Paul Grabein
Das stille Leuchten
Paul Grabein

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VI.

Auf Wiedersehen, Herr Watzmann, morgen bei dir droben!«

Fränzl winkte mit dem Sektkelch fröhlich zu dem königlichen Berg hinauf. Sie standen nun ja endlich am Vorabend des großen Ereignisses, der Watzmann-Tour, die sie schon so lange zu dritt beschlossen hatten. Ruth war jetzt wieder so weit mit ihrem Fuß.

»Trink nur net gar zuviel!« mahnte Frau Stadler; sie war mit der jüngsten Tochter schon aufgestanden. »Sonst kommst du mir morgen früh net aus den Federn.«

Und sie ging mit der Kleinen schon immer zum Wagen voraus, der bereits zur Heimkehr vor dem »Panorama« vorgefahren war.

»Ach, ich möcht' überhaupt erst gar net ins Bett. Ich tu' ja doch kein Aug' zu.« In freudiger Ungeduld glänzten des Mädchens Wangen. »Am liebsten lief' ich glei jetzt los!«

»Nachts bis zum Watzmann-Haus? Es steht Mondschein im Kalender! Wollen wir's riskieren, Fräulein Fränzl?« scherzte Holten.

»Wahrhaftig? Wollen wir?« Wie elektrisiert sprang Fränzl hoch.

»Sie brächten's, weiß Gott, fertig,« lachte er, »Sie kleiner Leichtsinn! Na – nur noch ein bißchen Geduld. Die Nacht wird ja herumgehen. Punkt fünf steh ich vor Ihrem Hause. – Und nun unseren letzten Schluck – auf gut Glück morgen!«

Hell klangen die feinen Kelche zusammen, da – ein Klirren. Im allzu kräftigen, frohen Anprall war Holtens Glas zerbrochen.

»O, Scherben! Das bringt Unglück!«

Fränzl starrte ganz betrübt auf die Stücke des zarten Glases auf dem Tischtuche.

»Im Gegenteil!« lachte Holten übermütig; sein ganzes Wesen atmete jugendfrohe, kraftvolle Zuversicht. »Ich habe dem Glück freiwillig mein Opfer dargebracht. Nun bleibt's mir treu.«

»Ein Polykrates-Opfer!« scherzte Ruth, während sie nach den Handschuhen griff und aufstand. »Doch mir grauet vor der Götter Neide.«

»Kassandra!« neckte sie Holten. »Gehen Sie doch mit Ihrem langweiligen Polykrates – man selbst ist seines Glückes Schmied!«

Und seine Blicke flogen siegesgewiß zu Fränzl hinüber, die die Wimpern senkte. Sie fühlte, wie sein heißer Blick gleiche Glut auf ihren Wangen entzündete.

»Da – Mama winkt schon,« zog sie sich aus der Verlegenheit, auf den Wagen vor dem Garten deutend.

»Also dann Aufbruch! Aber schade ist's, jammerschade, daß unser Beisammensein heute abend schon ein Ende haben soll,« klagte Holten, während er zwischen den beiden jungen Mädchen zum Wagen hinschritt. »Könnten wir drei denn wirklich nicht den Rückweg zu Fuß machen?«

Mit heimlicher Bitte streifte Holten wie zufällig Fränzls Hand. Das Mädchen erschauerte unter seiner Berührung; es wagte nicht, ihn anzusehen. Ruth enthob es der Antwort.

»Aber nein, Herr Doktor, wir können unmöglich Frau Stadler allein fahren lassen.«

Doch Holten gab die Hoffnung noch nicht ganz auf. »Wenn Sie Ihre Frau Mama nun recht schön bitten, Fräulein Fränzl?«

Das Mädchen sah ihn an, sehnsüchtig, aber es seufzte kopfschüttelnd: »Mama meint ja nun einmal, wir dürften uns das wegen morgen nicht mehr zumuten.«

Holtens Züge überflog ein Schatten. Wie schade! Was hätte er darum gegeben, gerade heut noch eine Stunde in Fränzls Gesellschaft sein zu dürfen, ohne die Gegenwart von Mutter und Schwester. Gerade heute, wo ihm ihre selig verklärten Blicke, ihr Erröten und Erbeben verraten hatten, was in ihrem Herzen vorging. Und nun sollte er sich von ihr trennen, ohne einen Wink des Einverständnisses? Seine Stirn furchte sich.

