Paul Grabein
Das stille Leuchten
Paul Grabein

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V.

O Ruth'lmaus, was können wir eigentlich froh sein, daß wir damals in der Klamm das Malheur hatten! Sonst hätten wir unsern guten Vizepapa net gekriegt und müßten nun immer allein rumlaufen in der Weltgeschichte. Gelt, es ist doch zu schön, wie wir so tagtäglich zusammen rumbummeln?« Fränzls glückstrahlende Augen flogen von der Freundin zu Holten, mit dem sie wieder einmal fröhlich des Wegs zogen. »So ein richtiges Kleeblatt! Ach, wenn's doch immer so sein könnte! Weißt du was, Ruth'l, du bleibst einfach bei uns und gehst net wieder in die alte dumme Schul' nach Berlin. Bist überhaupt viel zu schade dazu, gelt, Vizepapa? Und der Herr Doktor kommt auch hierher und schreibt eine Geschichte vom Berchtesgadener Land, und wir helfen ihm dabei studieren. O, das wird fein!«

In heller kindlicher Freude phantasierte sie sich in diesen Gedanken hinein.

»Wozu an die Zukunft denken?« unterbrach sie Holten. »Halten wir uns doch an die Gegenwart, zumal, wenn sie so schön ist.« Sein Blick streifte durch den dämmernden Wald, in den schräg die Sonne fiel, brennende Lichter auf die Stämme werfend. Drunten, vor ihnen durch die Tannen hindurch schimmerte eine sattgrüne Lichtung herauf mit glitzerndem Wasserlauf. »Wie das alles lacht und lockt!« Er breitete die Arme aus. »Man möchte sich der allgütigen Natur an die Brust werfen.«

»Tun wir's doch, drunten auf der Wiese im duftigen Heu!« rief Fränzl, und von ihrem Einfall schnell begeistert, sprang sie auch schon den Hang hinab. »Wer zuerst unten ist – am Bach! Hurra!«

Ihren Rock raffend, sprang sie in tollen Sätzen zu Tal. Auch in Holten regte sich die überschüssige Kraft. »Hoiho!« Mit hellem Ruf stürmte er hinter ihr her. Fränzl fühlte ihn herannahen. Im Weiterspringen wandte sie ihr glühendes Antlitz zu ihm zurück. War er schon dicht heran? Holtens Fuß hatte eben eine Wurzel gestreift. »Hallo, Vorsicht!« mahnte er im Laufen. »Die Augen gradeaus!«

Dann noch ein paar mächtige Sätze, nun war er bei ihr, umfing ihre Taille und sprang so mit ihr auf die Wiese hinaus. Gerade wie sie lachend, atemlos stehenblieben und sich nach Ruth umsahen, hörten sie von oben einen leisen Wehruf.

»Nanu, Ruth'l? Was ist denn?« Fränzl spähte in den Wald hinein.

»Ach – ich bin mit dem Fuß umgeknickt!« kam mit unterdrücktem Schmerzenslaut die Antwort zurück.

Eilig lief Holten den Hang wieder hinauf. Wenige Schritte oberhalb des Waldrandes kauerte Ruth auf dem Boden, mit schmerzverzogenem Gesichte, mit der Linken den Fuß haltend, der unter dem Kleidersaum hervorsah.

»O, was machen Sie nur – Fräulein Henning? Hoffentlich doch kein ernster Schaden?« Besorgt trat Holten zu ihr, ihr die Hand reichend.

»Versuchen Sie doch aufzustehen.«

Er faßte sie unter die Schulter und half ihr, so emporzukommen, aber es gelang ihr nur mit einem leisen Ächzen.

»Immer noch Schmerzen?«

Ruth nickte nur mit zusammengebissenen Lippen.

»Na, wo bleibt ihr denn nur?« schallte Fränzls Stimme etwas ungeduldig unten. »Ist's denn wirklich so schlimm, Ruth'l?«

Sie ahnte ja wohl nicht, daß sich die Freundin ernstlich weh getan hatte, aber doch berührte Holten im Augenblick dieser Ton peinlich.

