Paul Grabein
Das stille Leuchten
Paul Grabein

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III.

Ein lärmendes Gewimmel unter den alten Bäumen des Gartens und im steingepflasterten Hof des Gasthauses; die Menschen eng zusammengepfercht, zum Teil auf höchst primitiven Sitzen, wie Brettern, Bierfässern und Kisten, umweht von beizendem Zigarrenqualm und Speisegerüchen, aber doch alle urvergnügt, jeder, Mann, Weib und Kind, eine »Maß« vor sich; ein lautes, frohes Geschwätz, dazu Teller- und Krügeklappern vom Ausschank her und droben aus den Fenstern des Tanzbodens, an denen man die rotglühenden Paare sich vorbeidrehen sah, die abgehackten, quietschenden Töne der Dorfmusik – fürwahr, ein echtes Volksfest!

Holten stand still und spähte suchend über die Menge hin, die hier im Wirtshaus zu Ilsank vereint war, um das Sommerfest des Verschönerungsvereins von Berchtesgaden zu feiern. Der Ingenieur Stadler war als Mitglied des Vorstandes mit seiner Familie auch mit hinausgegangen, und Holten hatte seinen beiden neuen Bekannten versprechen müssen, mit von der Partie zu sein; er sollte heute Fränzls Eltern vorgestellt werden. Noch irrte Holtens Blick vergeblich über das dichte Gewühl von Köpfen hin, da sah er plötzlich ein weißes Tuch schwenken, hinten aus einer schattigen Ecke des sonnendurchglühten Hofes, und schon eilte ihm auch Fränzl entgegen, an der Hand ein wacker mitspringendes krausköpfiges Büblein.

»Grüß Gott! Grüß Gott!« rief sie ihm noch im Laufen zu. »Dös ist aber lieb, daß Sie do no komm'n san.« Und dann stehen bleibend, zu ihrem kleinen Begleiter: »Schau, Büble – das is' der Onkel, auf den du so neugierig bist, der deiner Fränzl und Tante Ruth über das Wasser geholfen hat. – Er fragt nämlich schon immer nach Ihnen, der kleine Fratz.«

Holten bückte sich freundlich zu dem kleinen Mann, der ihn nun aus großen braunen Augen – Fränzls Augen – frei ansah und ihm zutraulich die Hand hinstreckte.

»Ja, mein Kerlchen, das ist der Onkel. Du hast wohl ordentlich Angst ausgestanden um Schwester Fränzl?« Und er tätschelte den kleinen blonden Krauskopf.

»Ach nein,« erwiderte das Bürschchen gelassen. »Fränzl schwimmt ja so fein.«

»So!« lachte Holten. »Na, das würde ihr in der Ache ja viel geholfen haben.« Er reichte nun Fränzl zum Gruß seine Rechte.

Das junge Mädchen drückte sie herzhaft, während ihn zugleich ihre Augen in heller Freude grüßten, »Ich hatt' schon 'glaubt, Sie würden nit Wort halten.«

Auch in Holtens Mienen leuchtete es auf; wie wohl tat solch herzlicher Empfang. Er hielt ihre Hand fest. »Halten Sie mich für so wenig zuverlässig?«

»Das nit. Aber i' fürchtete, es würde Ihna am Ende doch nit behagen,« sie setzte es leiser mit einem Blick auf das Menschengewühl ringsum hinzu. »So was würden Sie in Berlin doch wohl nit mitmach'n?«

»Allerdings nicht,« lächelte Holten. »Aber hier ist das ganz was anderes. Im Gegenteil, mir macht das Freude – das ist mir ein neues, reizvolles Schauspiel. Ich danke Ihnen, daß ich so etwas einmal kennen lerne. – Aber wo sitzen Sie?«

»Da.« Sie wies nach der Ecke, woher sie gekommen, und sie schritten nun dorthin, zwischen ihnen das Bübchen, das Holten wie selbstverständlich seine andere freie Hand dargeboten hatte.

»Ein lieber, kleiner Kerl!« Holten drückte das warme Kinderpatschchen freundlich an sich.

»Ja, er ist auch mein Allerbester, gelt, Büble?« Fränzl beugte sich mit strahlenden Augen zu dem Kleinen nieder. Wie reizend ihrer mädchenhaften Erscheinung diese mütterliche Zärtlichkeit stand!

Sie waren nun zu dem Platz in der Ecke gekommen.