Da fühlte er plötzlich – sie standen schon am Wagen – wie plötzlich, erst zaghaft, wie ein schüchternes Bitten, dann fester und nun leidenschaftlicher pressend, eine kleine, zitternde Hand seine Linke heimlich umspannte, nur einen flüchtigen Augenblick, aber es schien ihm eine Seligkeit. Er verstand dieses stumme Flehen: Nicht bös sein, Liebster, ich möchte ja so brennend gern, aber ich kann ja nicht! Bitte, bitte, sieh's doch ein und blicke wieder hell! Und wie mit einem Zauberschlag klärte sich seine Miene wieder auf.

»So – hier haben Sie Ihre Küchlein alle, meine gnädige Frau.« Lachend half er erst Ruth und nun Fränzl in den Wagen. Noch einmal fanden sich ihre Hände eine Sekunde lang in heimlich-süßer Berührung.

»Den Bachler-Toni erinnere ich also noch einmal,« bestätigte Ruth, von dem schon bestellten Führer sprechend – die Pferde zogen bereits an. »Er soll schon um halb fünf bei uns sein. Wegen des Gepäcks.«

»Sehr gut,« nickte Holten. »Und nun ade! Auf frohes Wiedersehen – morgen früh.«

Der Wagen rollte ab, unter hellem Zuruf der Damen; nur Fränzl blieb stumm. Aber von tiefstem Herzen grüßte ihn ein aufleuchtender Strahl aus ihren lieben braunen Augen. Er winkte ihr noch einmal mit wehendem Tuch einen letzten Gruß zu, dann rollte der Wagen um die Ecke.

Allein trat Holten seinen Heimweg an, aber die Zeit ward ihm nicht lang. Schnell eilte er seines Weges mit dem beflügelten Schritt geheimen Glücks, und ihm zur Seite schwebte das Bild der trauten, kleinen Kameradin. Noch einmal durchlebte er mit ihr all die heimlich-schönen Stunden der letzten Tage, wo er – während Ruth ans Zimmer gefesselt war – mit ihr, nur in Begleitung der kleinen Geschwister, in Wald und Bergen herumgestreift war. Wie ein seliger Maienrausch war das gewesen, um ihn herum Sonne, Sonne, nichts als Sonnenschein und zartes Hoffnungsgrün. Die ganze Welt war für ihn versunken, er war wie in einem einzigen Taumel seligen Glücks gewesen.

Kein Grübeln über das, was da kommen sollte, hatte ihm diese Glücksversunkenheit gestört. Er wollte ja an nichts denken. Daß nicht gleich wieder die nüchterne Wirklichkeit mit strenger Hand diesem holdseligen Traum den süßesten Schmelz von den zarten Fittichen streifte. Nein, einmal ganz, ganz auskosten dürfen diese elysische, wunschlose Seligkeit, die weitab lag von dem grauen Alltag. Und so hatte er denn auch mit keinem plumpen Wort Fränzl verraten, was in ihm vorging. Wieviel köstlicher war es doch auch, aus geheimsten Blicken und Mienen das süße, uneingestandene Geheimnis zu erraten zu suchen, in erwartungsvollem Hoffen.

Tag für Tag hatte er auf solch ein Zeichen von ihr geharrt; und nun heute, da vorhin, hatte ihm ihre zitternde Hand gestanden, was der scheue Mädchenmund noch nicht gewagt hatte, ihm zu verraten. Nun hatte er die große selige Gewißheit: Sie liebte ihn mit aller Inbrunst ihres heißen und doch so reinen Herzens. Und nun all die neuen Wonnen, die seiner harrten! Wenn die bebenden jungen Lippen sich ihm zum erstenmal bieten würden, wenn er ihr pochendes Herz zum erstenmal an seiner Brust schlagen fühlen würde – seliger Wonnerausch, nicht auszudenken!