»Treten Sie doch mal auf,« riet er. »Recht vorsichtig, so – und nun drehen Sie bitte den Fuß langsam im Gelenk! Ja, geht's? Keine stechenden Schmerzen? – Na, Gott sei Dank, gebrochen ist ja offenbar nichts. Oder wollen Sie lieber doch einmal nachsehen? Soll ich Ihnen Fräulein Franzi rufen, daß sie Ihnen den Stiefel aufschnürt?«

Aber Ruth dankte. »Es wird schon nichts weiter sein als eine kleine Verstauchung. Wenn Sie mir nur, bitte, Ihren Arm geben wollen?«

Diensteifrig trat er an ihre Seite, und sie lehnte ihre schlanke Gestalt leicht auf seinen Arm.

»Bitte, fest!« bat er. »Und wollen Sie sich nicht mir der andern Hand auf meinen Stock stützen?«

Dankend nahm sie diesen an, und so traten sie einige Minuten später drunten langsam aus den Bäumen heraus auf den Wiesenhang.

Mit hellem Auflachen begrüßte Fränzl die mit einem Krückstock heranhumpelnde Freundin am Arm des Helfers.

»Kinder, das ist ja die reine Invalidenparade!«

Die beiden schwiegen, aber Holtens Blick traf Fränzl scharf mißbilligend – wie damals auf der Scharitzkehlalm. Da schoß ihr die Röte ins Gesicht und schnell eilte sie auf die Freundin zu.

»Ach, sei nicht bös, Ruth'lmaus!« bettelte sie. »Ich hab' ja wirklich nicht gedacht, daß du dir was Schlimmes getan hast. Es sah ja nur eben zu komisch aus. Du kennst ja mein dummes Lachen – immer, wenn ich so was sehe.«

Die gutmütige Ruth lächelte schon wieder, die Freundin beruhigend; aber Holten sagte noch immer nichts. Fränzl fühlte sich ihm gegenüber sehr bedrückt. Er hielt sie nun gewiß für ganz herzlos.

So war denn allen dreien im Handumdrehen durch diesen dummen Zufall die eben noch so frohe Stimmung verdorben. Vor allem, was sollte werden? Ruth konnte, auch nachdem sie ein Viertelstündchen auf der Wiese gerastet, noch immer nicht ohne Hilfe vorwärts kommen, und auch dies nur unter Schmerzen, sehr langsam. Von ihrem Plan, über die Schwarzbachwacht heimzugehen, konnte nun natürlich gar keine Rede mehr sein. Ja, es war überhaupt ausgeschlossen, daß Ruth den ganzen langen Weg zu Fuß nach Haus zurückkehren konnte. Man beriet hin und her, was zu tun. Endlich entschied Holten:

»Es hilft alles nichts. Bis Ramsau hinunter, die halbe Stunde, müssen Sie schon noch aushalten, armes Fräulein Henning. Da nehmen wir dann aber einen Wagen und fahren Sie heim.«

So geschah es denn auch. Aus der halben Stunde aber ward bei dem langsamen Vorwärtskommen, obwohl Holten und auch Fränzl sich aufopfernd um sie bemühten, eine ganze, und eine ziemlich trübselige Stunde. Ruth bemühte sich zwar tapfer, ihren Schmerz zu verbeißen und sogar noch ihre Begleiter mit gelegentlichen Scherzworten aufzuheitern, aber es gelang ihr nicht recht; die beiden blieben ziemlich einsilbig und zeigten beide verstimmte Mienen. Offenbar ärgerten sie sich insgeheim, daß ihnen der schöne Tag nun so verdorben war. Ruth machte sich daher schließlich im stillen sogar noch Vorwürfe, daß sie, wenn auch ohne Absicht, schuld daran war.

Endlich war man aber in Ramsau angelangt, und auch ein Wagen war, Gott sei Dank – trotz der Heuernte – im Wirtshaus zu haben. Eine Viertelstunde später stand er zum Abfahren fertig, und Holten und Fränzl wollten zu Ruth einsteigen. Aber die wehrte energisch ab.