»Aber es ist mehr als simpel hier,« lachte Fränzl, auf die Bretter deutend, die über ein paar Waschtröge gelegt, die Bänke für den kleinen Familienkreis hier bildeten.

»O, das ist ja reizend – ein wirkliches Idyll!« scherzte Holten, indem er sich vor den aufstehenden Angehörigen Fränzls artig verbeugte.

»Hier, unser Lebensretter, Herr Doktor Holten!« stellte Fränzl ihn lachend vor. »Mein Papa – meine Mama – zwei Schwesterchen, die Irmel und die Trudl, und uns andern kennen Sie ja schon!« Sie deutete auf Ruth, das Brüderchen und sich selbst.

»Freut uns sehr, Herr Doktor, Ihre werte Bekanntschaft zu machen.« Der Ingenieur, ein sonnenverbrannter, starker Mann mit blondem Vollbart und von gutmütigem Aussehen, schüttelte Holten bieder die Hand.

»Wir schulden Ihnen wirklich herzlichen Dank. Wer weiß, wo die Mädels da heut wär'n, wenn Sie nit gekommen wären,« ergänzte Fränzls Mutter, eine rundliche Dame mit lachenden Augen und frischen Farben, gleichfalls mit herzhaftem Händedruck. »Aber bitt' schön, Herr Doktor, woll'n 's Sie sich nit bequem mach'n?« Sie wies einladend, mit scherzender Gebärde auf das Brett gegenüber.

»Danke vielmals, mit Vergnügen!« Holten setzte sich nieder, nachdem er noch Ruth herzlich begrüßt hatte, diese zur Linken, zur Rechten das Bübchen mit Schwester Fränzl. »Ich finde es überhaupt allerliebst hier. Diese behäbige, harmlose Lebensfreude wirkt wohltuend auf uns Großstadtmenschen.«

»Sie sind Berliner, Herr Doktor?« fragte Frau Stadler.

»Ja, meine gnädige Frau.« Er hatte erst geschwankt, ob er so sagen sollte in dieser gemütlichen, anspruchslosen Umgebung. Aber Frau Stadler war in großer Toilette, sie trug ein ganz modernes Foulardkleid und einen gewaltigen Straußenfederhut. Er musterte nun übrigens Fränzl. Er hatte vorhin nur in ihre lachenden Augen gesehen. Aber wahrhaftig, auch sie war ja heut, ebenso Ruth, ganz große Dame in ihrer duftigen Seidenbluse von zartem Blau und dem silberbeschlagenen Ledergürtel um die zierliche Taille. Sie war also heute eigentlich gar nicht das »Fränzl«, zu dem ihm das einfache graue Bergkostüm ganz selbstverständlich zu gehören schien.

»Schau, Ruth, da bist du ja eine Landsmännin von dem Herrn Doktor. Aber ihr habt euch wohl noch nie da g'sehn, gelt?« forschte Frau Stadler.

Ruth schüttelte lächelnd den Kopf. »Was denkst du dir nur, Tante Emma. Da lebt man ein Menschenleben lang nebeneinander, ohne daß einer vom anderen weiß.«

»Wie, Sie sind Berlinerin, gnädiges Fräulein?« Holten fragte es interessiert. »Ihre Eltern wohnen dort?«

»Ich bin Waise.«

»Ah – bitte vielmals um Verzeihung,« bat Holten ernst. »Ich ahnte ja nicht –«

»Aber bitte – wie sollten Sie denn auch, Herr Doktor.«

»Sie leben dort bei Verwandten, wenn ich fragen darf?«

Ruth schüttelte den Kopf. »Ich stehe ganz für mich allein. Ich bin Lehrerin – an einer städtischen Schule.«

»Lehrerin? Sie, mein gnädiges Fräulein? Wie ist es möglich! Sie sehen aber doch so gar nicht danach aus.« Er musterte sie ungläubig.

Ruth mußte lächeln. »Muß man denn dazu immer notwendig gedrehte Locken, Hornbrille und eine Leichenbittermiene haben?«

»Natürlich nicht,« lachte Holten. »Aber Sie haben so etwas –« sein Blick streifte ihr feines Gesicht und ihre zarte Gestalt im lichten Sommerkleide, sie sah trotz ihrer fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig Jahre wirklich noch ganz jugendlich aus. – »Ich kann mir gar nicht vorstellen, daß Ihre Kräfte den schweren Anforderungen eines so aufreibenden Amtes gewachsen wären.«

»Ich habe sogar eine Jungensklasse.«

»Na, da – pardon, aber von dem Schreck muß ich mich erst erholen.« Holten schlug mit den Händen vor Staunen auf die Bank.

