Paul Grabein
Das stille Leuchten
Paul Grabein

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IV.

Ruth stand am Fenster mit klopfendem Herzen in erwartungsseligem Harren. Ihr Blick flog die Straße entlang: Ob er denn noch nicht kam? Er wollte sie ja heute zu einem Nachmittagsspaziergang abholen, hinaus in den Grunewald, den dritten Feiertag zu begehen. Seit dem heiligen Abend hatte sie ihn nicht wiedergesehen. O, wie waren die Stunden endlos geschlichen, doppelt langsam, da sie auch auf Fränzls Antwort mit fiebriger Ungeduld gewartet hatte. Kaum hatte sie ein Auge in den letzten Nächten zugetan. Aber nun war ja alles gut – und rosig frisch strahlte ihr Gesicht, von innerer Seligkeit verjüngt. Heute Morgen war der ersehnte Brief aus Berchtesgaden angekommen.

Wie oft schon hatte sie ihn gelesen, sie konnte ihn wohl schon auswendig, und doch zog sie auch jetzt noch einmal den zerdrückten Bogen wieder aus der Tasche, schwarz auf weiß die Verbürgung ihrer Seligkeit vor Augen zu haben.

Meine liebe, liebe Ruth!

Nicht umgehend, wie Du gebeten, beantworte ich Deinen lieben Brief. Ich habe mich erst einen halben Tag lang mit meinen Gedanken herumgetragen. Nicht, als ob ich im Zweifel war, was ich Dir schreiben sollte, aber ich wollte mich selbst prüfen, ob auch vor ruhigerer Überlegung das standhielt, was ich gleich beim Lesen Deiner lieben Zeilen am liebsten Dir zur Beruhigung aufs Papier geworfen hätte. Nun ist es geschehen und ich weiß: Wie ich jetzt schreibe, so werde ich auch morgen und über Jahr und Tag, und immer, immer genau so empfinden.

Also, Liebste, Einzigste, von ganzem innigsten Herzen segne ich Dir das Glück, das über Dich gekommen ist, ohne jede Spur von Neid und Bitterkeit. Möchte nur – das ist der einzige Wunsch, der mich beseelt – dies Glück nie, nie trügen. Möge er, dem Du Dich zu eigen geben willst, auch wirklich die Gabe besitzen, Dich allzeit so glücklich zu machen, wie Du es verdienst.

Du darfst es mir glauben, es ist die reinste Wahrheit. Ich stehe Deiner Herzenswahl ganz, ganz ruhig gegenüber. Gerade diese letzte Prüfung hat es mir ja klar bewiesen, wenn es überhaupt noch nötig war: Ich habe die Sache mit Holten voll überwunden. Wäre es nicht, so hätte ja jetzt, in dieser Stunde, mein Herz noch einmal zu bluten anfangen müssen, Aber es geschah nicht. Wirklich, ganz ruhig, meine Ruth, habe ich Deine Nachricht aufgenommen. Ja, meine Mitteilung hat mir sogar nur in noch klarerem Licht gezeigt, was ich im Lauf ruhigen Nachdenkens mir schon so immer gesagt habe: Es ist gut, daß alles so gekommen ist. Holten und ich hätten nie zusammen gepaßt, es wäre nur ein maßloses Unglück mit uns geworden. Gerade jetzt, wo ich mir Euch beide nebeneinander denke, jetzt sehe ich so ganz und gar, wie grundverschieden meine und seine Natur ist – wie wunderbar Ihr dagegen zusammen paßt.