»Nein, nein! Jetzt sollen Sie auch noch bei dem herrlichen Abend im Wagen sitzen? Ich weiß doch, wie gerne Sie laufen. Auf keinen Fall! Es ist grade schon genug, daß ich Ihnen so viel Beschwerden gemacht habe. Hörst du, Fränzl, jetzt gehst du mit Herrn Doktor wenigstens noch von hier aus gemütlich heim.«

Fränzl suchte zu widersprechen, und auch Holten wollte nichts davon wissen. Aber da bat Ruth dringend:

»Bitte, bitte, Herr Doktor! Tun Sie's doch – mir zu Gefallen. Ich versichere Ihnen, ich sitze sonst hier die ganze Fahrt wie auf Kohlen. Und ich möchte wahrhaftig auch viel lieber jetzt mal eine Stunde allein sein. Ich bin ziemlich abgespannt.«

Da gaben sie denn endlich nach, und der Wagen mit Ruth rollte schnell die Chaussee davon.

Holten und Fränzl hatten den Fußweg eingeschlagen, der im lauschigen Schatten alter Ahorne und Rüstern, den Windungen des Gebirgsbaches folgt. Ein Weilchen gingen sie schweigend nebeneinander her, ohne sich anzusehen; jeder wartete, daß der andere ein Wort sagen sollte, aber es kam nicht.

Holten war in der Tat ernstlich ärgerlich auf Fränzl; ja noch mehr, es war da vorhin plötzlich wie eine große Enttäuschung über ihn gekommen. Er hatte sich in diesen paar Wochen bei dem täglichen, zwanglosen Zusammensein, so ganz an das Bild des jungen Mädchens gewöhnt, das ihm als eine Verkörperung echt weiblicher, sonniger Güte erschienen war, daß ihm jetzt der kleinste, störende Zug daran plötzlich wie eine Verunstaltung des Ganzen vorkam. Wer wußte, was da unter der gefälligen Oberfläche noch mehr an dunklen Tiefen schlummerte.

Und doch wieder erhob sich ihm im Innersten eine Stimme zu ihren Gunsten: Es konnte ja doch nicht sein! Diese ehrlichen, braunen Augen konnten in ihrem strahlenden Glanz doch nicht so lügen, sie mußten doch der Spiegel einer wahrhaft guten Seele eines warmen Herzens sein.

Und es packte ihn das Verlangen, in diese Augen zu schauen, sich dort tröstliche Gewißheit zu holen, die jene häßlichen Zweifel wieder davontreiben sollte. So richtete er denn plötzlich seinen Blick auf Fränzl. Und da sah er, daß sie mit tiefgesenkten Wimpern neben ihm herschritt und daß es bitter um ihre Mundwinkel zuckte. Warm und zärtlich ward ihm da im Herzen.

»Fräulein Fränzl,« redete er sie leise an. »Sie sind mir böse?«

Sie schüttelte den Kopf, ohne ihn anzusehen.

»Was denn aber?« Und näher trat er zu ihr.

»Ich weiß, Sie halten mich für schlecht und herzlos.« Ihre Blicke trafen ihn nun so traurig, so bittend. »Und ich kann doch nichts für mein dummes Lachen. Ich ärgere mich selber so oft darüber.«

Sie tat Holten in ihrem kindlichen Kummer so leid. Seinen kleinen Sonnenstrahl hatte er sie getauft, und nun verdachte er ihr das Tänzeln und Lachen – schon wieder einmal! Schnell neigte er sich zu ihr: »Nicht doch, Fräulein Fränzl, nicht doch! Es war ja unrecht von mir, Ihr Wesen so zu verkennen. Im Gegenteil, lachen Sie, strahlen Sie in Gottes Namen nur immer lustig weiter. Sie lieber, kleiner Sonnenstrahl! Sie wissen ja gar nicht, wie wohl Sie den Leuten damit tun. Wie das innerlich wärmt und froh macht.« Impulsiv ergriff er ihre Hand.