Mit stillverklärtem Antlitz, ganz in sich versunken, schritt Holten seines Weges. Er merkte es nicht, wenn er an anderen Wanderern vorüberschritt und diese verwundert nach dem einsamen Manne blickten, der mir gesenktem Haupt und so leuchtenden Mienen, unbekümmert um die Außenwelt, die Straße entlang zog. Auch auf den Weg hatte Holten nicht acht; so hatten sich denn schon die Abendschatten über das Tal gesenkt, als er endlich zu Hause anlangte.

Immer noch mit verträumter Miene trat er in das Haus ein, eine Fremdenpension, die auf einer Anhöhe am Waldrand lag. Die anderen Insassen des Hauses saßen wohl gerade bei Tisch, an der Abendtafel, und auch von dem Personal begegnete ihm niemand auf dem schon fast dunklen Treppenflur. Es war ihm lieb so. Er hätte jetzt auch mit niemandem sprechen mögen. Er wollte sich seine Feiertagsstimmung nicht durch Alltagsgeschwätz stören lassen. Er freute sich schon auf sein stilles Zimmer. Da wollte er sich ans offene Fenster setzen und in den rosigen Abendschein droben auf den Bergen schauen. Er meinte, da müsse auch sie am Fenster ihres Mädchenstübchens stehen und sehnsuchtsvoll in das große, stille Leuchten schauen. So würden sich ihre Seelen grüßen – droben auf den lichten Höhen.

Holten öffnete die Tür seines Zimmers und trat über die Schwelle. Aber da stockte sein Fuß. Der Raum lag schon ganz in Dämmerung, doch dort am Fenster ein Schatten – eine dunkle weibliche Gestalt. Bei seinem Kommen hatte sie sich langsam umgedreht, nun aber harrte sie regungslos; scharf zeichnete sich jetzt ihre Silhouette von dem hellen Grunde des Fensters und dem rosigen Abendhimmel draußen ab. Starr stand sie da, in der Dämmerung übergroß erscheinend.

Es packte Holten eiskalt ans Herz. War das nur eine Sinnestäuschung . . .? Oder stand da wirklich die düstere Schicksalsbotin und blickte ihn aus blutleerem Antlitz mit harten, erbarmungslosen Augen an?

Regungslos stand auch Holten; die Hand an der Klinke – mit weitgeöffneten Augen nach dem Fenster starrend. Eine schwere dunkle Angst würgte ihn an der Kehle, sein Herz stand still.

»Wer – wer ist da?«

Da hob der Schatten am Fenster langsam die Rechte, und eine kalte, tonlose Stimme klang halblaut zu ihm hin:

»Ich bin's.«

Ein Zittern flog durch Holtens Leib. Langsam schloß er die Tür hinter sich. Er kannte diese Stimme – nur zu gut! – und mit ihrem Klang stieg ein Heer furchtbarer Dämonen aus der dunklen Gruft der Erinnerung, die sich nun von neuem marterbegierig auf ihn stürzten. Die dort am Fenster war – seine Frau.

Zwei Schritte tat er zu ihr hin, langsam, schwer. Dann klang, vor niedergekämpfter Erregung heiser, seine Frage:

»Was führt dich her?« Er fühlte es an seinen zuckenden Nerven, die Ruhe, die er sich in Jahren mühselig erkämpft, sie war wieder vernichtet in diesem einzigen Augenblick.

Ihre Rechte war wieder müde herabgesunken, sie stand wie vorher.

