihrer Bitte. Sie wollte ihm zuliebe ihre angeborenen und anerzogenen mädchenhaften Bedenken überwinden, von Herzen gern, auch wenn nötig, um seinetwillen das Gerede der Menschen auf sich nehmen, konnte sie ihm damit die traurige Einsamkeit an diesem Abend, wo alle Welt froh war, ersparen.

»Bitte, bleiben Sie noch – mir zu Gefallen! Ich bange mich ja auch so vor dem Alleinsein – gerade heute abend.«

»Wirklich, Fräulein Henning?« Und mit plötzlichem, wieder frohem Aufleuchten seiner Augen schaute er ihr ins Gesicht. Sie nickte stumm. »Dann natürlich von ganzem Herzen gern.«

So blieben sie denn zusammen zu zweit, nachdem sich auch Frau Kuhlmann von ihnen verabschiedet hatte. Ganz still war es in dem traulichen Zimmer geworden, in dem der anheimelnde Duft der Kerzen und angesengter Tannennadeln schwebte. Unter dem Lichterbaum, mit ihren Stühlen dicht an das festlichtraute Grün herangerückt, saßen die zwei, und in ihren Seelen war es Feiertag. Wie Bruder und Schwester saßen sie beieinander, rückwärts flogen ihre Gedanken in die selige Kinderzeit, und eines erzählte dem anderen von seinen Jugendfreuden, von seinen toten Lieben, als ob der sie gleich ihm gekannt und geliebt hätte.

»Welch glückliches Familienleben haben Sie im Elternhaus kennen gelernt, Fräulein Ruth!« Er nannte sie so zum ersten Male. »Empfinden Sie das Verwaistsein, das Alleinstehen auf der Welt, denn nun nicht doppelt schwer?«

Ruth seufzte leise. »Das dürfen Sie wohl glauben. Aber was würde mir all mein Grämen helfen? – Darum habe ich mich frei davon gemacht und habe gelernt, auch an meinem jetzigen Leben Freude zu gewinnen.«

»Sie sind ein prächtiger Mensch, Fräulein Ruth,« und seine Augen sahen sie in herzlicher Hochschätzung an. »Aber kann Sie denn solch Leben wirklich glücklich machen? Kommt nie ein geheimes Sehnen und Wünschen über Sie nach einem höheren Glück?«

»Glück? Was ist Glück, lieber Herr Doktor?« Mit leisem, resigniertem Lächeln sagte sie es, wie mechanisch nach einem tropfenden Licht am Baum greifend, es zurecht zu rücken.

»Nun für eine Frau zum Beispiel: Das eigene Haus. Das befriedigende Wirken im eigenen Heim, – das Erziehen und Bilden der Kinder –.«

Ihre zarte Hand, die sich an der Kerze zu schaffen machte, begann plötzlich zu zittern. Was sollte diese Frage? Eine Reihe von Wahrnehmungen schon früher jagte ihr mit einem Male durch den Kopf – um Gottes willen – eine heiße Glut, eine jähe Angst schoß ihr plötzlich zum Herzen – wollte er sich vergewissern – andeuten? Sie konnte kein Wort hervorbringen; aber die jähe Röte, die er in ihrem zarten Gesicht aufflammen sah, sagte ihm genug. Das Weib in ihr hatte sich verraten. Es war, wie er geahnt hatte. Auch in ihr schlummerte das tiefe Sehnen nach Frauenglück.

»Es liegt ja doch eigentlich auch in jedem weiblichen Wesen ein solches natürliches Sehnen drinnen,« fuhr Holten ernst fort, um ihr aus ihrer Befangenheit zu helfen, »wenn anders es nicht verkümmert und entartet ist.«

Ruth hatte sich wieder gefaßt.

»Gewiß haben Sie recht,« antwortete sie nunmehr, aber immer noch ohne ihn anzusehen. »Aber wie die Verhältnisse heute liegen, kann doch nun einmal nicht jede Frau darauf rechnen, ihre natürliche Bestimmung zu finden. Sie wird also gut tun, sich schon früh unabhängig davon zu machen und sich einen ernsten Lebensberuf zu schaffen, der ihr gleichfalls rechtschaffene, nutzbringende Arbeit und ehrliche Freude einträgt.«

»Sie sprechen mir aus dem Herzen, Fräulein Ruth,« lobte Holten. »Wollte doch jedes junge Mädchen heutzutage denken wie Sie.«

Er freute sich wirklich: Gott sei Dank! Sie ließ doch also jene Instinkte nicht die Oberhand in ihr gewinnen; sie fand sich auch so mit dem Leben ab. Eine gesunde, glückliche Natur! Und er lenkte das Gespräch alsbald wieder auf andere Dinge.

Wie im Fluge war die Zeit dahingegangen, die Lichter am Baum waren alle niedergebrannt – schon halb zehn durch. Nun mußte er aber schleunigst fort, und, diesmal wirklich zum Abschied, reichte er ihr nun die Hand.

