Paul Grabein
Das stille Leuchten
Paul Grabein

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VIII.

Langsam wandelte Holten in der Finsternis auf dem Plateau auf und nieder. Immer und immer wieder stand der Augenblick eben da am Fenster vor seiner Seele, die süße Seligkeit, wie er das geliebte Mädchen unter seinem Handkuß hatte erzittern fühlen, und zugleich die harte Notwendigkeit, die Folgen aus diesem Selbstvergessen zu ziehen. Und es ward ihm klar: Das da vorhin mußte ihr letztes Beisammensein gewesen sein, keinen Schritt weiter durfte er es jetzt kommen lassen. Er mußte sich heimlich trennen von ihr, ohne Abschied, unter irgendeinem Vorwande morgen in aller Frühe, ehe die anderen noch an den Aufbruch dachten.

Der Entschluß war gefaßt, und er wollte gleich alles Nötige mit Hilfe des Führers vorbereiten; wie er aber ins Haus treten wollte, kam ihm auf der Schwelle Ruth entgegen, im Pelerinenumhang – auch sie wollte ins Freie. Welch unglückseliger Zufall, daß er ihr noch einmal begegnen mußte! Seine vom Licht des Fensters beschienene Miene verriet dem Mädchen, was er dachte.

»Verzeihen Sie, wenn ich Sie noch einmal suchte, Herr Doktor,« bat sie leise. »Fränzl beauftragte mich, Ihnen gute Nacht zu sagen. Es war ihr vorhin unerträglich heiß drinnen geworden, aber nun ist ihr wieder wohler. Sie läßt Ihnen selber noch recht, recht gute Besserung wünschen.«

Holten war wieder in den Schatten des Hauses getreten, so sah sie sein zuckendes Gesicht nicht. Das liebe, liebe Kind! Sie wollte ihm auf diese Weise sagen, daß sie ihm nicht zürnte, und ihm einen heimlichen Herzensgruß senden. Wie schwer wurde ihm das letzte doch gemacht.

»Gute Nacht, Herr Doktor, und möchten Sie morgen wieder aus froheren Augen in die Welt blicken!« Taktvoll wollte sich Ruth gleich wieder zurückziehen, obschon sie offenbar die Absicht gehabt hatte, noch mit ihm ein Weilchen draußen zu bleiben. Sie war, ihm die Hand zu reichen, einen Schritt vor in den Lichtkreis des Fensters getreten. Als ihn nun ihre klaren Blicke so mit aufrichtiger Teilnahme ansahen, fühlte er, wie ihr gütiges, stilles Wesen in dieser Stunde seiner schmerzzerrissenen Seele doppelt wohl tat, und ihn faßte der Wunsch, jetzt in der Nähe einer verständnisvollen Freundesseele zu weilen.

»Bleiben Sie doch noch – bitte!« Er hielt sie bei der schlanken Hand zurück, die sie ihm zum Gutenacht-Gruß gereicht hatte. Sie suchte seine Augen – die baten sie so sehr mit trauriger Bitte – da gab sie nach.

»Wenn ich Sie wirklich nicht störe,« und sie trat näher zu ihm heran.

»Im Gegenteil, es tut mir so wohl, in diesem Augenblick noch einen Menschen um mich zu haben.«

Sie schwiegen beide und schritten langsam, jeder in seine ernsten Gedanken verloren, nebeneinander im Dunkel her. Holten rang mit seinem Herzen. Es verlangte ihn im Innersten danach, sich Luft zu machen – wenigstens ihr – der Freundin, anzudeuten, was ihn so ohne Abschied von Fränzl in Nacht und Nebel trieb. Schließlich war er es Fränzl doch auch schuldig, ihr, wenn sie es begehren sollte, den wahren Grund zu enthüllen, damit sie nicht in trostlosem Grübeln sich womöglich noch selbst die Schuld beimaß. So blieb er denn plötzlich stehen.