»Ich komme dir ungelegen – ich weiß es. Aber ich mußte. Das Gesetz, das imposante Machwerk männlicher Überlegenheit,« schneidender Hohn klang aus ihrer harten Stimme, »zwingt mich dazu. Noch bin ich ja nach diesem Gesetz nicht frei, bin noch deine Frau – da ja in ein paar Wochen erst das Scheidungsurteil zu erwarten ist – und ich brauche daher deine ›ehemännliche Genehmigung‹« – noch schneidender ward ihre Stimme – »um einen Schritt tun zu können, der mir meine Zukunft materiell sichern soll. Die Sache drängt, deshalb bin ich hier.«

Wie ein Alp löste es sich von Holtens Brust. Wenn es nur das war!

»Was soll ich tun? – Aber, bitte, setz' dich doch.« Er deutete auf einen Sessel am Tisch.

Sie kam langsam vom Fenster näher, knitternd ein Papier aus der Tasche nehmend und entfaltend.

»Ich habe mich entschlossen, eine kleine Privatklinik zu kaufen – für chirurgische Kranke. Ich brauche zum Abschluß des Kaufes aber, da wir in Gütergemeinschaft gelebt haben, deine Zustimmung. Bitte – erledige die Formalität.« Sie legte das Papier auf den Tisch. »Du brauchst nur zu unterschreiben.«

Holten trat zur Wand und drehte am Hebel; das elektrische Licht in der Ampel flammte auf. Während er nun zum Tisch schritt, suchte sein Blick das Antlitz der Frau, die jetzt voll bestrahlt von dem hellen Schein dicht vor ihm stand. Fast drei Jahre hatte er sie nicht mehr gesehen. Zwei davon hatten sie nach dem Tode des Kindes voneinander getrennt gelebt, dann hatte er auf ihr Drängen in die Einleitung der Scheidungsklage gewilligt. Er hatte seitdem nur durch seinen Rechtsanwalt von ihr gehört. Nun standen sie einander wieder gegenüber: Ein schmales, blasses Gesicht, vorzeitig gealtert durch scharfe Linien und fest zusammengebissene Lippen. Eiserne, kalte Energie neben alles zersetzendem Zweifel die Signatur dieses versteinerten Antlitzes, an dem nur noch die reiche Fülle des aschblonden Haares von Jugend zeugte. Und doch war dieses Antlitz einst rosig, weich und strahlend gewesen wie –

Ein Schrecken durchfuhr plötzlich Holten. Wie konnte er an sie denken, die Lichte, Holde, in dieser grauen Stunde! Zugleich aber ergriff ihn ein weiches Regen. Was er auch gelitten hatte durch diese Frau, sie hatte noch schwerer daran getragen; sie war eine Unglückliche, die selbst das Hoffen verlernt hatte. Von einem warmen Impuls getrieben, trat er an sie heran und bot ihr die Hand. Doch sie regte sich nicht.

»Renate!« Ein stilles Bitten stand in seinen Augen.

Aber ihre Züge blieben starr. »Wozu?« klang es müde von ihren Lippen. »Es ist ja nur ein Geschäft, was mich zu dir führt.«

»Ja, richtig!« Ein bitterer Zug umspielte seine Lippen. »Entschuldige. Ich hätte es fast vergessen.«

Langsam beugte er sich zum Tisch nieder, schrieb seinen Namen auf das Schriftstück und schob ihr dann die Urkunde zu.

»Eine schwere Aufgabe, die du dir stellst. Werden deine Kräfte ihr gewachsen sein?«

»Ich denke.« Ohne nach ihm hinzusehen, faltete sie das Papier langsam wieder zusammen.