Daß ich nicht lüge, Ruth – ruhig zwar bin ich bei Deiner Nachricht gewesen, doch nicht ohne Trauer. Aber das nur – sei ohne Sorge, Geliebteste – weil mir dein Schreiben noch einmal die Erinnerung an all die Seligkeit meines kurzen Sommertraums so lebendig wach rief. Denn es war doch etwas, das man nicht so leichthin vergißt. Aber diese Wehmut hat doch nichts Trostloses, Vernichtendes – im Gegenteil, sie löst einem den Schmerz in so wohltuend lindernder Weise auf – die Brust wird frei und leicht dabei. Und so darfst Du denn, meine einzige Ruth, auch ohne jede Spur des Vorwurfes und der Selbstquälerei Dich Deinem Glück hingeben. Ich blicke aufrecht, mit ungebrochener Kraft in das Leben, voll festem Vertrauen, daß auch mir noch die Stunde meines wahren Glücks schlagen wird. Ich fühle es sogar mitunter jetzt schon: Ich muß es dem Schicksal danken, daß es meinem Herzen diese erste, ernste Erfahrung gab, es wird mir sicherlich zum Besten geraten.

Und nun leb wohl, meine gute Ruth. Ich eile zum Schluß, damit du Arme, Liebste, nicht länger in Angst auf meinen Brief wartest. Du liebe Närrin, daß Du Dir überhaupt solche Angst erst machen konntest! – Ob nun wohl bald die große Stunde deines Lebens für Dich kommen wird? Am Ende ist sie inzwischen schon dagewesen. Du Beste, Liebste, laß dich umarmen. Hurra! Meine Ruthimaus Bräutchen! Wie wonnig wirst Du in Kranz und Schleier aussehen. Natürlich macht Ihr hier bei uns Hochzeit. Das ist einfach selbstverständlich, gelt? – Und daß Du Dich nun nicht mehr in der ekligen, dummen Schule rumzudrücken brauchst. – Ach, ich möchte Dir ja noch tausenderlei sagen und Dich fragen, aber nun wirklich Schluß.

Tausend herzinnige süße Busserl, Du geliebte, einzige Ruthimaus, von deiner

treuen

Fränzl.

P. S. Und ihn grüß' auch von mir, – wenn's so weit ist – ich lasse ihm von ganzem Herzen Glück wünschen. Und er soll sich gar keine Gedanken machen – Du verstehst ja – Ich gönne Dich ihm gerne. Nur Deine Freundschaft muß er mir lassen, – hörst Du, das muß in den Ehekontrakt. Sonst geb' ich Euch meinen Segen nicht. Nochmals herzinnigste Küsse

Deine schlimme

Fränzl.

* * *

Endlich schrillte draußen die Klingel, Ruth fuhr in freudigem Schreck zusammen, und Frau Kuhlmann ging draußen auf dem Korridor vorüber, die Tür zu öffnen.

Nun trat Holten über die Schwelle, und ein geheimes, seliges Erzittern flog durch Ruths ganzen Körper. Er brachte ihr Rosen mit schwer hängenden Köpfen, wundervolle mattgelbe Rosen – das erste Mal, daß er ihr solche Aufmerksamkeit erwies.

»Darf ich mir erlauben, Fräulein Ruth?« Er überreichte ihr die Blumen, mit denen er sich für ihre Bewirtung neulich erkenntlich zu erweisen gedachte! aber überrascht blickte er auf sie. Wie eiskalt war ihre Hand, und sie bebte ja förmlich. »O – ist Ihnen nicht wohl, Fräulein Ruth?« Besorgt sah er sie an.

»Doch – doch!« Ruth verbarg verwirrt ihr Gesicht in den Blüten und wandte sich dann rasch ab, die Blumen ins Wasser zu stellen. »Aber wie wundervoll. Wie können Sie nur, Herr Doktor! Dank, tausend Dank!« Und nun wieder gefaßt, reichte sie ihm die Rechte.

Froh sah er ihr dabei ins Auge.

»Gott sei Dank, ich fürchtete im Augenblick schon, Sie wären nicht im Stand – die Influenza spukt ja wieder allenthalben – und es könnte aus unserem Grunewaldbummel nichts werden. Ich habe mich ja schon so darauf gefreut. Sehen Sie, wie die Sonne draußen lacht – ein Prachtwetter!«

Ruth sah zum Fenster hin, durch das schräg die zitternden Strahlen fielen, ihr goldenes Gitterwerk auf den Fußboden flechtend.