»Gelt? Das sieht man unserer Ruth'l gar nimmer an?« scherzte Fränzl. »Sie schaut aus, als könnte sie nicht bis drei zählen. Aber Sie sollten sie nur so recht inwendig kennen lernen, Herr Doktor! Ui jeh! Stille Wasser sind tief!«

»Aber Fränzl!« mahnte lachend die Mutter, da in Ruths Antlitz eine leise Röte aufzog. Doch schon war der Übermut mit zwei Sprüngen bei der Freundin und preßte deren Kopf an ihre Brust.

»Gelt? Bist doch net bös, Ruth'lmaus? 's is' ja doch alles nur G'spaß! Und der Herr Doktor weiß schon, wie's gemeint is'. Nit wahr, Herr Doktor?« Schmeichelnd bittend sah sie Holten an. Man konnte ihr wirklich nicht bös sein, dem losen Schelm.

Nun trug die Kellnerin auch Holten einen Maßkrug herzu.

»G'sundheit!« Der Ingenieur stieß gemütlich mit dem neuen Bekannten an; auch diese Bewegung und nun das Trinken besorgte er mit einer großen, behäbigen Ruhe, die ihn offenbar nie verließ; das Sprechen dagegen schätzte er anscheinend nicht sehr.

Sonderbar, dachte Holten, wie wenig hatte das quecksilberne Töchterchen doch von seinem Vater. Sie war entschieden ganz nach der Mutter geartet. Die mochte wohl vor zwanzig Jahren auch solch ein Schalk gewesen sein. Dabei mußte er unwillkürlich weiter denken, wie seinerseits wohl das Fränzl nach zwanzig Jahren aussehen würde. Auch so rundlich und behäbig wie ihre Mama? Und vielleicht auch ein halb Dutzend Kinder um sich? Fast mitleidig streifte sein Blick ihre zierlichschlanke Mädchenfigur: Frauenlos. Aber da traf ihn ihr lachender Blick, und fort waren solche Gedanken.

»Zum Wohl allerseits!« Und Holten nickte zu seinen beiden jungen Freundinnen hin, um dann einen herzhaften Schluck zu tun.

»Prosit, Herr Doktor! Zieh gleich mit.« Übermütig führte auch Fränzl den schweren Literkrug ihres Vaters mit beiden Händen zum Munde.

»Nanu? So kommentmäßig?« lächelte Holten.

»Wozu hat man denn einen Bruder Studio auf der Universität?«

»Mein ältester Bub studiert in München auf den Doktor«, erklärte nicht ohne Stolz Frau Stadler.

»Und aktiv ist er auch – bei den Schwaben,« ergänzte noch stolzer Fränzl. »Sie kennen doch die Schwaben?« Es erschien ihr bei einem studierten Mann einfach selbstverständlich.

»Natürlich,« beeilte sich Holten ernsthaft zu versichern. »Es ist das ja wohl ein Korps?«

Fränzl nickte. »Sie waren doch gewiß auch aktiv, Herr Doktor?«

Holten schüttelte lächelnd den Kopf.

»Nein?« Es klang sehr gedehnt und enttäuscht. »Warum denn nicht?«

Sie sah ihn forschend an. Ein so großer, starker Mann. Furcht konnte der doch eigentlich wohl nicht gehabt haben vor dem vollen Humpen und dem blanken Schläger.

Ihre naive Verwunderung belustigte Holten. »Warum? – Können Sie sich nicht vorstellen, daß es auch Leute gibt, denen es nun einmal nicht Spaß macht, die bunte Mütze zu tragen und all den Zwang, den sie mit sich bringt?«

»Ach – die find' ich fad'«, platzte Fränzl ehrlich heraus. »Das heißt – ach pardon, lieber Herr Doktor, san S' mir nur nit gar bös. Ich bin schrecklich ungezog'n, gelt? Aber ich mein das nit so, ich mein' ja bloß die andern –«

»Na, lassen Sie nur gut sein!« Er lachte gutmütig. »Ich bin nicht übelnehmerisch. Im übrigen muß ich aber doch zu meiner Ehrenrettung konstatieren: Gebechert habe ich trotzdem recht wacker – ich glaub', ich nahm's mit jedem Herrn in der Mütze auf – und vorm blanken Messer bin ich auch nicht davongelaufen.«

»Sie haben sich auch geschlagen?« Strahlend blickte Fränzl ihn an. Gottlob, er war also doch ein akademischer Vollmensch.