»Fräulein Henning, es ist nur lieb, daß ich Sie hier ohne Zeugen sprechen kann – ich habe Ihnen eine ernste Mitteilung zu machen.« Noch einmal schöpfte er Atem. »Ich muß Sie beide morgen in aller Frühe verlassen – ohne Abschied.«

Ruth erschrak heftig. »Aber mein Gott – warum denn?«

»Um Fränzls willen!« Da war es heraus, und fest folgten nun seine Worte. »Darf ich offen zu Ihnen sprechen, Fräulein Henning – wie zu einem Freunde?«

»Wenn Sie mich der Ehre für wert halten.« Eine unverkennbare Zurückhaltung klang aus ihren Worten. Sie fand offenbar sein Verhalten Fränzl gegenüber ganz unbegreiflich.

Holten suchte einen Augenblick nach Worten. »Es kann mir natürlich nicht gleichgültig sein, wie Sie und in allererster Linie natürlich Fräulein Fränzl über mich denken. Ich bin mir ganz selbstverständlich dessen bewußt, daß mein Verhalten Fräulein Fränzl zu Erwartungen berechtigte, die ich nun zerstören muß.«

Innerste Qual zitterte in seinen Worten, aber Ruth schwieg weiter.

»Zu meinem eigenen, tiefsten Leid – so wahr ich hier vor Ihnen stehe,« beschwörend drangen seine Worte an ihr Ohr. »Aber, ich kann nicht anders – ich kann nicht!«

»Ich muß es Ihnen wohl glauben.« Tiefernst erwiderte es Ruth. »Aber es fällt schwer bei einem Manne, der wie Sie doch völlig frei ist.«

»Ich bin es nicht.«

»Wie?« erschreckt starrte ihn Ruth an. Dies Wort konnte doch nur eine Bedeutung haben; aber nein, nein – es war ja doch nicht denkbar! Der Mann konnte doch nicht die Frivolität gehabt haben, mit einem liebenden Herzen zu spielen, während ihn eheliche Bande an eine andere knüpften?

»Sie sind doch nicht verheiratet?« entfuhr es ihren Lippen.

»Ich war es – aber in wenigen Tagen löst der Richterspruch auch formell ein Band, das schon seit Jahren völlig zerrissen war. Ich wäre also von Rechts wegen frei, zu tun, was ich will – aber ich kann es nicht, aus innerer Unfreiheit!«

»Das verstehe ich nicht,« kam es fest von Ruths Lippen. Schärfste Mißbilligung klang aus ihrem Ton.

»Fräulein Henning, ich kann es begreifen, daß ich im Augenblick wie ein gewissenloser Abenteurer vor Ihnen stehe. Aber hören Sie mich an, Sie müssen mich verstehen – ich könnte Ihre Verachtung nicht ertragen.« Tief schöpfte Holten Atem.

»Ich habe geheiratet, vor fast zehn Jahren. Ich war also damals noch ein unfertiger Mensch, und doch dünkte ich mich schon wunder wie reif! Gewiß, ich war ernst, meinen Jahren weit voraus, aber mir fehlte doch ganz die Erfahrung mit dem Weibe. Meine Frau war meine Jugendliebe gewesen. Anfang der Zwanziger, wo andere junge Männer erst anfangen, ihr Leben mit Verstand zu genießen, band ich mich schon durch das Verlöbnis. Nach ein paar besinnungslos durchtollten Studentenjahren leistete ich also aus freien Stücken auf das höchste Gut des Lebens, auf die Freiheit, Verzicht, ohne sie überhaupt erst gewürdigt zu haben.

Das gleiche tat meine Frau; als siebzehnjährige Braut entsagte sie ihrer Mädchenfreiheit, zwei Jahre später nahm sie die Bürde der Ehe auf sich – als ein Kind noch, das kaum erst ins Leben hineinzublicken begonnen hatte.