»Kommen Sie, daß wir keine Zeit verlieren,« drängte er, »die Freude währt ja leider nicht allzu lang.«

Eilends griff sie nach dem Jäckchen mit dem Pelzbesatz, aber schon war er bei ihr und half ihr in die Ärmel gleiten. Dabei sah er ihr vom Lichtschein durchleuchtetes Haar, das zarte Rot ihrer Wangen dicht vor sich. Kam es ihm nur so vor, oder war sie wirklich viel jugendlicher, blühender geworden in der letzten Zeit? Wirklich, sie war doch eigentlich noch ein wunderhübsches Mädchen. Daß ihm das früher gar nicht so zum Bewußtsein gekommen war!

Sinnend sah er dann vom Fenster aus zu, wie sie, ihm abgewandt, die schlanke Gestalt im schwarzen Tuchkleid anmutig etwas nach hinten gebeugt, mit hocherhobenen Armen sich Hut und Schleier vor dem Wandspiegel ordnete. Eine natürliche Grazie lag in ihren ruhigen Bewegungen. Zum erstenmal fand er, daß sie doch auch als Frau reizvoll war.

»So, endlich fertig!« Lächelnd drehte sie sich nach ihm um. »Hab' ich sehr lange auf mich warten lassen?« Während ihn ihre Augen durch die dunklen Maschen des Schleiers anstrahlten, befestigte sie im Ausschnitt des Jacketts eine Rose, eine der Blumen, die er ihr gebracht. Wundervoll hob sich der mattgelbe Kelch von dem weichen, dunklen Pelzbesatz des Aufschlags ab. Daß sie sich auch schmücken konnte! Er hatte es noch nie an ihr bemerkt. Aber es stand ihr so gut, dieser kleine, echt weibliche Zug.

Sie sah seinen halb staunenden, halb bewundernden Blick, und durch den Schleier wurde eine leichte Röte in ihrem Antlitz sichtbar. Rasch wandte sie sich ab.

»Nun nur noch den Schirm!« Und sie lief zum Schrank. »Für alle Fälle. Man kann ja nicht wissen.«

»Bei dem Wetter?« lachte er sie aus, und sie mußte mit einstimmen. Es war ja nur eine Verlegenheitsphrase gewesen.

»Sie haben recht, er ist wohl überflüssig.«

Schnell vertauschte sie den Schirm mit einem kleinen, zierlichen Pelzmuff, und dann gingen sie hinaus in den lachenden Sonnenschein.

* * *

Schon ein paar Stunden waren sie gewandert. In dem freundlichen Waldrestaurant »Onkel Toms Hütte« hatten sie Rast gemacht, um ihren Kaffee zu nehmen, und nun gingen sie weiter nach dem Schlachtensee zu. Es war inzwischen, trotzdem es erst in der fünften Stunde war, schon ganz dämmrig geworden, und als sie nun aus dem Waldbereich jetzt an das Ufer des Sees traten, da lag der dunkle Wasserspiegel, umsäumt von den noch dunkleren Silhouetten der Kiefernkronen in seiner ernsten und doch weichen Schwermut vor ihnen.