»Hast du dich denn irgendwie dafür vorbereitet?« fragte er weiter. »Verzeih, wenn ich noch danach frage.«

»Ja, bei Dr. Backmann, der mich selber damals operiert hat. Er will mir auch seine Patienten zuweisen.«

»Ein freudloser Beruf. Warum hast du gerade ihn erwählt?«

Ein bitteres Auflachen machte ihn aufsehen. »Freudlos! Als ob ich in meinem verpfuschten Leben noch nach Freude fragen dürfte. Und habe ich denn überhaupt eine Wahl? Von meinen paar tausend Mark kann ich doch nicht leben.«

»Renate,« mit sanftem Vorwurf trat er ihr einen Schritt näher, »ich bitte dich in dieser Stunde noch einmal herzlich: Nimm doch mein Anerbieten an! Du weißt ja, meine Einkünfte haben sich sehr gebessert –«

»Niemals!« Ein unbeugsamer Wille klang aus ihrem Ton. »Du kennst meine Auffassung: Kein Gnadenbrot. Aus eigener Kraft will ich mich erhalten.« Und sie wich einen Schritt zurück.

Seufzend ließ er seine abermals nach ihr hingestreckte Hand sinken.

»Gut, gut,« sagte er traurig. »Aber wenn du schon das willst, es hätte doch wohl einen bequemeren Weg gegeben.«

»Ich habe keine Neigung, Wirtschafterin zu spielen oder Zimmer zu vermieten. – Ja, freilich, wenn ich noch jünger wäre, wenn nicht die besten Jahre vergeudet worden wären – studieren, Medizin, das hätte mich reizen können, das hätte mir vielleicht sogar noch einmal die Freude am Leben wiedergeben können.« Leidenschaftlich schrie es in ihr auf. »Doch zu spät! Was hilft das alles. So hab' ich denn wenigstens das Surrogat dafür gewählt – die Handlangerin des Arztes zu sein.« Die alte müde Bitterkeit lag wieder in ihrem Ton.

Holten schwieg still, im Innersten erschüttert. Ein Blitz hatte ihm da eben das ganze trostlose Dunkel dieser zerstörten Seele durchleuchtet. Nicht einmal die letzte starke Helferin des unglücklichen Mannes, die Arbeit, die stille Befriedigung am Beruf, war ihr geblieben. Und doch stand sie aufrecht da, sich mit finsterer Entschlossenheit den langen öden Weg bis ans Ende hinzuschleppen. Es drängte ihn aus tiefstem Herzen, ihr zu sagen, wie hoch er sie achte, wie unendliches Mitleid er mit ihr fühle; aber ihr ehernes, stolzes Antlitz wies ja nur zu deutlich jedes weiche Wort ab. So beschränkte er sich, leise zu sagen:

»Du hast wohl leider recht, Renate. So kann ich dir denn nur aus tiefstem Herzen wünschen, daß die Arbeit dich wenigstens über die Leere deines Lebens hinwegbringen möge.«

Er erwartete, daß sie gehen würde, ohne Gruß, wie sie gekommen war, obwohl es ihm ins Herz schnitt. Das sollte nun ihr letztes Zusammensein im Leben sein! So schieden zwei Menschen für die Ewigkeit, die einst wie zwei Flammen jauchzend ineinander getaumelt waren und von denen keins dem anderen je wissentlich Böses getan. Ihre ganze Schuld war der verhängnisvolle Wahn ihrer jungen, blinden Liebe gewesen, die ihre beiden grundverschiedenen Naturen zu ihrem Verderben aneinander gekettet hatte. Die Mühle des Alltags hatte sie zerrieben. Todwund hatten sie sich endlich im letzten Aufflackern des Selbsterhaltungstriebes voneinander geflüchtet, um nicht miteinander zugrunde zu gehen.

Das alles stand jetzt noch einmal in seiner ganzen zermalmenden Schwere vor Holtens Seele. Und nun war das Ende da – das erbarmungslose, nüchterne Ende dieser Alltagstragödie: Sie gingen voneinander wie zwei Fremde, die sich niemals etwas gewesen sind. War es nicht eigentlich zum Lachen?!