Nun, es kam denn auch alles, wie es mußte. Der erste Rausch verflog schnell, und dann, wie es an die bitter ernste Arbeit ging, an das wirkliche Sichkennenlernen und Aneinanderpassen, da traten immer klarer, immer schroffer die unüberbrückbaren Gegensätze unserer Naturen hervor. Im engen Bereich des Hauses, zwischen den Widerwärtigkeiten des täglichen Lebens, stießen wir uns beständig aufs schmerzlichste. Aber wir gaben unsere Sache nicht verloren. Wir rangen miteinander, unablässig, unbarmherzig, uns einander anzupassen – so, daß unsre wunden Seelen nicht mehr zur Ruhe kamen.

Bei Gott, Fräulein Henning, es war uns heiliger Ernst! Wir liebten uns ja aufrichtig, wir wollten ja nach wie vor nichts anderes, als nur miteinander glücklich werden! Und so haben wir denn bis an den Rand unserer Kraft, erst um unser Glück, dann nur noch um den bloßen Frieden gerungen, aber das Schicksal wollte es anders. Anstatt uns unselige Menschenkinder mitleidsvoll zu stärken und zu stützen, schlug es unbarmherzig auf uns ein, bis wir verzweifelt zusammenbrachen.

Schon ein Jahr nach unsrer Eheschließung hatte meine arme Frau neben den Kümmernissen unserer Ehe noch die ernsten Sorgen der Mutterschaft zu tragen bekommen, und sie lasteten trostlos schwer auf ihr. Ein quälendes Leiden zehrte seit jener Stunde an ihrer Kraft, sie hatte dem Kinde, dem Manne ihre blühende Gesundheit zum Opfer gebracht. Mit der Krankheit kam die wirtschaftliche Sorge ins Haus. Das zerrieb den Rest ihrer seelischen Widerstandskraft und allmählich auch die meine. In stumpfer Resignation liefen wir schließlich nur noch nebeneinander her; unsere Seelen, die sich einst vergöttert hatten, waren kalt und fühllos geworden; und bisweilen, wenn uns die Verzweiflung zu ersticken drohte, loderte es fast wie Haß gegen den anderen daraus hervor.

Und dennoch hielten wir auf dem verlorenen Posten aus, wir mußten ja – um des Kindes willen dieses armen unseligen Geschöpfes!«

Holtens Stimme, die bisher in dumpfer Ruhe gesprochen hatte, begann leise zu zittern.

»Wenn ich daran denke, könnte ich heute noch verzweifeln. Wir beide liebten Klaus.« Ruth erbebte im Innersten bei dem Namen. Nun wußte sie, warum er damals im Wirtshaus zu Ilsank plötzlich so düster verstummte. – »Und wie hing das unselige Geschöpfchen an uns beiden. Das war es eben, was uns beieinander hielt. Wir konnten ihm die Qual nicht antun, eines der Eltern aus seiner Seele zu reißen. Ihm zuliebe suchten wir vor seinen unschuldigen Kinderaugen unsern Zwist, unser Elend zu verbergen, aber doch ging so manchmal die aufgepeitschte Leidenschaft mit uns auch in seiner Gegenwart durch, und in trostlosem Zwiespalt irrte das arme Kind dann vom Vater zur Mutter, verzweifelt den kleinen Versöhner zu machen. Das anzusehen, war das Fürchterlichste für uns, und mit dem Rest meiner Energie rang ich nach einem Entschluß, dem ein Ende zu machen – und wenn ich mich selbst um die letzten Trümmer meines Glücks bringen sollte. – Da machte der Himmel allem ein Ende. Mein lieber kleiner Klaus erkrankte an einem schweren Typhus, und nach kurzem Kampf starb er.«

Holten verstummte; er wollte Ruth nicht die von neuem blutende, alte Wunde zeigen. Auch das Mädchen schwieg; aber ein leiser Laut wie ein verhaltenes Aufschluchzen verriet ihm, wie erschüttert es war. Ihm war, als ob es ihm im Geist im warmen Mitleid die Hand drückte, und dies tat ihm unsagbar wohl. Nach einer Pause fuhr er tonlos fort:

»Meine Frau war selber dem Ende nahe, als sie an der kleinen Bahre zusammenbrach. Aber das Schicksal gönnte ihr die letzte Ruhe noch nicht – sie kam wieder zu sich. Doch als sie wieder zum Leben erwachte, da war das Herz in ihr erstorben. Sie irrte ruhelos durchs Haus mit versteinertem Antlitz und mit versteinerter Seele, aus der jedes weiche Regen verschwunden war. Und als der Sarg unsres Kindes der Erde übergeben war, da ging seine Mutter von mir – sie hatte ja nun nichts mehr mit mir gemein.«

Ruth blickte tränenden Auges auf den Mann vor sich. Was mußte er gelitten haben, was in sich niedergekämpft, daß er mit so starrer Ruhe davon sprechen konnte.

»Sie wünschte, daß ich gleich unsre richterliche Scheidung einleiten sollte – alle Halbheit war ihr zuwider – aber ich weigerte mich. Im letzten Winkel meines Herzens fristete noch ein kümmerliches Hoffen sein Dasein: Die Zeit möchte sie heilen und mir doch noch einmal zuführen, daß wir über dem Grabe unseres Kindes wenigstens noch den Frieden unseres Lebens fänden. – Aber ich wartete vergebens. Ich stürzte mich damals in die Arbeit, vergrub mich in die Einsamkeit, um meine Ruhe wiederzufinden. So vergingen zwei Jahre. Da ließ meine Frau, die ferne von mir gelebt hatte, es mich wissen, sie sei nun dieses Zwitterzustandes müde. Worauf ich denn noch wartete? An ihrem Entschluß werde sich nichts ändern. Es wäre für uns beide das beste, wenn uns nichts mehr an die unselige Vergangenheit erinnern würde – sie bestände daher auf der richterlichen Lösung unserer Ehe.«

Holtens Stimme wurde noch leiser. »Da begrub ich auch die letzte Hoffnung und tat nach ihrem Willen. – Und ich suchte nun, mich innerlich loszuringen von dem, was abgestorben in mir war. Ich mußte, ich wollte die volle Kraft zum Leben wieder haben; der Ballast meines versunkenen Glücks durfte mir nun nicht länger mehr die Schwungkraft lähmen, deren ich bedurfte, nun ganz meiner Arbeit zu leben – in der ich nun ja den höchsten Zweck, die Freude meines Lebens suchen mußte.

Es gelang mir, meine trübseligen Erinnerungen allmählich zurückzudrängen, der Wille zum Leben wurde wieder stark in mir, die Kraft zu Taten fand sich zurück. Aber eins wollte sich noch immer nicht einstellen, die freudige Frische, der Schwung, der der Arbeit erst das Höchste verleiht. Um nur die Jugend zurückzugewinnen, kam ich hierher in die Berge, und ich fand sie – ich lernte Fränzl kennen.«

Tief schöpfte Holten Atem.

»Sie haben es ja selbst mit angesehen, wie allmählich unter ihrem sonnigen, lebensprudelnden Wesen mein schwerfälliger Ernst hinschwand, wie mir die Frische des Empfindens, die sorglose Freude am Dasein wiederkehrte. War es da nicht fast selbstverständlich, wenn ich ihr, die dies Wunder wirkte, alles schenkte, was ich im Herzen noch zu vergeben hatte, daß mich die Sehnsucht nach einem neuen, wahren Glück nicht mehr losließ? Und so kam es über mich. Das törichte Herz, das nach seiner verlorenen Jugend schrie, übertönte die Stimme der Vernunft – ich gab mich schrankenlos dem süßen Traum von Glück und Liebe hin.«

»Und warum muß es nur ein Traum sein?« Leise fragte es Ruth.

Holtens Brust hob sich in tiefem, schwerem Atemzuge.