Schweigend gingen sie beide nebeneinander her, jeder hing seinen Gedanken nach. Ruth rang mit einem schweren Entschlusse seitdem heute morgen der Brief Fränzls gekommen war, der das Hindernis weggeräumt hatte, das sie immer noch von der vollen Hingabe an das nahende Glück abgehalten hatte. Denn es war für sie selbstverständlich, daß zwei Menschen, die einander fürs Leben angehören wollen, vollkommen klar sahen übereinander, daß es in Gegenwart und Vergangenheit nichts von Bedeutung geben durfte, das der Kenntnis des anderen entgangen war. Und in diesem Punkte fühlte sich Ruth Holten gegenüber schuldbewußt. Er hatte ihr damals in Berchtesgaden und jetzt neuerdings wieder rückhaltslos alles aus seinem Leben erzählt, sie übersah völlig seine ganze innere und äußere Entwicklung. Sie hatte aber nicht in vollstem Maße sein Vertrauen erwidert. Zartfühlende und mädchenhafte Scheu hatten sie bisher stets davon abgehalten, eine Episode ihres eigenen Lebens zu berühren, die nun zwar schon lange hinter ihr lag, die sie aber dem Manne nicht verheimlichen durfte, der vielleicht bereit war, ihr seine Hand und sein Herz anzutragen. Und sie durfte nicht länger zögern, sich ihm anzuvertrauen, denn sie mußte ja nach allem annehmen, daß seine Frage an ihr Herz bald, womöglich bei der nächsten Gelegenheit schon, herantreten würde.

Diese Furcht quälte sie. Wie schrecklich wäre es ihr gewesen, wenn sie sich wirklich einer solchen Unterlassung schuldig gemacht hätte! Und doch fand sie den Mut nicht zu reden. Nicht daß sie die Folgen ihrer Eröffnung gescheut hätte – obschon sie gewiß natürlich auch mit bangem Herzklopfen seiner Aufnahme des Geständnisses entgegensah – aber sie fürchtete sich, daß er die Absicht dieses Geständnisses mißverstehen könnte, als wolle sie vielleicht damit die Entscheidung zwischen ihnen herbeiführen, ihn wohl gar gewissermaßen zu einer Erklärung drängen. Dieser Gedanke peinigte sie furchtbar und verschloß ihr fast den Mund. Andererseits quälte sie nicht minder wieder das Gefühl, daß sie Stunde auf Stunde ungenützt verstreichen ließ, bis es vielleicht zu spät war und er ihr zuvor kam.

Von diesem zwiespältigen Empfinden gequält, schritt Ruth nun schon lange wortlos neben Holten her. Immer wieder hatte sie sich innerlich gelobt: Bis an die und die Stelle des Weges noch, dann sprichst du. Aber jedesmal am Ziel hatte sie die Kraft doch nicht gefunden und die Galgenfrist immer wieder verlängert. Nun ging ihre Wanderung dem Ende zu, und es mußte gehandelt werden. Hier in der Dämmerung und ungestörten Einsamkeit dieses Waldwegs, wo er ihre Züge ja Gott sei Dank nicht mehr erkennen konnte, bot sich ihr auch eine Gelegenheit wie vielleicht nie wieder.

Und doch war er es schließlich, der das Schweigen brach.

»Sie sind so still, Fräulein Ruth. An was denken Sie?«

Da nahm sie alle Kraft zusammen und schöpfte tief Atem: Nun sollte es sein!

»An Vergangenes,« begann sie leise. »Es fliegt einen ja mitunter ein Erinnern an, das man nicht mehr bannen kann. Und diese weiche Abendstimmung ruft so stark die Erinnerung wach.«

Holten nickte, selber träumerisch in die dunkle Landschaft hinaussehend. »Waren es freundliche Bilder, die Ihnen erschienen?«

»Freundlich und doch schmerzlich.« Ruth sprach es zögernd, und dann nach einer Pause: »Ich weiß nicht, wie es geht – diese Stunde erinnert mich an jene vor dem Watzmannhause, wo Sie mir damals Ihr Herz geöffnet. Heute will es mich drängen, ein Gleiches zu tun – wollen Sie es aber auch hören?«

»Fräulein Ruth!« Ein zärtlicher Vorwurf klang aus seiner Stimme. »Sie wissen doch, wie glücklich mich Ihr Vertrauen macht.«

