Paul Grabein
Das stille Leuchten
Paul Grabein

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V.

Bitte, Frau Kuhlmann, besorgen Sie dann noch ein wenig Gebäck. Ich sagte Ihnen ja schon heute vormittag, Herr Dr. Holten hat sich heute zu einer Tasse Kaffee angesagt!«

Ruth sagte es von ihrer geöffneten Stubentür zu der Wirtin, die sie eben draußen auf dem Korridor hatte vorübergehen hören.

»Ja – ja – sei'n Sie man ohne Angst. Wird schon alles besorgt werden.«

Mit erstaunten Blicken, völlig betroffen, starrte Ruth auf die nach der Küche gehende Frau, die nun mit absichtlicher Wucht die Tür hinter sich zuwarf.

Was war das? Fast erschrocken schloß Ruth ihr Zimmer und begann zu überlegen: Hatte sie denn der Frau etwas getan? Daß diese sie plötzlich so unwirsch, ja förmlich mit Nichtachtung behandelte? Sie hatten sich doch sonst immer so gut gestanden, und es war doch gar nichts zwischen ihnen vorgefallen, wie sehr sie sich jetzt auch den Kopf zerbrach. Sie hatte sich ja freilich in den letzten Wochen wohl nicht viel mit ihr abgegeben; aber mein Gott, das war ihr doch wirklich nicht zu verdenken gewesen, in dieser Zeit, wo sie innerlich mit sich wieder ins reine kommen, den Schlag erst verwinden lernen mußte, den ihr damals Holten zugefügt hatte. Das war doch gewiß eine bitterernste Prüfung gewesen, zum zweitenmal so schwere Enttäuschung ertragen zu müssen. Sie hatte anfangs geglaubt, daß sie das diesmal nicht überstehen würde, zu tief war sie im Innersten getroffen. Und sie meinte es sich selbst nie verzeihen zu können, daß sie noch einmal so leichtgläubig gewesen war, ihrem törichten Herzen allzu schnell Gehör geschenkt hatte. Wie hatte sie sich nur erst in diesen Wahn hineinphantasieren können! Und doch hatte sie schließlich mit der geschulten Kraft ihres Willens gelernt, sich zu überwinden, ja auch das hundertmal Schwerere noch – trotz allem was geschehen – mit Holten noch weiter zusammenzukommen.

Ihr Gerechtigkeitsgefühl zwang sie dazu anzuerkennen, daß ihn keine Schuld traf. Er hatte ja nie etwas gesagt oder getan, was sie zu ihren törichten Hoffnungen berechtigt hätte. Wenn sie seine freundschaftlichen Empfindungen falsch auslegte, ebenso wie seine ganze harmlose Frage damals unter dem Weihnachtsbaum, so war es doch allein ihre Schuld. Und sollte sie ihn das nun entgelten lassen? Sollte sie dem Einsamen, der so dankbar doch war für das, was ihr freundschaftlicher Verkehr ihm bot, dieses Licht in seinem Leben wieder entziehen, ihn wieder in freudloses Dunkel zurückstoßen? Es wäre doch nur niedere Selbstsucht gewesen, so zu handeln, und deren war sie nicht fähig. Wenn es auch noch so schwer war, sie mußte lernen, mit ihm nach wie vor zu verkehren, ihn nichts merken zu lassen von dem, was innerlich in ihr zerbrochen war – das war einfach ihre Pflicht, wenn sie es aufrichtig gut mit ihm meinte.

Und Ruth hatte diese Pflicht heldenhaft erfüllt. Mit dem alten freundlichen Lächeln, mit unveränderter herzlicher Güte war sie ihm gleich das nächste Mal wieder gegenübergetreten, als ob nichts zwischen ihnen geschehen wäre. Es war ja schließlich auch kein Wort gefallen, das ihnen nun hätte peinlich sein müssen. Aber freilich, das, was unausgesprochen damals mit ihnen geschehen war, es war doch nicht aus der Welt zu bringen mit allem guten Willen. Sie fühlten es beide nur zu deutlich: Seit jener Stunde hatte sich eine unsichtbare Schranke zwischen ihnen aufgerichtet. Es gab einen Punkt, wo sie sich nicht mehr vertrauensvoll einander aufschlossen, wo jeder scheu dem anderen auswich. Und dieses Bewußtsein, daß da etwas Schönes, Allerzartestes zwischen ihnen zerstört war unwiederbringlich, für immer – das breitete eine stille Trauer, einen herben Hauch von Resignation über ihr früher so frohherziges Beisammensein.