Sie blickte ihn an, lachend, und doch ein glitzerndes Perlchen in den braunen Wimpern. Wie herzensgut er war. Wie lind und wohltuend seine gedämpfte Stimme ihr ins Ohr klang. Und wie lieb er sie nannte: Kleiner, lieber Sonnenstrahl! O, was war das hübsch! Sie fühlte es in dieser Minute: Sie war ihm furchtbar gut. Und dabei hatte sie doch einen heillosen Respekt vor ihm. Eine eigenartige Mischung ihrer Empfindungen für ihn. Halb sprang sie mit ihm um wie mit einem Kameraden und halb blickte sie zu ihm auf, scheu, demütig, wie einst zu einem schwärmerisch verehrten Lehrer auf der Schule. So hatte sie innerlich noch niemals zu einem Mann gestanden. Überhaupt ein Mann, ein richtiger Mann, war ja bisher noch nie in ihren Gedankenkreis getreten. Was war das doch für ein ganz seltsames, süßes und doch so weihevolles Gefühl – so ganz anders, als wenn sie sich früher einmal für einen Freund ihres Bruders »interessiert« hatte. War das wohl –?

Sie fühlte plötzlich unter seinem Blick heiße Röte in ihr Antlitz schießen und entzog ihm schnell ihre Hand.

»Wir müssen weiter,« drängte sie, »sonst kommen wir heute nimmer bei Tag heim.«

Sie schritten dahin, hinein in die weiche, dämmernde Stimmung des späten Nachmittags, unter kühl schattendem Blätterdach, neben dem murmelnden Bach. So allein, so friedvoll! Nur dann und wann tauchte neben ihnen durch das Blättergewirr eine versteckt im Grunde liegende Mühle oder ein freundliches Gehöft im Grünen auf, der weiße Giebel im Abendgold leuchtend; kein Laut ringsum, nur dann und wann drang ein leises, behagliches Kuhbrummen aus fernem Stall gedämpft durch die wohltuende Feierabendstille.

Sie fühlten beide: Da tief drinnen im Herzen war ein leises, süßes Knospen, das ihnen ahnungsvoll die Brust schwellte. Es mußte etwas unsagbar Schönes, Großes kommen, ein seliges Meer von Sonne und Glück über sie hereinfluten – nur still warten, bis seine Zeit kam!

Immer dichter wurde die Dämmerung unter den Tannen, durch die sie nun in der verbreiterten Aue dahinwanderten. Da – jetzt ein melancholischer, weich klagender Laut.

»Was war das?« Leis flüsterte es Fränzl.

»Unkenruf!«

»Unken –?«

»Ja, sind Sie etwa abergläubisch, Fräulein Fränzl?« Er versuchte durch die Dämmerung den Ausdruck ihres Gesichts zu erspähen.

»Gar nicht – aber trotzdem – wie Sie das eben so sagten!« Ein leiser Schauer hatte sie überrieselt, mitten in ihren wonnigen Träumen. »Es ist hier überhaupt so einsam und melancholisch, finden Sie nicht auch?«

Unwillkürlich kam sie dichter an ihn heran, während sie nun eiligen Schrittes ihres Weges weiter gingen.

»Ich liebe die Einsamkeit – mir ist sie daher nie drückend gewesen,« erwiderte Holten. »Selbst die Nacht ist mein Freund. Sie hat etwas so mütterlich Weiches, sanft Tröstendes – haben Sie das nicht auch schon empfunden, Fräulein Fränzl?«

»Ach nein!« rief sie lebhaft. »Mir graut's immer vor dieser starren, schwarzen Ruhe. Ich muß Leben haben, Licht, Sonne, wenn's mir recht wohl sein soll!«

Holten lächelte still vor sich hin. »So dachte ich auch einst. Aber das ändert sich – glauben Sie mir, Fräulein Fränzl – wenn man das Leid kennen gelernt hat.«

»Muß man das denn aber? Sagen Sie, lieber Herr Doktor, kann denn dem Menschen nicht auch ein Glück ohne Dornen beschieden sein?« Fast ängstlich klang die Frage aus jungem, heißem Herzen an sein Ohr. Es war gut, daß es schon so dunkelte. So konnte sie sein trauriges Auge nicht sehen, das sie trotz der Finsternis liebevoll umfing. Armes Kind, daß man dir den schönen Wahn erhalten könnte!

»Ganz ohne Dornen wohl nimmer! Aber, sicherlich gibt es ein so starkes, echtes Glück, daß es auch die unausbleiblichen Schicksalsschläge leicht ertragen macht,« tröstete er sie.