»Nun gut.« Im Dunklen unbemerkt, preßte sie die Hände mit dem Muff fest vor die Brust, als könne sie so den aufgeregten Herzschlag unterdrücken, der – wie sie meinte – laut bis an sein Ohr schallen müsse. »Sehen Sie, Sie erzählten mir damals von einer schweren Herzenstäuschung – ich – ich hätte das erwidern können. Das heißt, natürlich so trostlos wie Ihre Geschichte ist ja die meine nicht entfernt gewesen, aber immerhin – es hat mich doch auch etwas gekostet.«

»Armes Fräulein Ruth – auch Sie also?« Inniges Mitgefühl klang aus seiner Stimme, die halblaut durch die Dunkelheit zu ihr drang. »Wenn es Ihnen nicht zu schmerzlich ist, bitte, erzählen Sie mir alles.«

Aber sie fand nicht gleich die Worte.

»Sie haben Ihr Herz einem Unwürdigen geschenkt?« fragte er leise.

»Einem Schwachen wenigstens, der nicht einmal den Kampf um unser Glück versuchen wollte,« antwortete sie nun. »Ach, es ist eine ganz alltägliche Geschichte. Sie dürfen keinen Roman erwarten. – Ich war noch selbst jung damals, so wie Fränzl, und meine Eltern lebten noch beide. Ich kannte noch kein wirkliches Leid – ohne Sorgen, treulich behütet im Vaterhaus, so blickte ich ins Leben, lachend, harmlos, aber wie ich heute weiß, doch auch ziemlich oberflächlich. Ich dachte im Grunde nur daran, mein Leben heiter zu genießen, und machte mir sonst über nichts Gedanken.«

»In diesen Jahren doch nur selbstverständlich!« entschuldigte Holten sie vor sich selber.

»So lernte ich ihn kennen – auf einem Ball, im Hause einer Freundin. Er war Offizier, selber noch sehr jung, keine glänzende Erscheinung, aber von einem so heiteren, sonnigen Wesen, immer froh, übermütig, einen mit seinem Frohsinn unwiderstehlich fortreißend, so daß er bald mein Herz gewann. Wir kamen ja auch fast tagtäglich auf dem Tennisplatz und in Gesellschaft zusammen. Zu meiner Entschuldigung muß ich aber doch heute selbst sagen, Rolf war ein sehr gutmütiger, hilfsbereiter Mensch, den fremdes Leid leicht weich machte, der für einen Kameraden in der Verlegenheit stets einsprang. Das war es denn auch, was mich zu ihm hinzog. Und noch eins: Er war glänzend musikalisch veranlagt. Er spielte Cello wie ein Künstler. So fanden sich denn unsere Herzen, und ich meinte, nun wäre alles gut. Aber als er zu meinem Vater kam, bei ihm um mich anzuhalten, da merkte ich erst, was für ein ganzes Kind ich noch war und er ebenso. Keines von uns hatte je daran gedacht, ob auch die äußeren Möglichkeiten zu einem Bündnis vorhanden waren. Nun erfuhr ich es von meinem Vater: Ich war überhaupt nicht in der Lage, einen Offizier heiraten zu können, die Kaution konnte nicht gestellt werden. Und da Rolf selbst auch kein Vermögen hatte, so hätten wir also ein Dutzend Jahre warten können, bis er Hauptmann geworden wäre. Aber abgesehen davon erklärte auch mein Vater, daß er seine Einwilligung zu einem Verlöbnis in solchem jugendlichen Alter seines Kindes niemals geben würde.

Aber so schwer uns auch dieser Schlag zuerst traf, wir verzagten darum nicht. Wir waren nun erst recht entschlossen, allen diesen Hindernissen zu trotzen. Rolf hoffte auf die Hilfe einer alten Erbtante, die er zu erweichen hoffte, und sollte auch das fehlschlagen – gleichviel – so warteten wir eben aufeinander, bis er mich ohne Kaution heiraten konnte. In unserem Liebesrausch erschien uns das eine Kleinigkeit, ja, wir kamen uns sogar furchtbar interessant und romantisch vor mit unserer unglücklichen Liebe. Hatte uns doch auch schließlich mein Vater ein Zugeständnis gemacht, daß wir uns ab und zu schreiben durften. Sollte unsere Liebe wirklich echt sein und allen Hindernissen standhalten, so hatte er nach einigen Jahren auch seine Einwilligung zu einer Verlobung zugesagt.