Holten nickte. »Siebenmal, darunter auch ein paarmal Säbel. Da hier, noch ein kleines Andenken ans letztemal.«

Und er lüftete den Hut, auf eine lange, tiefe Narbe auf der Schläfe bis weit in die Haare hinein deutend. »Es war eine regelrechte Abfuhr – allerdings meine einzige.«

»O, da müssen Sie's ja großartig gekonnt haben. Rudi« – sie meinte ihren Bruder – »ist erst viermal los gewesen.« Voll Bewunderung sah sie auf Holten und wollte sich in noch interessantere Details vertiefen, aber da nahm sie ein Herr in Anspruch, der eben die Eltern begrüßt hatte und sich nun den jungen Damen zuwandte.

»Küß die Hand, gnä' Fräulein! Hab' lang nicht mehr die Ehr' g'habt.« Der schlanke junge Mann in der Forstmanns-Uniform verneigte sich hackenklappend vor ihr, von Holten keine Notiz nehmend. »Tadelloser Betrieb heut hier draußen. Haben gnä' Fräulein auch schon tüchtig Tanzbein geschwungen? Nein – darf ich um die Ehre bitten? Grade ein Walzer!« Er verneigte sich abermals offiziersmäßig; in der Tat setzte oben die Musik zu den »Donauwellen« ein.

Fränzl blickte mit schlecht verborgenem Verdruß zur Mutter hinüber; aber die nickte noch obenein. »Ja gewiß, Madl! Dreh' di do auch mal rum mit den andern.«

Leise seufzend stand das junge Mädchen auf. »Verzeihung, einen Augenblick, Herr Doktor! – Darf ich übrigens die Herren bekannt machen?« Sie stellte den Forstpraktikanten Rechberger vor, dann ging sie mit diesem in das Wirtshaus hinein. Holten schaute ihnen nach. Der elastische, hochgewachsene Mann und das liebreizende Mädel in all ihrer zierlichen Anmut – für die Augen ein prächtiges Paar. Jugend zu Jugend! Holtens Züge wurden mit einem Male wieder ernst.

»Du, Onkel Doktor!« tönte da plötzlich ein Stimmchen neben ihm, und ein warmes Kinderhändchen legte sich zutraulich auf sein Knie.

»Ja, was denn, mein Kleiner?« Freundlich beugte sich Holten zu ihm nieder, den Arm um das Bübchen legend.

»Schneidest du auch so mit der großen Schere, wenn einer sich weh getan hat?«

Holten sah den Kleinen einen Augenblick überrascht an.

»Ach, er hält Sie für einen Arzt, weil wir Sie Doktor nennen«, lachte Frau Stadler belustigt vor sich hin. »Unser Doktor hat ihm nämlich vor ein paar Wochen a kleine Kopfwunde g'flickt.«

»Ja hier – schau mal!« bestätigte der Kleine wichtig und legte das Fingerchen auf eine kleine Narbe unter dem weißblonden Haar.

»I, du armer kleiner Kerl!« Warmherzig beugte sich Holten rasch nieder und drückte seine Lippen auf die Locken des Bübchens. Sonderbar, dabei flog ihn plötzlich der Gedanke an, ob Fränzls blondes Kraushaar wohl auch so seidenweich sein mochte?

»Sie sind sehr kinderlieb.« Ruth sah ihn mit ihren klaren, stillen Blicken freundlich an.

Holten fühlte, wie er plötzlich rot wurde. Lächerlich, wie ein ertappter Schulbube! Und er beugte sich noch tiefer zu dem Kleinen, es zu verbergen. »Wie heißt du denn eigentlich, mein Jungchen? Danach hab' ich ja noch gar nicht mal gefragt!«

»Klaus Stadler.«

»Klaus?« Ein Schatten überflog Holtens Gesicht. »So, so!« Er sagte nichts mehr, und seine Hand glitt von der Schulter des Kleinen.

Verwundert nahm Ruth diese plötzliche Wandlung in seinem Wesen wahr. Holten fühlte, wie ihre Blicke einen Moment forschend auf seinen Zügen hafteten, und er zwang sich daher schnell wieder ein Lächeln ab. »Du hast aber keine Angst, mein Kerlchen, vor dem Doktor und seiner großen Schere! Na, das ist brav. Bist ein rechter Junge!« scherzte er wieder mit dem Kleinen.