»Wie schade ist das eigentlich doch,« seufzte sie, »daß es keine ungemischte Lebensfreude gibt.« Und dann nach einer Weile: »Bis jetzt bin ich eigentlich immer ein Schoßkind des Glücks gewesen. Alles ist mir glatt und nach Wunsch gegangen – unberufen. In unserer Familie ist immer Gesundheit und Freude gewesen. Wir haben uns alle so lieb, und der Tod hat noch keine Lücke gerissen. – Haben Sie Ihre Eltern noch, Herr Doktor?«

»Nein – ich stehe allein auf der Welt.« Herb fielen seine Worte in ihr Ohr.

»O!« In herzlicher Teilnahme entfuhr es Fränzl. »Aber Sie haben doch gewiß noch Geschwister und andere nahe Verwandte?«

»Nein – niemanden. Das heißt – es existieren wohl da draußen irgendwo ein paar Vettern und Basen, aber ich kenne sie nicht.«

»O Gott, wie traurig! So ganz allein zu stehn. Ist das nicht schrecklich? Und wie lange sind Sie schon so vereinsamt?«

Ein Zucken ging über Holtens Gesicht, die Dunkelheit verbarg es ihr, aber seine Stimme hatte einen etwas rauhen Klang, als er kurz erwiderte: »Jahre schon.«

»O, Sie Armer!« Plötzlich fühlte er seine Rechte ergriffen und spürte einen aus tiefstem Herzen kommenden Druck ihrer Hand. Dieser unwillkürliche, unbefangene Ausdruck ihres Mitgefühls erschütterte ihn in diesem Augenblick fast. Ihm war, als ob ein lichter Engel liebreich zu ihm träte.

»Fränzl!« Krampfhaft preßte er ihre Hand, daß es ihr ordentlich wehe tat; aber doch war ihr so selig dabei zumute. »Das vergesse ich Ihnen mein Lebtag nicht, Sie lieber, kleiner Kamerad!«

Und weiter schritten sie durch das Tannendunkel, dicht beieinander in vertrauter Zwiesprache. Es war, als ob da eben eine letzte Schranke zwischen ihnen niedergefallen wäre; ihre Seelen fanden sich nun ganz zueinander. Sie forschte mit innerster Teilnahme nach seinen toten Eltern, seiner Kindheit, und das Herz ging ihm weit auf, als er davon erzählte. Wie lange hatte er nicht mehr eine Menschenseele gehabt, voll zartestem Verständnis, die bereitwillig in sich aufnahm, was es ihn mitzuteilen drängte.

Dann fragte sie nach seinem jetzigen Leben, wie er denn seine Tage ausfülle – immer so allein – und erst die langen, einsamen Abende? Er erzählte ihr da von seiner stillen Studierstube und seinen Tröstern, den Büchern; wie er aber zumeist ja draußen herumgezogen sei, ein Fahrender, ohne eigen Dach und Habe. Wie bemitleidete sie ihn da! Ach, daß sie doch ein Mann wäre! Wie gern wäre sie als sein Assistent mit ihm gezogen durch die Welt, und abends, da hätten sie sich's dann so gemütlich gemacht nach aller Arbeit. Am traulichen Herd fröhliches Geplauder oder auch ernste Unterhaltung. Sie höre ja so gern zu, wenn jemand ihr von fremden Dingen erzähle – nur nicht langweilig müsse es geschehen. O, auf der Schule und auch auf dem Institut habe sie immer geschwärmt für Dinge, mit denen die anderen sie ausgelacht hätten. So zum Beispiel für alles, was auf Afrika sich bezog. Da hätte sie von jeder Entdeckungsreise ganz genau Bescheid gewußt und all die verrückten Namen auswendig gekonnt.

So plauderte Fränzl, halb wie ein Kind, und doch klang aus ihren Worten ein geheimes, unbewußtes Sehnen, ihre Seele voll aufzuschließen der befruchtenden Berührung mit einem reifen Mannesgeiste. Holten hörte dieses Sehnen herausklingen, und es löste einen mächtigen Widerhall in der eigenen Brust aus. Mußte es nicht eine hohe, unsagbar befriedigende Aufgabe sein, solch ein unbeschriebenes Blatt wie ihre Seele mit den festen Zügen des eigenen Ich auszufüllen, von Tag zu Tag mehr ihr noch knospendes Wesen zu einer geschlossenen Persönlichkeit sich auswachsen zu sehen – schließlich ein getreues Spiegelbild des eigenen Charakters?