So gingen wir denn nach einem kurzen Abschied ein jeder für sich allein in diese Prüfungszeit hinein. Aber aus der halben Kinderei wurde bald herber Ernst – wenigstens für mich. Allmählich brachte die Situation der »heimlichen Braut«, als die ich mich fühlte, eine große Wandlung für mich mit sich, äußerlich wie innerlich. Ich zog mich, erst mehr aus Wichtigtuerei, dann aus einem wirklichen inneren Bedürfnis heraus von allen rauschenden Vergnügen zurück. Es war mir keine Freude mehr, mich in lauter Lustigkeit zu sehen, wo er nicht dabei war, nach dem ich mich immer ernster zu bangen begann. Fern von mir gewann sein Bild in meinen sehnsuchtsvollen Augen immer größere, edlere Züge, und eine wirklich tiefe Liebe begann in mir zu erwachsen, die schließlich mein ganzes Sein ausfüllte, so daß meine Eltern sich allmählich um mich Sorge machten. Das hatten sie ja nie gedacht, daß unter der früher immer nur sichtbaren heiteren Außenseite ein so ernstes Wesen bei mir schlummerte, das nun durch die Verhältnisse vorzeitig zum Durchbruch kam. Bald konnte meiner Liebe, die mich so ganz ausfüllte, der dürftige briefliche Verkehr nicht mehr genügen, und dies fruchtlose Sehnen nach dem fernen Geliebten verzehrte mich, um so mehr, als die Nachrichten von ihm immer spärlicher und flüchtiger wurden. Sein Kommando in Berlin war inzwischen auch abgelaufen, und er war in seine Provinzgarnison zurückgekehrt.

Mit der räumlichen Trennung schien sein Interesse immer mehr zu erlöschen; aber je mehr er mir zu entfliehen drohte, desto angstvoller, sehnsüchtiger klammerte sich mein Herz an ihn. Zwar war ich zu stolz, es ihn merken zu lassen – ich wollte ihn nicht mit Gewalt halten – aber dieses unausgesetzte, unterdrückte, unausgesprochene Verlangen war nur noch qualvoller. Und wenn dann ab und zu ein dürftiges Lebenszeichen von ihm kam, so erwärmte sich begierig an diesem armseligen Fünkchen mein halb erstarrtes Herz von neuem und schuf sich selber neue Hoffnungen.

Jahr um Jahr meiner Jugend ging so dahin, in Bangen und Hoffen, da kam eines Tages der Brief, der allem ein Ende machte. Rolf schrieb mit dürren Worten, er müsse endlich einem ja doch unhaltbaren Zustand ein Ende machen. Im Grunde sei es doch auch nur eine jugendliche Phantasterei gewesen, die uns zusammengeführt, und es sei die höchste Zeit, uns von Fesseln zu befreien, die uns nur unglücklich fürs Leben zu machen drohten. Kurzum, er gab mich frei und erklärte, daß er sich fortab auch nicht mehr gebunden fühle. Ich möchte die ganze Geschichte nicht tragisch nehmen – Gott sei Dank sei es ja noch hinreichend Zeit für mich, mich nach einem neuen Lebensglück umzusehen. – Das war nun das Ende meines Sehnens und Ringens, das war der Mann, um den ich die besten Jahre meiner Jugend geopfert hatte!«

Mit leiser Stimme sagte es Ruth, dann verstummend.