Dann kam Fränzl mit ihrem Tänzer zurück. Der plauderte noch ein Weilchen mit ihr; dann verabschiedete sie ihn aber. »Wollen Sie, bitte, nicht auch einmal meine Freundin auffordern?« mahnte sie leise.

»Aber mit Vergnügen! – Auf Wiederschaun, gnä' Fräulein!« Und er ging, Ruth mit geflissentlicher Artigkeit sein Kompliment zu machen.

Fränzl saß nun wieder am alten Platz.

»Na, hat er dich brav 'rumg'schwenkt?« lächelte die Mutter, »'s ist wohl ein bissel heiß drob'n?«

»O – a Mordshitz!« Fränzl fächelte sich ihre erhitzten Wangen mit einem winzigen Spitzentaschentüchelchen. »'s war scho nimmer schön.«

»Aber er tanzt gut, der Herr Praktikant, gelt?« forschte die Mutter weiter.

Fränzl schlug gleichgültig mit dem Tuch nach einer Wespe, die sie umsurrte. »Aber fad is' er – mordsfad!«

»Sie scheinen recht anspruchsvoll zu sein, was die Herrenwelt angeht – mein gnädiges Fräulein!« scherzte Holten. Es freute ihn aber, daß sie über den Grünrock so kühl urteilte.

»O, bitt' schön, Herr Doktor, sagen S' net so zu mir. I kann dös net ausstehn: Gnä' Fräulein hinten – gnä' Fräulein vorn – wie der Rechenberger, der fade Süßholzraspler. Bitte, sagen S' Fräulein Stadler zu mir oder einfach Fräulein Fränzl, gelt? Das hör' ich viel lieber und so nennen mich alle meine Bekannten.«

»Wenn Sie erlauben, herzlich gern, Fräulein Fränzl.« Holten blickte ihr froh in die großen, ehrlichen Kinderaugen. Ein zu liebes Geschöpf in ihrer herzerfrischenden natürlichen Anmut! Sowie sie nur kam, wurde es schon licht und warm um einen. Seinen kleinen »Sonnenstrahl« taufte er sie heimlich in dieser Stunde.

»So ist's recht«, lobte Fränzl. »Schau'n S', das klingt doch viel netter – gelt, Mutterl?«

Die Mama nickte munter. »Ja, ein gnädiges Fräulein hab'n s' im Institut in Münch'n auch wirkli net aus ihr ferti bring'n können – aus unsrer wilden Hummel.«

»Is' mir a viel lieber so«, warf der Vater einmal ein. »Ich kann dös G'schranz' schon nimmer ausstehn. Immer natürlich muß der Mensch sein – das ist die Hauptsach'!« Und er tat nach dieser langen Rede einen um so längeren Schluck.

Eine gute Stunde war so verronnen in harmlosem Familiengeplauder, da reckte sich Fränzl ungeduldig – sie hatte schon ein paarmal sehnsüchtige Blicke nach den hellen Bergzinken geworfen, die fernher durch das Baumgrün schimmerten.

»Ach du, Ruth! Eigentlich ist's doch schade, daß wir hier festsitzen. Wieder ein Wandertag weniger von deinen paar Wochen. Und wir wollten doch diesmal jede Stunde ausnutzen!«

Ruth nickte; Fränzl hatte recht. Seit dem Tod der Eltern, die regelmäßig Sommergäste in Stadlers Haus gewesen waren – der Ingenieur hatte früher während der Saison immer ein paar Zimmer vermietet – verbrachte Ruth stets ihre großen Ferien bei der Freundin, und dieses Jahr hatten sie sich allerdings fest vorgenommen, täglich tüchtig zu marschieren. Sie wollten sich so auf die Hochtouren trainieren, die sie zum Abschluß von Ruths Besuch geplant hatten.

»Ja, es ist schade,« bestätigte Ruth, »gerade heute, wo so herrliches Wetter ist!«

Frau Stadler erbarmte sich der still Seufzenden. »Na, Papa, wenn du nichts dawider hast, könnten die Mädels ja schließlich schon immer aufbrechen und droben über die Soleleitung zurückgehen. Der Herr Doktor läuft vielleicht auch lieber.«

»Mir ist's recht! Wenn's dem Herrn Doktor so paßt – nachher springt los, Mad'ln.«

»Ei herrlich! Du guter Papa!« jubelte Fränzl dankbar; doch dann sah sie zweifelnd auf Holten. Aber Gott sei Dank! – Er winkte ihr mit frohen Augen bejahend zu.