»Weil seine Verwirklichung nur Unheil bringen würde über mich, aber – was mir schwerer wiegt – auch über sie, die Liebe, Gütige, der ich doch mit meinem Willen nicht das leiseste Leid antun möchte. Ein Zufall – nein, eine Fügung des Schicksals – hat mir noch in letzter Stunde, gestern abend, die Augen geöffnet, hat mir die Grundverschiedenheit unserer Charaktere gezeigt. Fränzl ist eine unverbrauchte Natur, die mit jedem Pulsschlag nach dem Leben verlangt, nach einem frohen, reichen Leben voll bunten Wechsels und Anregung. An meiner Seite, der ich im Grundton meines Wesens ernst und stetig gestimmt bin, der gern in Ruhe verharrt, würde sie bald Licht und Luft entbehren, sie müßte verkümmern.«

»Malen Sie sich nicht selber zu schwarz?« wandte Ruth ein. »Sie haben sich doch – wie Sie selbst sagen – hier so erfrischt und verjüngt. Sie konnten doch so heiter sein –«

»Ferienstimmung!« schnitt ihr Holten traurig das Wort ab. »Das verfliegt daheim bald wieder zwischen den engen vier Pfählen. Und wohl mehr noch der Rausch des jungen Glückes. Aber ich weiß, wie schnell ihm die Ernüchterung droht.«

Hoffnungslos verhallten seine Worte. Da entschwand auch Ruth das letzte geheime Hoffen. Traurig sank ihr Kopf nieder. Sie mußte es aufgeben, für die Freundin das Glück halten zu wollen. Es floh dahin – unwiederbringlich.

»So, Fräulein Henning, nun wissen Sie alles. Und nun sprechen Sie mir mein Urteil.«

Müde drang die Stimme des Mannes an ihr Ohr. Über seinem ganzen Wesen lag eine unendliche Trauer. Sie fühlte es, er gab ein Stück Leben in dieser Stunde hin. Da faßte sie ein tiefes Mitleid auch mit ihm an. Sie streckte ihm die Hand entgegen:

»Ich verstehe Sie ganz, und ich achte Ihre Gründe.« Mit innigem Dank preßte der Mann ihre Rechte, wortlos. Dann gab er sie frei.

»Und nun werden Sie auch begreifen, Fräulein Henning, daß mich der morgige Tag nicht mehr in Fränzls Gesellschaft sehen darf. Ich hätte schon heute ein Ende gemacht, aber ich wollte Sie bei Ihrer Partie nicht im Stich lassen, wo alles ja schon vorbereitet war. Ich hoffte, mich soweit zu beherrschen, daß ich Ihnen den Ausflug nicht verderben würde. Aber vorhin, in einer unbewachten Minute, brach das Gefühl bei mir durch. Fränzl muß morgen früh meine offene Erklärung erwarten – sie darf mich also nicht mehr sehen.«

Ruth nickte stumm. Er hatte recht.

»Ich werde schon um drei aufbrechen. Bitte, sagen Sie dem Führer, eine dringliche Depesche, die ich heut abend noch hier spät durchs Telephon übermittelt erhalten hätte, hätte mich sofort nach Berlin zurückberufen – in beruflicher Angelegenheit. Sagen Sie es auch, bitte, Fräulein Fränzl und –« seine Stimme wurde leiser – »wenn sie sich wundern sollte, daß ich so gar nichts mehr von mir hören lasse, so erzählen Sie ihr von meinem heutigen Bericht, soviel Sie für nötig halten – daß sie meiner wenigstens nicht mit Verachtung gedenkt.«

In tiefster Bewegung biß er die Zähne aufeinander.

»Vertrauen Sie auf mich,« sagte Ruth ernst. »Sie wird alles verstehen und verzeihen.«

»Und überwinden,« ergänzte Holten. »Ihre gesunde, junge Natur wird sich von dem Schlage wieder erholen. In ihren Jahren,« wehmütig klangen seine Worte, »lernt man so etwas ja überwinden und vergessen.«

»Nicht immer!«

Fast bitter entfuhren ihr die raschen Worte. Verwundert blickte Holten auf. Sie fühlte es, und schnell fügte sie in gleichgültigerem Tone hinzu:

»Aber wir wollen es für Fränzl hoffen. Ihre frohe Jugend ist nicht zum Vertrauern geschaffen.«