»Wie soll ich Ihnen danken für diesen Abend, liebes Fräulein Ruth? Glauben Sie mir: Seit meinen Kindertagen habe ich nie wieder ein solch schönes Weihnachtsfest gehabt.«

»Wirklich?« Die innerste Herzensfreude leuchtete ihr aus den Augen.

»Ganz wahrhaftig!« versicherte er mit wärmstem Dankesblick. »Sie haben mir heute soviel geschenkt – auch innerlich – ich kann es Ihnen nicht sagen!« Aber seine Hände verrieten ihr seine tiefe Bewegung.

»Gute Nacht, Fräulein Ruth!«

Und schnell ging er hinaus.

* * *

Einige Augenblicke blieb Ruth an der Tür stehen mit geschlossenen Augen. Sie hörte in dem stillen Haus seinen sich entfernenden Tritt noch von den Treppen schallen. Dann, als sie ihn nicht mehr wahrnahm, strich sie sich über die Schläfe, wie aus einem Traum erwachend, und ein schweres Atmen hob ihre Brust. Ja, ein Traum. Es war nur ein Traum – es mußte ja ein Traum bleiben.

Geneigten Hauptes, langsam, ging sie zum Piano und setzte sich auf den Sessel nieder. Gedankenverloren ließ sie ihre Hände über die Tasten gleiten, mit weichem, träumerischem Anschlag; aber schon nach wenigen Takten glitten die Finger von der Klaviatur ihr in den Schoß, und abermals nahmen die Gedanken ihren Flug. – War es denn möglich? Sollte das Sehnen, das geheime Hoffen, das da plötzlich mit so treibender Kraft ihr die Brust schwellte, denn wirklich mehr sein als ein Phantasiegebilde?

Und plötzlich sprang sie vom Klavier auf – es litt sie nicht länger, sie mußte Befreiung haben, Klarheit über das, was da in ihr wogte – und sie suchte mit fliegenden Händen ihr Schreibzeug zusammen. Den Kopf tief über das Papier gebeugt, mit heiß erglühenden Wangen, füllte sie Seite um Seite mit dem Bekenntnis, das ihr aus tiefstem Herzen in die Feder floß:

Meine liebe, liebe Fränzl!

Am Heiligabend sitze ich hier unter dem Christbaum in meiner stillen Stube – ganz mutterseelenallein, und doch so froh, so glücklich, wie es kein Wort zu sagen vermag. Die Bescherung ist längst vorüber, und doch, mir ist zumute, als sollte sie erst angehen. Wie ein Kind stehe ich mit klopfendem Herzen vor der verschlossenen Tür, hinter der ich ein geheimnisvolles Treiben höre, und jeden Augenblick soll sie sich öffnen, und dann – ich wage es nicht zu denken, was dann kommen soll! Zu groß, zu selig ist das Glück, das mir mein ahnungsseliges Herz vorgaukeln will.

Ach, Fränzl, Du ahnst wohl schon, was das alles zu bedeuten hat. Aber Du ahnst nicht, Du kannst ja nicht ahnen, wer es ist. Und das ist es, was mich in all meinem inneren Jubel schwer bedrückt und bange macht. Wie eine Missetat an Dir steht mir meine Seligkeit vor der Seele – jeder Jubellaut in mir muß ja einen bitteren Schmerzensschrei aus Deiner Seele locken, denn der Mann, dem mein Herz zufliegen will, mit all seiner Kraft, es ist – Holten!

So, nun ist es heraus! Und nun laß mich vor Dir knieen, den Kopf an Deine Brust gedrückt, meine liebe, einzige, arme Fränzl, und laß mich rückhaltlos bekennen, was ich Dir bisher verheimlicht habe.

Du weißt aus meinem letzten Brief, wie ich mit Holten wieder zusammengekommen bin. Du wirst Dich aber mit Recht gewundert haben, daß ich seitdem nichts mehr über ihn geschrieben habe, daß ich überhaupt nur ein paar flüchtige Grußkarten in den ganzen letzten zehn Wochen an Dich geschrieben habe. Du wirst nun aber meine Gründe verstehen, meine einzige Fränzl. Du wirst es um so mehr, wenn ich Dir in dieser Stunde sage, was ich Dich früher nie habe ahnen lassen – daß Holten schon damals in Berchtesgaden mein Herz gewonnen hat. Es war für mich nicht leicht damals, meine Fränzl, zu sehen, wie er an meinem Empfinden achtlos vorüberging, und – verzeih, meine Fränzl, es ist ja so taktlos von mir, an diese Dinge noch einmal zu rühren; aber ich muß es ja, dies eine Mal noch. Nur das mußt du mir glauben: Wahrhaftig, ich habe damals neidlos Deinem Glück zugeschaut. Ich habe aus ehrlichem Herzen Dir und ihm das Beste gewünscht. Glaubst Du mir das, meine Fränzl?

Dann kam alles so anders, und er war uns beiden verloren; aber ich habe die Erinnerung an ihn nie aufgegeben. Meine Gedanken waren so oft bei ihm. Ob ich ihn überhaupt wohl noch einmal wiedersehen würde? Ob er auch meiner noch ein wenig sich erinnerte? Und nun stand er wieder vor mir – Fränzl, gleich im ersten Augenblick wieder fühlte ich es, mein Empfinden für ihn war in dieser Trennungszeit nicht schwächer geworden, im Gegenteil.