»Wenn Sie mir Ihre Damen anvertrauen wollen, bin ich mit größtem Vergnügen mit von der Partie«, wandte er sich an Fränzls Eltern.

»Aber bitte! Es wird uns eine große Beruhigung sein, wenn wir die Mädel in sicherer Hut wissen«, versicherte Frau Stadler. »Nach dem tollen Stückchen neulich!«

»Ach, Mutterl! Das passiert uns ja nimmer wieder«, versicherte überzeugend Fränzl, schon aufgesprungen und sich den Hut aufs Haar steckend. »Wir werden uns ja jetzt immer so furchtbar in acht nehmen – gelt, Ruth'lmaus? Ihr könnt uns wirklich ganz unbesorgt ziehen lassen.«

»Na, wollen's mal sehen!« scherzte die Mutter. »Jedenfalls übertragen wir dem Herrn Doktor feierlich unsere elterliche Autorität. Hören Sie, Herr Doktor? Genieren Sie sich gar nit, wenn sie nit parieren wollen! Sie sind jetzt ihr Vizepapa.«

»Vizepapa!« lachte Fränzl hell auf. »Du, Ruth – wollen wir uns das gefallen lassen?« Sie blitzte Holten mit ihren Schelmenaugen an. Doch plötzlich machte sie eine scherzhafte demütige Kindermiene: »Ach ja, lieber Vizepapa, Ruth und Fränzl wollen ganz artig sein. Dann gehst gern mit deinen Kindern – gelt, Vizepapa?«

Ihr lachender Übermut steckte Holten an: »Wenn ihr hübsch brav seid – ja, Kinder!« versicherte er würdevoll.

»O, er ist zu nett, unser Vizepapa!« lobte Fränzl. Und dann nahmen alle drei scherzend und lachend Abschied von der Familie. – –

Der Söldenkopf, den sie erstiegen hatten, lag hinter ihnen, und nun wanderten sie auf dem bequemen, immer eben an der Berglehne entlang führenden Promenadenweg nach Berchtesgaden zu. Es war in der letzten Stunde vor Sonnenuntergang. Langhin fielen die Schatten der Bäume und Heumandeln über die golden übergossenen Matten. Die Drossel sang ihr Abendlied aus dem Wipfel, und hell metallisch klang der Grillen Gezirp vom Wegrain. Und weiter schritten sie. Die Sonne war versunken, ein mild erfrischender Hauch wehte nach dem warmen Sommertage fächelnd um die Wandernden, die in schweigendem Dahinschreiten die wohlige Stille der sich zur Ruh rüstenden Natur genossen. Der Weg war so schmal, daß nur zwei nebeneinander gehen konnten. Im Augenblick schritt Holten mit Fränzl vorauf. Da lenkte plötzlich ein Ausruf ihre Aufmerksamkeit nach hinten.

»O wie schön – wie einzig schön!«

Sie drehten sich nach Ruth um. Sie stand bewegungslos, andachtversunken und wies drüben nach den Bergen. Da lagen sie, die massigen Bergriesen, in feierlichem Schweigen, und über ihnen thronte der Watzmann, das königliche Haupt im Firnenschmuck jetzt umwoben von einer rosig glühenden Gloriole, dem Abglanz einer nur schauernd geahnten anderen Welt – im Alpenglühen.

Wortlos standen alle drei, ihre Seelen im Innersten ergriffen von der Erhabenheit dieses Schauspiels.

»Das große, stille Leuchten!« Leise sprach es Holten, den Blick noch immer unverwandt nach dem Firnenschein gerichtet. Und halb für sich sprach er die Strophen des großen Sängers vom Kilchberge:

»Wie pocht das Herz mir in der Brust
Trotz meiner jungen Wanderlust,
Wann, heimgekehrt, ich erschaut'
Die Schneegebirge, süß umblaut,
    Das große stille Leuchten!

Ich atmet' eilig, wie auf Raub,
Der Märkte Dunst, der Städte Staub.
Ich sah den Kampf. Was sagest du,
Mein reines Firnelicht, dazu,
    Du großes stilles Leuchten?

Nie prahlt' ich mit der Heimat noch,
Und liebe sie von Herzen doch!
In meinem Wesen und Gedicht
Allüberall ist Firnelicht,
    Das große stille Leuchten.

Was kann ich für die Heimat tun,
Bevor ich geh' im Grabe ruhn?
Was geb' ich, das dem Tod entflieht?
Vielleicht ein Wort, vielleicht ein Lied,
    Ein kleines stilles Leuchten!«

Andächtig hatten die Mädchen ihm gelauscht.