»Sie haben recht,« raffte sich Holten auf. »Es wäre pure Selbstsucht, anderes zu wünschen. Und mit diesem Trost, daß sie nicht daran zugrunde gehen wird, darf ich mich ja nun zum Gehen wenden. Auch unsere Scheidestunde hat damit geschlagen, Fräulein Henning. Sie haben mich wohl inzwischen genugsam kennen gelernt und wissen, es ist keine Phrase, wenn ich Ihnen sage: Es tut mir herzlich leid, daß das Schicksal mit Fräulein Fränzl mich zugleich auch Ihre Freundschaft verlieren läßt.« Er streckte ihr zum Abschied die Hand hin, in die sie langsam die ihre legte. »Haben Sie Dank für das aufrichtige Interesse, das Sie mir stets bekundet haben, Fräulein Henning, und behalten Sie mich ein wenig in gutem Andenken.«

Er schüttelte ihr bewegt die Hand.

»Es fällt mir schwer zu denken, daß ich Sie nie mehr sehen soll – wahrhaftig, Fräulein Henning. Wenn man sich so aneinander gewöhnt hat wie wir in diesen unvergeßlichen Wochen. Lassen Sie mir, bitte, wenigstens die Hoffnung, daß ich Sie einmal wiedersehen darf, später, wenn das mit Fräulein Fränzl längst alles vergessen, wenn sie selbst darüber lächelt – ja, darf ich das, liebes Fräulein Henning?«

Ruth schwieg eine Weile still, aber in ihrem Innern war heftigste Bewegung. Wenn er wüßte, wie ihr in dieser Stunde zumute war – was sie in diesen ganzen Wochen, die ihm eine Seligkeit gewesen waren, gefühlt und gelitten hatte, still für sich. Aber so bitter die Entsagung gewesen war, auf das eigene Glück und die aufrichtige Teilnahme an dem der Freundin, so hatte sie doch an seiner Seite dahingehen, an seinem Seelenleben teilnehmen dürfen. Nun aber war das alles aus; der spärliche Lichtschein erlosch, der in ihr einfaches Leben gefallen war; nun kam wieder das ewige Einerlei des grauen Alltags.

»Kommen Sie, wenn Sie dann noch wollen,« nickte sie endlich mit schwachem Lächeln; aber sie glaubte selber nicht daran. Was das Leben erst einmal auseinandertreibt, das findet sich nie wieder. Sie wußte es aus eigener, bitterer Erfahrung.

»So leben Sie wohl, Fräulein Henning!«

Ein letzter, bewegter Händedruck – ihm war, als spüre er ein leises Beben in ihrer zarten Rechten – dann trat er von ihr zurück und schritt schnell ins Haus hinein, zum Schlafsaal, sein Lager aufzusuchen, auf dem ihm doch kein Schlummer kommen würde.

Regungslos stand Ruth noch lange draußen allein in der Finsternis. Ihre Augen brannten, doch keine erlösenden Tränen netzten ihr die Wimpern. Dann aber kam der Gedanke in ihr zur Herrschaft: Genug des eigenen Leids! Du mußt das der anderen tragen helfen. Vor allem Fassung, daß sie nicht schon jetzt etwas merkt! Und mit ihrer gewohnten, freundlich-ruhigen Miene ging sie endlich hinein, zur Freundin in die Kammer. Sie fand Fränzl schon im Schlaf; sie selber aber lag angekleidet die ganze Nacht auf dem Lager und ihre Gedanken weilten bei ihm, der da unten – sie wußte es – auch ohne Schlummer sich umherwarf. Was konnte das Leben doch trostlos sein! – –

* * *

Am anderen Morgen, im ersten Grauen des Tags, schritt ein einsamer Wanderer den Weg zu Tal, rastlos, ohne still zu stehen oder das Auge zurückzuwenden – Holten. Nur dann und wann irrte sein Auge hinunter, wo in den Tälern und Schluchten ein schwerer, grauer Nebel schwamm. So wanderte er, bis er an den Fuß des kahlen Bergkegels gelangt war und das graue Meer drunten sich lichtete und löste und in wirren Fetzen um Klippen und Schroffen zu schweben begann. Da merkte er: Die Sonne kam. Und er stand still, wandte sich rückwärts und starrte nach Osten, bis der erste rosige Schein am Himmel aufglänzte. Da suchte sein Auge oben die Höhe, wo das Haus stand.