Dann haben wir uns so oft gesehen, jede Woche ein paarmal, und wir sind wie ein paar unzertrennliche gute Freunde geworden. Daß ich Dir gar nichts davon schrieb – siehst Du, Fränzl, ich mochte es nicht – um Deinetwillen – denn wenn Du ja auch alles überwunden hast, so fürchte ich doch, es könnte Dich schmerzen, jetzt zu hören, da wir so vertraut geworden sind miteinander. Aber auch um meinetwillen – ich mochte Dir von dem, was in meinem Herzen vorging, nichts sagen. Es war mir ja selber noch so unklar, so verworren.

Gewiß, das eine wußte ich ja: Ich war ihm gut, aus tiefstem Herzen gut. Nie wieder seit jener Jugendepisode, die Du ja kennst – habe ich für einen Mann vom ersten Augenblick an das Interesse gehabt wie für ihn. Gerade sein Ernst, seine stille Resignation, die aus tausend getäuschten Hoffnungen entsprungen, das schwere Unglück, das er in seiner Ehe gehabt, dazu seine tiefe Güte und Zartheit, das zog mich sofort unwiderstehlich zu ihm hin, und hat mich dann immer mehr an ihn gefesselt. Und doch, es war noch nicht das, was ich heute, seit einer Stunde, empfinde. Noch niemals war der Gedanke, der Wunsch aufgetaucht, auch er möchte für mich ebenso empfinden – wir möchten Mann und Frau werden. Es genügte mir vollkommen, was uns unser Verkehr bot, diese harmlose, vertraute Freundschaft, die uns vereinte.

Heute abend aber, unter dem Christbaum, da ist es über mich gekommen – ich weiß es selbst nicht wie! Und doch, ich weiß es: Wir saßen ganz allein, in ernstem und doch so traulichem Gespräch, das unsere Herzen bis ins Innerste einander nahe gebracht hatte. Da war es! Er fragte mich plötzlich, ob ich glücklich bei meinem Beruf sei, ob ich nicht zuweilen ein geheimes Sehnen nach höherem Glück – nach dem der Frau und Mutter – verspüre, und dabei traf mich sein Blick so eigen, so warm – ach, Fränzl, in der Minute schoß es wie Blitzesleuchten in mir auf: Er liebt dich – er will sich vergewissern, ob du ihm vielleicht die Gefährtin seines Lebens werden könntest. Und in dieser selben Minute sah ich auch plötzlich klar in mich selbst hinein. Und nun weiß ich es: Ja, ich liebe ihn, wie nur eine Frau lieben kann: Sein möchte ich sein mit jeder Faser meines Wesens, und ihn zu besitzen, wäre ein Glück nicht auszudenken. Nun sehe ich erst, wie ich bisher nur vegetiert habe, wie meine Zufriedenheit nur notgedrungene Resignation war, wie tausend Kräfte in mir brach gelegen, tausend Wünsche in mir geschlummert haben, die, nun alle geweckt, nach dem Leben schreien.

So, meine Fränzl, nun weißt Du alles! Und nun flehe ich Dich an: Zürne mir nicht allzusehr wegen meiner Heimlichkeit. Du siehst ja: In der ersten Stunde, wo ich selber klar über mich geworden, bist Du Mitwisserin meines Geheimnisses geworden.

Aber wirst Du mir auch sonst nicht grollen? Ich bin so bange, Fränzl, fühle mich so schuldbeladen, daß ich die Hände nach einem Glück ausstrecke, das Dich betrogen, Dir so bitteren Schmerz eingetragen hat. Könntest Du das überhaupt jemals verwinden, Fränzl – verzeih, wenn ich vermessen das Bild ausmale – mich an der Seite des Mannes zu sehen, der Dich aufgegeben hat? Freilich ja nur mit blutendem Herzen, in eisernem Zwange – aber trotzdem! Fränzl, wenn Du es nicht kannst, sei ruhig, – so geschieht es nun und nimmer. So ersticke ich all die neuen Wünsche in mir, so sorge ich dafür, daß der Keim nicht erst zum vollen Leben erwacht. So wahr ich diese Zeilen an Dich schreibe – ich könnte ja auch nie eines Glückes froh werden, das sich auf dem vernichteten Leben eines lieben Menschen aufbaut.

Also schreib mir denn, wie Du denkst, Fränzl – aber wirklich Deine ehrliche Meinung. Heuchle mir zuliebe nicht, ich beschwöre Dich, Fränzl! Es könnte später namenloses Unglück bringen über uns alle drei. Du weißt ja, ich bin vernünftig genug, wenn es sein muß, auch das zu überwinden. Nur schreib mir bald, umgehend, ja? Bitte, bitte! Lieber die traurige Gewißheit, als dies bange Harren. Und daß ich nicht vielleicht zu lange schon mein Herz an einen eitlen Wahn hänge.

Es umarmt und küßt Dich, wie es auch kommen mag, in inniger Liebe

Deine Ruth.

 


 << zurück weiter >>