»Was für wundervolle Verse! Von wem ist das Gedicht?« fragte nun Ruth.

»Von einem Großen. Kennen Sie ihn nicht – Konrad Ferdinand Meyer?«

»Meyer?« entfuhr es Fränzl unter Lachen. Der Kontrast des Großen und dieses vulgären Namens belustigte sie unwillkürlich.

Holtens Blick traf sie verweisend, so daß sie sich gleich darauf schämte.

»Ja, Meyer!« wiederholte er mit ernstem Nachdruck. »Mit Keller und Böcklin das leuchtende Dreigestirn der schweizerischen Kunst. Kennen Sie ihn auch nicht?« wandte er sich an Ruth.

»Ich muß gestehen, nein«, bekannte diese. »Das heißt, den Namen, natürlich. Aber ich habe noch nichts von ihm gelesen.«

»O, das müssen Sie aber tun, unbedingt!« Holten wurde sehr warm. »Das ist ein Dichter sicher auch nach ihrem Herzen. Eine reife, echt männliche Kunst – verhalten, tief ernst und doch so fein, so innig zart – es gibt keinen seinesgleichen! Ich habe seine Gedichte mit; wenn es Sie interessiert, leihe ich sie Ihnen gern.«

»Damit würden Sie mir eine große Freude machen«, versicherte Ruth, und sie wandte sich, an Holtens Seite, wieder zum Gehen. Sie sprachen noch ein paar Minuten von dem Züricher Poeten, seinem so hochverehrten Lieblingsdichter, aber trotzdem waren Holtens Gedanken nicht bei der Sache. Er mußte an Fränzl denken, die still hinter ihnen herging. Sie war gewiß sehr beschämt über seine stumme Zurechtweisung, die ihn jetzt doch wieder reute. Sie konnte doch schließlich nichts für ihr Temperament, das ihr da einmal einen kleinen Streich gespielt hatte. Bei all ihren vielen Lichtseiten, die ihn doch so erfreut, mußte er doch eigentlich verständigerweise auch kleine Schatten einmal geduldig in den Kauf nehmen. Und so wandte er sich denn nach ihr um. Sie war ein paar Schritt zurückgeblieben; ihre Miene war ernst.

»Nun, wo bleiben Sie denn, Fräulein Fränzl?« fragte er freundlich. »Verzeihung, daß wir eben so fachsimpelten. Es hat Sie gewiß gelangweilt.«

Fränzl blickte ihn vorwurfsvoll an. »O, ich liebe Gedichte sehr. Sie müssen nicht glauben, daß ich so dumm und uninteressiert bin – wegen vorhin.«

Es klang eine leise Trauer aus ihren Worten, daß er sie so verkannte. Das rührte ihn.

»Ich war vorhin in meiner Weihestimmung wohl etwas schroff«, entschuldigte er sich. »Aber Sie müssen wissen – es war das erstemal, daß ich dieses erhabene Schauspiel genoß.«

»Wie? Sie hatten noch nie ein Alpenglühen gesehen?«

Holten schüttelte den Kopf. »Ich war ja früher noch nie in den Bergen.«

Fränzl staunte. »Aber wie ist das möglich? Sie reisen doch gewiß jedes Jahr?«

»Allerdings, aber ich bin stets an die See gegangen, auch ein paarmal in deutsche Waldgebirge. Und in den letzten Jahren hat mich meine Berufsarbeit überhaupt drunten an Meer und Heide festgehalten.«

»Sind Sie denn nicht Arzt?« Zum erstenmal fiel es Fränzl ein, daran zu denken, daß ein Doktor ja allerdings auch noch etwas anderes sein könnte.

»Nein«, sagte Holten lächelnd. »Aber raten Sie mal, was sonst wohl?«

Fränzl musterte ihn ratlos. »Vielleicht Jurist oder Gymnasiallehrer?«

»Pädagogisch genug bin ich ja dazu, nicht wahr, Fräulein Fränzl?« scherzte er. »Sie haben aber ziemlich dicht daneben getroffen: Privatdozent an der Universität.«

»Also Gelehrter! Ui jeh – da muß man ja ganz b'sonderen Respekt vor Ihnen hab'n.« Fränzl hatte ihre muntere Laune wiedergefunden. »Aber was dozieren Sie denn, Herr Doktor?«

Holten nahm es ihr nicht übel, daß sie von ihm nichts wußte, dessen Name im Laufe der letzten Monate in fast allen Zeitungen gestanden hatte. Man rühmte ihn allenthalben als den Verfasser der in ihrer Art »bodenständiger Geschichtsforschung« bahnbrechenden »Geschichte Niedersachsens«, deren erster Band soeben erschienen war.