»Armes, armes Fräulein Ruth!« entfuhr es Holten. Ihre Lebensbeichte hatte ihn im Innersten ergriffen. »Und dann suchten Sie sich in Ihrer Arbeit, im Lehrerinnenberuf, Trost für das zerstörte Glück?«

Ruth nickte stumm. In banger Erwartung harrte sie seiner nächsten Worte. Nun hatte sie ja, Gott sei Dank, ihr Gewissen frei gemacht, nun wußte er, daß ihr Herz nicht mehr unberührt war, daß es sich schon einmal einem Manne zu eigen geschenkt hatte – aber nun kam auch eine geheime Angst über sie: Ob sie ihm nun entweiht erscheinen mochte? Vielleicht hatte ihn ja gerade der Gedanke glücklich gemacht, daß er der erste wäre, dem sich ihr innerstes Wesen ganz erschloß? Aber wie dem auch war, sie hatte getan, was ihre Pflicht war, und gefaßt wollte sie nun hinnehmen, was kommen würde.

Aber die Antwort Holtens auf ihr Geständnis erfolgte nicht gleich. Seine Seele war in innerster Bewegung, und es bedurfte einiger Augenblicke, um sie zu klären. Was er da eben von ihr gehört, es hatte sie ihm nur noch viel näher gebracht. Ähnelte doch ihr Schicksal dem seinen, waren sie doch beide durch einen unglückseligen Herzensirrtum um ihre Jugend, ihr Lebensglück betrogen worden. Und ganz von selbst kam da der Gedanke, daß sie nun doppelt aufeinander angewiesen seien, daß eine Fügung sie vielleicht gerade zusammen geführt hatte, um einander zu trösten und sich Ersatz für das verlorene Glück zu bieten. Aus tiefstem, wärmstem Herzen zog es ihn zu Ruth hin. Er hatte ja schon lange ein still verehrendes Empfinden für sie gehabt, mit ihrer Güte und Reinheit, mit dem großen, klaren Zuge ihres Wesens. Und zu diesem Gefühl kam noch ein anderes; eine Sympathie mehr sinnenfällige Art. Sie tat ihm wohl mit ihrem ganzen Wesen, er fühlte sich so geborgen in ihrer Nähe, die ihn mit einem stillen Frieden einspann. Er hätte sich nichts lieber wünschen können, als sie immer um sich zu haben, in jeder Stunde sich ihrer Teilnahme und Fürsorge für ihn zu erfreuen – und doch – wenn er daran dachte, sie zu seiner Frau zu machen, so stand in instinktiver Abwehr ein dunkles Gefühl in ihm auf. Die Furcht vor dem Alltag, dessen verhängnisvolles Spiel mit der Ehe er ja nur zu gut kennen gelernt hatte.

Wer sagte ihm, daß diese Güte, diese Ruhe standhalten würden, wenn all die vielen kleinen Widerwärtigkeiten des häuslichen Lebens auf Ruth einstürmten, wenn die schweren großen Aufgaben der Frau ihre zarte Kraft in Anspruch nehmen würden? Etwas anderes ist es, ganz anderes, wenn zwei Menschen bloß in Sonntagsstimmung zueinander kommen, losgelöst von all dem Kleinkram des Lebens, den ein jeder bei sich daheim läßt, oder ob sie stets nebeneinander stehen in der Tretmühle des Alltags, eng aneinander gepfercht, mit ermattender Anstrengung das freudlos eintönige Werk einen Tag wie den anderen neu beginnend. Da erlahmt oft die Kraft, der Frohsinn flieht, und die Zartheit, die Zärtlichkeit zueinander schwindet mehr und mehr.