Diese Veränderung in ihren inneren Beziehungen drückte sich auch in ihrem äußeren Verhalten aus, und das war auch der scharf blickenden, stets nachspürenden Frau Kuhlmann nicht entgangen. Aha! Da stimmte etwas nicht mehr, hatte sie sich gleich gesagt. Sonst hätte ja auch unbedingt die öffentliche Verlobung kommen müssen, auf die sie nach dem Heiligen Abend tagtäglich höchst gespannt gewartet hatte. Sie hatte damals gleich allen Nachbarinnen im Hause erzählt, ihr Fräulein würde sich verloben; sie hatte sich dabei als Vertraute Ruths aufgespielt und so getan, als ob ihr diese selbst das bevorstehende frohe Ereignis unterm Siegel der Verschwiegenheit mitgeteilt hätte. Nun aber blieb das so sicher von ihr prophezeite Ereignis gänzlich aus, und das hatte ihr schon seit Wochen den Spott der Nachbarinnen eingetragen. Sie stand öffentlich blamiert da – als Schwätzerin und Lügnerin.

Das verzieh die in dieser Beziehung höchst ehrgeizige Frau aber Ruth nicht, und ihr Ärger auf diese wurde zum Haß, als ihre gelegentlichen Versuche, in Ruths Herzensgeheimnis zu dringen, den wahren Grund der Entfremdung zwischen ihr und Holten zu erfahren, kühl abgewiesen worden waren. Da hatte sie Rache geschworen und dieses Gelübde alsbald auch wahr gemacht. Am nächsten Tage flüsterten es sich alle Klatschbasen im Hause zu, daß da recht niedliche Dinge mit dem Fräulein im dritten Stock vorgekommen seien. Nun, dem Manne, dem Doktor, könne man es schließlich nicht verdenken, wenn er nun nächstens »abschnappe«. Es sei geradezu ein Skandal – so was mit einer städtischen Lehrerin! Solcher Person müsse man nun die Erziehung seiner Kinder anvertrauen – eigentlich sollte man doch der Schulbehörde von diesen unerhörten Dingen Mitteilung machen, und was die Lästerzungen derart noch mehr zischelten.

Ruth hatte natürlich nicht die geringste Ahnung von diesen im Dunklen schleichenden Verleumdungen. In ihrer Arglosigkeit hatte sie auf die gelegentlichen giftigen Blicke auf dem Treppenflur gar nicht geachtet, und selbst das veränderte Wesen ihrer Wirtin war ihr nicht ernstlich aufgefallen. Nun freilich, wo sie, darüber grübelnd, sich auf allerlei besann, fiel ihr ja manch verwunderliches Wort, manch sonderbarer Blick ein, über den sie sich früher nicht viel Gedanken gemacht hatte. Mein Gott, was mochte aber die Frau denn eigentlich gegen sie haben?

Ruth beschloß, sich darüber Gewißheit zu verschaffen und nachher, wenn Frau Kuhlmann den Kaffee bringen würde, diese offen zu fragen; jetzt aber schlug sie sich einstweilen die Gedanken aus dem Sinn. Die Uhr hatte eben drei geschlagen, und ihre kleinen Schützlinge, deren sie sich an mehreren Nachmittagen der Woche liebevoll annahm, mußten ja kommen. Wie gewohnt bereitete Ruth alles vor, machte den Sofatisch zum Arbeiten zurecht – sie förderte die Kinder privatim in ihren Schulaufgaben – und richtete der Kleinsten ihr Spieleckchen am Fenster ein.

Alles war im Stande, aber die Kleinen kamen nicht. Sonderbar! Sie waren doch sonst stets so pünktlich. Nun, vielleicht waren sie zu Haus etwas aufgehalten worden. Aber sie würden gewiß bald da sein. Ruth machte sich daher noch allerlei zu schaffen. Eine Viertelstunde verrann so, aber die Kinder kamen immer noch nicht. Was mochte da wohl nur bei ihnen zu Haus passiert sein?

Da tönte plötzlich draußen die Klingel. Nun endlich! Ruth ging, schon ein wenig ungeduldig, ihnen zur Tür entgegen. Draußen klopfte es, aber statt der Kleinen stand da Frau Kuhlmann auf der Schwelle, einen Brief in der Hand.

»Nanu? Sind denn die Kinder nicht gekommen?«

»Nein!« Mit unverkennbarer Schadenfreude und Hohn in der Stimme antwortete es Frau Kuhlmann. »Aber da – ein Brief von ihrer Mutter.«

Etwas unruhig nahm Ruth das Schreiben entgegen. Sollten die Kleinen etwa ernstlich erkrankt sein – an einer ansteckenden Krankheit? Schnell riß sie das Kuvert auf und las – aber was war das? Ihre Hände mit dem Brief begannen heftig zu zittern, und nun wurde sie totenblaß – das Herz stockte ihr vor Entsetzen, vor Empörung.