»Deutsche Kulturgeschichte des Mittelalters«, gab er Auskunft.

»Und dazu müssen Sie so viel da unten herumreisen?« wunderte sich Fränzl.

»Das nicht gerade. Aber sehen Sie, ich arbeite an einem großen Werk, das einen bestimmten, vielfach typischen Ausschnitt aus der politischen und kulturellen Entwicklung Deutschlands behandelt. Und ich habe die Auffassung, daß man den Werdegang des einzelnen Menschen wie eines Volkes nur dann richtig beurteilen kann, wenn man sich mit seinem ihn bestimmenden Milieu – Sie gestatten das abgehetzte Wort – vollkommen vertraut macht. Darum habe ich nun Jahr und Tag den Charakter des niedersächsischen Landes und Volkes studiert, um seine Geschichte nicht vom grünen Tisch aus zu schreiben, sondern um mit lebendiger Anschaulichkeit das Herauswachsen der Geschehnisse aus diesem bestimmten und bestimmenden Boden darstellen zu können. – Verstehen Sie, wie ich das meine, Fräulein Fränzl?«

Das Mädchen hatte aufmerksam an seinem Munde gehangen. »O ja! Sie machen es dann eigentlich wie ein Maler. Sie machen an Ort und Stelle Ihre Studien und setzen sich dann nachher im Atelier daraus ein Bild zusammen.«

»Ganz recht!« Holten freute sich herzlich ihres verständnisvollen Interesses. Um so mehr, als sie da eben in naiver Weise das ausdrückte, was die meisten gelehrten Kritiker seinem Werke nachgerühmt hatten, daß er fern sei von der üblichen trockenen Geschichtsschreibung, vielmehr die Ergebnisse gründlichster wissenschaftlicher Forschung mit dem Auge des Künstlers geschaut darstellte in einer Reihe großzügig gezeichneter Bilder von hoher Farbenkraft und packendem Leben.

»Wie ein Malersmann habe ich fast drei Jahre lang das Land zwischen Weser und Elbe durchstreift, ich hatte mich zu diesem Zwecke beurlauben lassen. Im Sommer und Winter habe ich draußen gehaust im einfachen Heidehof oder im altersgrauen Landstädtchen, des Abends in verstaubten Büchern gestöbert, aber des Tags mit offenen Sinnen mir Land und Menschen in ihrer herben Eigenart angeschaut – das ist ein andrer Schlag da draußen als ihr frohes Völkchen hier, die ihr heiter lachend das Leben nehmt.«

»O, glauben Sie, daß wir, wenn es not tut, net auch im Ernst unseren Mann stehen?« Fest schauten Fränzls braune Augen, diesmal in überzeugendem Ernst, den Mann neben ihr an, zugleich mit einem gewissen stolzen Selbstbewußtsein. Holten freute sich der gesunden Tüchtigkeit, die aus ihr sprach. Ja, wirklich! Dies frohgemute, junge Geschöpf würde mit Seelenstärke auch Leid zu tragen wissen und zu überwinden. Es war sieghafte Kraft in ihr.

»Ich zweifle nicht daran, und ich will euch eure Volksart nicht herabsetzen. Im Gegenteil! Ihr habt sogar wohl das bessere Teil erwählt. Wozu der schwerblütige Ernst, wenn frohe Tüchtigkeit auch ausreicht, das Leben zu zwingen?« Holtens Miene verriet, daß der Gedanke ihm innerlich näher ging.

Schweigend schritt er ein Weilchen neben Fränzl her. So kamen sie zu Ruth, die vorausgegangen, nun aber stehen geblieben war. Sie wandte sich jetzt an Holten:

»Da!« Und sie wies noch einmal hinüber zu den fernen Berghäuptern, wo eben der letzte Purpurschein verblaßte. »Noch einmal vorm Scheiden – das große stille Leuchten.«

Holten wandte die Blicke ernst sinnend zu dem Firnenschein. »Ein Symbol des Menschenlebens. Das Höchste auch für uns: die große, abgeklärte Ruhe, die über den Trümmern unserer Illusionen leise lächelt.«

Sie verstummten alle drei und wanderten still dem dämmernden Tal entgegen.

 


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