Die Frau im ernsten, schwarzen Kleid schaute auf den Mann, der sich da plötzlich, die Hände krampfhaft auf dem Rücken verschränkend, von ihr abwandte und aufgeregt nach der dunklen Ecke zuschritt. War es Mitleid, was da im tiefsten Grunde der dunklen kalten Augen auftauchte, den Augen, die erst das Lachen verlernt hatten und dann das Weinen? Eine Weile schaute sie nach dem Abgewandten. Sie kämpfte mit sich. Sollte sie es ihm ersparen? Er war ja schon so im Innersten getroffen von diesem Wiedersehen. Schon zuckte ihr Fuß, sie nach der Schwelle zu führen – aber nein! Es mußte sein – um seines eigenen Besten willen.

»Kurt!« Zum ersten Male nannte sie ihn so, und milder klang ihre Stimme.

Schnell fuhr Holten herum, mit großen, fragenden Augen.

»Ich möchte dir noch etwas sagen.« Ihre Worte kamen zögernd heraus. »Etwas, was dich angeht.«

»Mich?« Noch gespannter wurden die Mienen des Mannes. »Aber bitte, so sprich doch.«

Sie sah es erwartungsvoll in seinen Augen aufschimmern.

»Es wird mir nicht leicht, Kurt – denn ich werde dir weh tun müssen.« Und diesmal war wirklich Mitleid in ihren Blicken.

Aha! Bitter zuckte es um Holtens Mundwinkel. Unverbesserlicher Tor, er! Was hatte er auch von dieser Frau anders erwarten können.

»Ich bin selbstverständlich darauf gefaßt,« klang es herb von ihm zurück.

Noch einmal suchte sie nach Worten. »Ich sah dich heute nachmittag auf dem Panorama.«

Aus den wenigen Worten klang deutlich ihre wuchtige Bedeutung, und sie fiel zentnerschwer in Holtens Seele.

»Wie? Du warst da?« Und er sah sich im Geist wieder da oben im flimmernden Sonnenschein, angesichts der erhabenen Berghäupter den schäumenden Kelch mit den frohen Genossen anklingen, die Blicke heimlich in Fränzls selig glänzende Augen versenkt – und das alles hatte die Frau da mit angesehen?

Mit furchtbar erregten, forschenden Blicken drang er in ihre Seele, und er las in ihren, ihm ruhig standhaltenden Augen die stumme Bestätigung. Aber warum sagte sie ihm das? Ihre Wege waren ja geschieden schon lange, für immer, was kümmerte sie sein Verhalten?

Sie verstand auch diese seine unausgesprochene Frage. Ihr dunkles Auge blickte ihn fest, aber nicht feindselig an.

»Kurt, ich meine es gut mit dir. Nur darum rede ich. Der Zufall hat mich noch ein letztes Mal über deinen Lebensweg geführt. Vielleicht kann ich dich vor einem Verirren schützen, das du unfehlbar bereuen würdest.«

Zum zweitenmal fühlte Holten eine eiskalte, gespenstische Hand nach seinem Herzen tasten.

»Was meinst du damit?« In wildem Trotz rief er es ihr entgegen, um sich gegen diesen Angriff auf sein Innerstes zu wehren. Aber in seinen flackernden Augen verriet sich, daß er sie wohl verstanden hatte.

Die Frau ihm gegenüber bewahrte ihre starre Ruhe.

»Ich verstehe es, daß du dich dagegen sträubst.« Ihre festen, durchdringenden Blicke hielten ihn in einem überlegenen Bann. »Aber du wirst dich überwinden müssen. Oder willst du dich zum zweitenmal unglücklich machen?«

»Was willst du?« Verzweifelt schrie es in ihm auf. »Habe ich nicht genug durch dich gelitten? Bist du nur zu mir gekommen, um mich von neuem zu Boden zu treten?«

»Seh' ich danach aus?« Ganz ruhig kam es von ihren Lippen. »Sieh mich an!«

Er warf aus finsteren, schmerzlich zuckenden Augen einen Blick auf ihr Antlitz.