Noch nie hatte Fränzl Holten so nachhaltig und ernst im Innersten beschäftigt. Heute, merkte er, war sie ihm etwas geworden, ein innerer Besitz, den er nicht mehr missen wollte. Mit freudigem Stolz war er sich dessen bewußt, daß dies liebreizende, jugendliche Geschöpf sich vertrauend an ihn schmiegen, von ihm sich willig leiten lassen wollte, und dieses Bewußtsein gab seinem ganzen Wesen einen neuen, frischen Schwung. Ihm war, als ob er herausfordernd in die Welt rufen sollte: Ahnt ihr denn, ihr klugen Leute, wer ich bin? Welch köstlicher Schatz mein ist, wenn ich nur die Hand danach ausstrecken will! Ein unbeschreibliches, frohes Kraftgefühl kam über ihn. Er kam sich wieder so jung vor. Denn wahrlich, wer solch schäumende Jugend an sich zu fesseln wußte, der mußte selber noch jung sein im Kern seines Wesens.

So wanderten die beiden Berchtesgaden zu. Aus dem Tannendunkel waren sie hinausgetreten in das weite, dämmernde Tal, wo drunten schon einzelne Lichter traulich aufblinkten und der Rauch der friedlichen Herdstätten kräuselnd aufschwebte.

Vor Fränzls Elternhaus nahm Holten von seiner Weggefährtin Abschied. Mit festem Druck hielt er ihre Hand und sah ihr tief in die Augen:

»Gute Nacht, Fräulein Fränzl, und haben Sie Dank für diesen Weg. Ich denke, wir sind heute rechte, gute Kameraden geworden – und wollen es nun immer bleiben, nicht wahr, Fräulein Fränzl?«

Das Mädchen erwiderte nichts, aber wie es mit der heißen, kleinen Hand fest seine Rechte preßte, war dies ihm Antwort genug.

»Leben Sie wohl und grüßen Sie mir das arme Fräulein Ruth recht schön. Ich komme morgen vormittag, mich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Und nun nochmals gute Nacht!«

Er gab ihre Hand frei.

»Gute Nacht!« Halblaut kam es über ihre Lippen; aber wie sie dann, schon auf der Schwelle, sich noch einmal unwillkürlich, einem innersten Gefühl gehorchend, nach ihm umdrehte, sah sie ihn noch an der Gartenhecke stehen und ihr nachblicken. Da stürzte sie mit hochrotem, glühendem Kopf ins Haus hinein.

So kam sie zu Ruth ins Giebelzimmer gestürmt, die auf der Chaiselongue am Fenster ruhte.

»O, du Ärmste!« Innig schloß sie die Leidende in ihre Arme. »Wie geht's dir denn? Daß du hier so still liegen mußt!«

Ruth drückte die Aufgeregte liebevoll an sich. So zärtlich gab sie sich doch sonst nicht? Sie wollte wohl die kleine Unfreundlichkeit nachmittags auf der Waldwiese wieder gut machen. Dankbar streichelte sie den Kopf der Freundin. Da strich ihre Hand über Fränzls Stirn. Mein Gott, wie die brannte – siedeheiß.

»Fränzl! – Was ist dir denn?« Ordentlich besorgt strich Ruth ihrem kleinen Liebling die Haare aus der glühenden Stirn. »Du bist ja ganz heiß. Bist du krank?«

»Nein, ach nein!« Stürmisch, fast mit verhaltenem Jauchzen drang es von ihren brennenden Lippen, die nun die Wange der Freundin schmeichelnd suchten.

»Ach, Ruth! Ich bin ja nur so glücklich!«

Da wußte die Freundin genug. Mit mütterlicher Zärtlichkeit glitten ihre schlanken, kühlen Finger über den Blondkopf, der sich da glutübergossen an ihre Brust gepreßt hatte.

»Möchtest du es immer bleiben – immer!«

Die andere in all ihrer Seligkeit sah das stille, schmerzliche Lächeln nicht, das über dem blassen Gesicht Ruths lag. In diesem Augenblick sahen ihre feinen Züge müde, fast welk aus mit den Spuren verblühter Jugendhoffnungen.

 


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