Dort erwachte im goldenen Morgenschein in Sälen und Kammern frohes Leben, und nach eiliger Toilette schlüpfte alles wieder hinaus, frisch gestärkt zu neuer, freudiger Bergfahrt. Fröhlich plaudernd hatte Fränzl sich angezogen, ihr war heute so ganz anders, so voll frischer Zuversicht zumute. Ein süßes Ahnen sagte ihr, daß er heute das erlösende Wort sprechen würde – noch brannte ja sein Kuß auf ihrer Hand. In ihrer sonnigen Stimmung, beständig schwatzend und lachend, war ihr Ruths stilles Wesen und bleiches Aussehen beim Anziehen gar nicht aufgefallen. Dann hatte sie schnell den Kaffee drunten in der Gaststube eingenommen. Lachend hatte Fränzl sich damit gesputet; wie sie sich freute, den Langschläfer nachher zu necken, der noch immer droben im Schlafsaal war.

»Weißt du was, Ruth'l? Wir machen uns schon immer fix und fertig und erwarten ihn so draußen. Der wird schöne Augen machen, wenn er runter kommt.«

Ruth nickte nur ernst, und so standen sie wenige Minuten später wirklich marschbereit draußen auf dem Plateau. Fränzl wollte sich auf eine der Bänke niedersetzen, aber da ergriff die Freundin ihre Hand.

»Komm, wir wollen gehen.«

Fränzl lachte sie verwundert an. »Wie soll uns denn Holten da finden?«

Fester fühlte sich Fränzl ergriffen.

»Er ist schon fort.«

»Was? Schon voraus? Und da läßt du mich hier so lange trödeln?« Vorwurfsvoll wollte sich Fränzl von der Freundin losmachen, aber die umschlang plötzlich deren Schulter.

»Nicht voraus, Fränzl. Er ist fort.«

»Was soll das heißen?« Mit einem Ruck schleuderte das Mädchen den Arm zurück und starrte mit weitgeöffneten Augen die andere an.

»Holten hat noch gestern spät eine Depesche erhalten, die ihn nach Haus rief – nach Berlin in dringlicher, beruflicher Angelegenheit. Er ist daher schon heute ganz früh aufgebrochen.«

Mit höchstem Befremden blickte Fränzl auf Ruth. »Woher weißt du das alles?«

»Er hat es mir gestern abend gesagt.«

»Und ohne jeden Abschied von mir? – Ruth!« Sie packte die Freundin. »Sag' mir die Wahrheit! Das mit der Depesche ist nur eine Ausrede – er ging um meinetwillen!«

Ruth mußte vor ihrem durchdringenden Blick die Augen senken.

»Ruth, wenn du mich nur einen Funken lieb hast – sag' mir die Wahrheit!« flehte Fränzl.

Da sah Ruth sie mit tiefem Mitleid an.

»Du ahnst richtig«, sagte sie leise. »Und er läßt dir sagen –«

»Laß!« Stolz richtete sich Fränzl auf. »Wer sich in Nacht und Nebel von mir schleicht, der hat mir nichts mehr zu sagen. – Ich hole den Führer – wir gehen.« Und sie schritt zum Hause zurück.

Ruth ließ sie gewähren. Gut so, daß ihr Stolz über den ersten Schmerz hinweghalf. Die Stunde würde nicht ausbleiben, wo sie ihren Trost brauchte. Dann war es Zeit, ihr zu sagen, was ihr Holten anvertraut hatte, und dann wollte sie ihr Wort einlösen: Fränzl sollte lernen zu verzeihen und zu vergessen.

* * *


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