»So schweig!« forderte er. »Und zertrümmere mir nicht, was sich gerade wieder zum Licht aufrichten will.«

»Bist du noch Mann genug geblieben, die Wahrheit zu ertragen – selbst, wenn sie qualvoll ist? – Du rühmtest dich dessen selber einst. Es ist freilich schon lange her.« Ohne Hohn sprach sie es. Eine starre Größe stand vielmehr aus ihren klaren, festen Worten auf.

Trotz seiner zitternden Erregung konnte sich Holten nicht dieser Wirkung entziehen. Er starrte sie an. Was hatte das Schicksal aus dieser Frauenseele gemacht, die einst weich wie Wachs in seiner Hand gelegen hatte!

Er raffte sich mit einem Ruck zusammen.

»Ich denke, ich bin ein Mann. Also sprich!«

»Ich war dir heut nachmittag nachgefahren – man hatte mir gesagt, daß du auf dem Panorama seist – weil ich hoffte, so noch heute abend zurückreisen zu können. Da oben sah ich aber, du warst nicht allein. Und ich sah mehr: Das junge Mädchen, an dem deine geheimen Blicke hingen, hat von deinem Herzen Besitz ergriffen.«

Holten zuckte zusammen, aber er schwieg.

»Kurt, ich verstehe es, daß du nach den Enttäuschungen unserer Ehe ein neues Glück suchst, und ich gönne es dir neidlos. Aber wie kannst du wähnen, mit diesem Kinde glücklich zu werden!«

»Halt!« fuhr Holten auf. »Sprich von mir, was du willst. Aber rühre mir sie nicht an!«

Ihre Miene blieb unerschütterlich ruhig. »Sie mag ein herzensgutes Geschöpf sein, aber sie paßt nicht zu dir – ihr beide wäret todunglücklich, in kürzester Frist.«

»Warum?«

»Bist du denn blind? Siehst du denn nicht nach langem Verkehr, was mir schon kurze Beobachtung klar gezeigt hat? Ihr seid ja von Grund aus verschieden, die schroffsten Gegensätze: Sie in steter Bewegung, harmlos, lachend, allen bunten Flitterkram des Lebens noch neugierig begehrend – du ernst, schwer, ruheverlangend, voller Resignation! Wie soll das zusammen stimmen?«

Holten hatte die Zähne aufeinander gebissen. Abschütteln wollte er die gefährlichen Geschosse ihrer Worte, bevor sich die Widerhaken des Zweifels erst einbohrten in seine Seele.

»Du kennst mich nicht mehr,« warf er ihr hart entgegen. »Ich bin ein andrer geworden, gerade unter ihrem Einfluß. Ich fühle neue Jugend, neues Hoffen in mir.«

»Du kennst dich selber nicht mehr! Muß ich es dir sagen? Wie kannst du den Rausch neuer Liebe so verkennen? Ist's nicht genug, daß sie dich einmal genarrt hat?«

»Renate!«

»Denke zurück. War's nicht genau dasselbe Possenspiel mit uns beiden? Logst du dir nicht vor, du würdest an meiner Seite leicht und beweglich werden, dich meiner Eigenart anpassen? Betrog mich nicht der eitle Wahn, ich würde dich nach meinen Wünschen ummodeln können? Nein und tausendmal nein! Es ist Lüge, verruchte Lüge von der Natur, daß sie im Liebeswahn das sich anziehen läßt, was sich meiden sollte wie Wasser und Feuer! Kein törichteres Wort als das leichtfertige Kupplergeschwätz von der ›glücklichen Ergänzung‹ zweier verschiedener Charaktere. Zum Elend, zur Verzweiflung treibt's die beiden Verblendeten, die sich damit haben begaukeln lassen, wenn der Rausch verflogen ist. Wir haben's erfahren, bis zum letzten! – Und nun willst du dich zum zweitenmal einfangen lassen?«