Nein, nein – nur nicht zum zweiten Male das! Nie wieder die bittere Enttäuschung erleben, die Frau, die einst so hoch gethront, herabsinken zu sehen in den Staub. Lieber verzichten auf den süß-berauschenden Kelch der Liebe und sich begnügen mit dem nüchternen, aber klaren, wohltätigen Trank, den die Freundschaft nur zu bieten vermag. Und so antwortete er denn nun langsam, genau abwägend, was er sprach:

»Liebes Fräulein Ruth! Sie haben Schweres durchgemacht, und doch – wer weiß, ob Sie nicht das kleinere Übel erwählt haben. Die Ehe ist ein zweischneidig Ding. Mit der Erfüllung alles heimlichen Sehnens kommt auch die Ernüchterung; der Zauberduft, die Verklärung des Erwartens und Ahnens, die vorher uns alles so entzückend vortäuscht, verfliegt mit dem Besitzen und Wissen. Je schwärmerischer vorher die Anbetung war, um so kritischer blickt nachher das Auge, um so unbarmherziger ist dann die Enttäuschung. Liebe und Ehe sind eben zwei grundverschiedene Dinge, und nur zu oft gilt das harte Wort: Die Ehe ist der Tod der Liebe. Darum wohl dem, der es lernte, sich von dem holden Wahn beizeiten zu befreien, der nicht mit Schmerzen erst seine Erfahrung macht, sondern lieber ganz auf den gefährlichen süßen Rausch verzichtet und ruhigen Herzens durchs Leben geht. Da blüht ja auch noch viel Schönes und Zartes, das das Herz froh und zufrieden macht – viel mehr vielleicht als das Zauberkraut Liebe mit seinem verlockenden, berauschenden Duft.

Glauben Sie mir's, Fräulein Ruth – als einem, der es erfahren hat, der in bitteren Qualen von jenem Wahn geheilt worden ist.«

Holten schwieg. In der Dunkelheit suchte sein Auge das Antlitz seiner Begleiterin, aber er vermochte nur die undeutlichen Umrisse ihres Kopfes zu erkennen. Wortlos ging auch Ruth neben ihm her, kein Laut von ihr drang zu ihm. Aber dennoch fühlte Holten, daß sie da eben einen Streich empfangen hatte, der ihr ins Herz gedrungen war, und alsbald quoll es wie Reue über seine harten Worte in ihm auf – ein angstvoller Drang, die lebensfrohen Hoffnungen die er eben mit scharfem Sichelhieb niedergemäht, wieder aufzurichten. Aber zu spät! Das zarte Grün, das da verheißungsvoll aufgesprossen war, nicht ihr allein, sondern auch für ihn – es war ja nun dahin. Er selbst hatte den Streich der Vernichtung geführt. Wie ein todwundes Reh schleppte sie sich da neben ihm her – klaglos, mit letzter Kraft.

Eine heiße Angst trieb ihm plötzlich den Schweiß auf die Stirn. Er riß sich den Hut vom Kopfe.

»So sprechen Sie doch, Fräulein Ruth,« drängte er, wenigstens einen Laut von ihr zu hören. »Habe ich denn nicht recht?«

»Vollkommen.« Leise kam es von ihren Lippen, der liebe, weiche Laut ihres Mundes, und doch jetzt so verändert, so müde, so todesmatt.

Es schnitt ihm ins Herz. Er hätte ihren Namen ausrufen mögen, in angstgequältem Aufschrei, er hätte sie an sich reißen mögen und schreien: Es ist ja nicht wahr, was ich da eben gesagt habe. Glaub's nicht – hoff' und vertraue von neuem. – Aber kein Wort kam aus seiner Kehle, die eine dämonische Macht ihm zusammenwürgte.

So schritt er stumm neben Ruth hin, die in völliger Erstarrung ihres Fühlens und Denkens einherging, automatenhaft, ohne Bewußtsein, nur in unendlicher Sehnsucht, irgendwo allein zusammenbrechen zu können in erlösender Ohnmacht. Endlich flackerten vor ihren brennenden Augen aus dem Dunkel die Lichter des Bahnhofes auf – das Ende ihres Weges, den sie so erwartungsselig mit hellem Jubel im Herzen angetreten hatte.

 


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