Mit gehässigem Lächeln beobachtete Frau Kuhlmann diese Anzeichen ihrer innersten Erregung.

»Na, was schreibt sie denn?« fragte sie lauernd, aber der höhnische Ton verriet, daß sie um den Inhalt des Schreibens nur zu gut wußte.

Statt jeder Antwort – sie war noch keines Wortes fähig – reichte Ruth mit zitternder Hand der Frau den Brief hin. Gemächlich nahm diese das Schreiben hoch und las, was da unorthographisch und schlecht geschrieben etwa heißen sollte:

Geehrtes Fräulein!

Es tut mir leid, aber ich kann meine Kinder nicht mehr zu Ihnen schicken. Die Leute im Haus reden schon alle, daß ich meine Kinder noch hingehen lasse, und als Mutter kann ich das nicht verantworten, wo ich mir doch alle Mühe gebe, daß meine Kinder nichts Schlechtes zu sehen kriegen sollen. Fräulein werden ja wissen, was ich meine. Es ist ja auch Fräulein ihre Sache, wo ich nicht rein reden will. Jeder kann ja auch tun und lassen, was er will. Aber ich als Mutter muß über meine Kinder wachen. Ich danke Fräulein auch schön für alles, was Sie den Kindern getan haben, und es tut mir ja sehr leid und den Kindern auch, die immer gern zu Fräulein gekommen sind. Aber das geht nun nicht anders. Und unsere Schuld ist das doch nicht.

Mit vielen Grüßen

achtungsvoll       
Frau Hulda Ziericke.

»Verstehen Sie das?« Noch immer blaß vor Erregung stieß es Ruth hervor.

Frau Kuhlmann faltete bedächtig den Brief zusammen und zuckte langsam die Achseln.

»Wie? Sie schweigen?« In aufsteigendem Argwohn faßte Ruth die Frau vor ihr ins Auge, die es vermied, ihr ins Gesicht zu sehen. »Sie billigen wohl gar diesen Brief? – Frau Kuhlmann, ich bitte – ich wünsche jetzt, daß Sie reden! Sagen Sie mir doch offen – ich beschwöre Sie – was haben Sie gegen mich? Was geht denn hier um mich vor?«

Angstvoll flehend streckte ihr Ruth die Hände entgegen, aber immer noch blieb die andere stumm.

»Mein Gott – so erbarmen Sie sich doch – sehn Sie doch, wie ich Sie bitte: Was habe ich Ihnen denn nur getan?«

Nun endlich regte sich die Frau. Mit den Händen sich die Schürze glatt streichend, die Augen aber immer nach unten gerichtet, brachte sie heraus:

»Gott doch, Fräulein – mir haben Sie ja nichts getan. Es geht mich ja auch gar nichts an. Wie Frau Ziericken schreibt, es ist ja schließlich allein bloß Ihre Sache – nur wegen der Leute im Haus und von wegen des Geredes – man ist doch auch 'ne anständige Frau, die auf sich hält –«

»Frau Kuhlmann!« Ein Schrei des Entsetzens, der tödlich verletzten Scham, schnitt der anderen das Wort ab. »Was – was soll das heißen? Meinen Sie – meinen Verkehr mit Herrn Doktor Holten?«

Wieder druckste die Frau herum.

»Gott, na ja – Fräulein können sich doch schließlich nicht wundern, wenn die Leute anfangen, darüber zu reden. Eine alleinstehende Dame, und 'ne Lehrerin obenein, und dann so oft Herrenbesuch! – Ja, wenn's der Bräutigam wäre, dann ginge das ja keinen was an – aber so!«

»Wie – Frau Kuhlmann – Sie könnten glauben –? Die Leute meinen –?« Kreidebleich war Ruth geworden.

Die Frau schwieg und zuckte nur ausweichend die Achseln.

Einen Augenblick war es Ruth, als müsse sie aufschreien im Gefühl ihrer tödlich verletzten Ehre. Sie hatte sich ja freilich hinweggesetzt – mit vollem Bewußtsein – über die landläufigen Anschauungen, aber daß das die Folge sein konnte, diese infame Verdächtigung! Mit einemmal wurde ihr nun die ganze Tragweite ihres Handelns klar: Sie hatte Ruf, Ehre, Stellung, ihre ganze Zukunft preisgegeben – sie war eine Geächtete.

Plötzlich schoß es ihr heiß in die Augen. Sie fühlte, daß sie sich nicht länger beherrschen konnte.

»Es ist gut – gehn Sie!« Mit letzter Willensanspannung wies sie der Frau die Tür. Aber als diese sich hinter Frau Kuhlmann geschlossen hatte, sank sie mit dumpfem Aufschluchzen auf dem nächsten Stuhl zusammen.

 


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