»Schweig! Ich will nicht!« schrie Holten auf, die Hände an die Schläfen pressend. Er fühlte es: Die Widerhaken des Zweifels hatten schon gefaßt, aber wie ein Verzweifelter riß er, sie aus der Wunde zu zerren. »Es ist ja nicht wahr! Nie und nimmer! Weil es uns beiden nicht glückte, warum soll's immer so sein? Du siehst alles grau in grau. Kein Wunder! Du bist eben eine gänzlich verbitterte, von Zweifelsucht zerfressene Frau, aber sie – –«

»So?« Jäh reckte sich ihre Gestalt auf, und aus den düstern Augen lohte es ihm entgegen. »Und daß ich es bin, wem dank ich's? Wem hab' ich Jugend und Frohsinn geopfert, mein gläubiges Vertrauen auf Gott und Menschen? – Jetzt betört dich der Liebreiz dieses jungen Geschöpfes, das vom Leben noch nichts kennt. Aber laß sie erst das ›Glück‹ der Frau kennen lernen! Vielleicht besinnst du dich – – wenn's dir jetzt auch noch kaum glaublich erscheint – – auch mich hast du einmal deine kleine, frohe Hauslerche genannt! Das Jubeln ist mir allerdings gründlich verleidet worden!«

Aus ihren bitteren, ihm heftig entgegen geschleuderten Worten klang zugleich solch unsagbares Weh, daß Holten bei all seiner Erregung davon berührt wurde.

»Verzeih,« bat er leise. »Ich wollte dich nicht kränken. Ich wollte ja nur –«

»Ich weiß, du suchst nach Gründen, um dich vor dir selber zu schützen. Ich kenne ja deine Art zur Genüge. In dir selber bohrt schon der Zweifel, aber um so hartnäckiger wirst du deine wankende Position gegen mich verteidigen. Doch es wird dir nichts nützen. Die unerbittliche Vernunft wird siegen – und dir zum Segen.« Sie wandte sich langsam zum Gehen.

»Du irrst!« Im letzten Trotz schrie er es ihr nach. »Nichts ist in mir erschüttert – nichts!«

Da blieb sie noch einmal stehen und sah ihn mit ihrem durchdringenden Blick an. »Soll das letzte Wort, das ich von dir höre, eine Lüge sein?«

Es traf ihn wie ein Peitschenhieb. Dann stöhnte er auf, die Hand vor die Stirn schlagend. Ihm standen mit einem Male in unbarmherziger Klarheit jene Momente vor Augen, wo er sich von Fränzls jugendlicher Oberflächlichkeit abgestoßen gefühlt hatte. Das einmal wachgerufene Mißtrauen würde nun nicht mehr schweigen!

Milder klang ihre Stimme: »Füg' dich in das Unvermeidliche, das Notwendige, und schüttle den Traum ab. Das Leben wird dir Trost geben.«

Holten sprach nichts, aber langsam ließ er sich auf dem Stuhl am Fenster nieder, wo er gestanden hatte – ihr abgewandt, das Gesicht in die aufgestützte Hand verbergend. Seine ganze Haltung verriet: Er war überwunden.

Eine Weile stand die Frau unbeweglich, das Haupt gesenkt, dann trat sie zu ihm hin.

»Leb' wohl, Kurt.« Leise klangen die Worte an sein Ohr. »Und such' zu vergessen, daß ich dir noch einmal weh getan habe. Es war das letztemal.«

Holten verblieb in seiner Haltung, ohne aufzusehen, aber er streckte ihr in matter Bewegung die Rechte hin.

»Leb' wohl, Renate, wir haben ja nun wohl jeder den Trost, daß der andere nicht glücklicher ist.«

Einen Augenblick spürte er die Berührung ihrer eiskalten Hand, danach ein leises Rauschen des Gewandes, und die Tür schloß sich hinter der Scheidenden.

Holten verweilte unbeweglich an seinem Platz am Fenster und starrte mit brennenden Augen auf die fernen Bergzinnen draußen. Aber er tauschte keine Seelengrüße auf lichten Höhen. Er sah, wie dort droben der letzte rosige Schein zu fahlem Grau erblich.

 


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