Paul Grabein
Das stille Leuchten
Paul Grabein

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V.

Am Mittag des nächsten Tages saß Holten allein an der Tafel. Er speiste nach, da ihn ein größerer Vormittagsausflug länger als gedacht aufgehalten hatte. Nur Fräulein Hedwig leistete ihm auf ein paar Minuten Gesellschaft, um ihm die große Neuigkeit des Tages mitzuteilen: Herr Rudorff war um 12 Uhr mit der Post abgereist. Offenbar lag ein Zusammenhang dieser Tatsache mit Holtens Eingreifen gestern abend vor. Wahrscheinlich hatte Frau Jutta heute früh, doch seiner Anregung nachgebend, den jungen Maler veranlaßt, von der Partie fern zu bleiben, das hatte ihn bei seiner übergroßen Empfindlichkeit vermutlich heftig erregt und in plötzlichem Entschluß zur Abreise getrieben. Jedenfalls war Frau Fehlhaber mit Dr. Adlon und dem Leutnant um acht Uhr allein zur Magdalenenwand aufgebrochen. Sie wollten um drei spätestens zu Tisch zurück sein, mußten also jeden Augenblick wieder eintreffen.

Holten war diese Nachricht doch überraschend. Er hatte nach allem sicher darauf gerechnet, daß Frau Jutta in ihrem Trotz alles andere tun, als den von ihm gegebenen Wink befolgen würde. Nun also doch! Nun war er nur neugierig, wie sie sich hiernach zu ihm stellen würde. Er ließ sich daher sehr Zeit mit dem Essen und bestellte sich, als trotzdem bis zum Schluß der Mahlzeit die Erwarteten noch immer nicht eingetroffen waren, auch seinen Kaffee noch an die Tafel.

Da endlich hörte er draußen im Gastzimmer Stimmen – er erkannte das näselnde Organ des Leutnants, der bei Kathi eine »kalte Ente«, eine Flasche Sekt, Zitrone und Gießhübler bestellte – die Partie war also zurück. Da traten sie auch schon in den Speisesaal.

Frau Jutta war im ersten Augenblick etwas betroffen, Holten unerwartet da allein an der Tafel sitzen zu sehen. Aber dann kam sie ganz unbefangen, lachend und plaudernd, mit ihren Begleitern an den Tisch, begrüßte Holten mit flüchtigem Neigen des Kopfes, aber führte dann die Unterhaltung weiter, als ob er nicht anwesend wäre. Wohl hatte sie, aus Klugheit, heute morgen mit Rudorff nachgegeben – mein Gott, was lag ihr denn auch an diesem unreifen, jungen Menschen? – Es lohnte sich nicht, seinetwegen sich womöglich noch die besorgte Mutter auf den Hals zu ziehen, aber sie wollte doch keinesfalls in Holten ein Triumphgefühl aufkommen lassen, als wäre er nun der Sieger. Pah! Seine Gründe hatten sie nicht im mindesten bestimmt. Das wollte sie ihm auch noch gelegentlich klar zu verstehen geben.

Die drei Neuhinzugekommenen hatten sich, da ihre Gedecke unmittelbar neben Holtens aufgelegt waren, in dessen nächste Nähe setzen müssen, und so war denn eigentlich eine Unterhaltung mit ihm nicht zu vermeiden, um so weniger, als man ja seit gestern abend offiziell bekannt geworden war. Frau Jutta und Bencken suchten zunächst zwar noch den Tischgenossen zu »schneiden«, aber Dr. Adlon interessierte es, bei dieser Gelegenheit einmal den homo novus des »Hirschen« etwas näher kennen zu lernen. Für ihn fingen allerdings die Leute im allgemeinen erst an beachtenswert zu werden, wenn sie in Höhen von 3000 Meter aufwärts führerlos spazieren zu gehen oder im Auto mit 100 Kilometer die Stunde zu fliegen pflegten; aber man konnte doch immerhin mal zusehen, was hinter diesem Mann steckte, der ja von außen ganz annehmbar aussah, sich aber bisher so merkwürdig abseits von ihnen gehalten hatte, die sie doch die »bessere Gesellschaft« im »Hirschen« repräsentierten.

»Sie haben heut auch eine Partie gemacht?« fragte er mit einem Blick auf Holtens Touristenanzug.

»Ja, ich bin zur Leckalp hinaufgestiegen.«

»So, so – also Talbummel,« meinte Adlon etwas geringschätzig und sah wieder auf seinen Teller.

»Auch die Täler haben ihre Reize,« erwiderte Holten gelassen. »Ich gehe überhaupt nicht in die Berge, um bloß Gipfel zu stürmen.«

»Haben Sie überhaupt schon einmal eine Hochtour gemacht?«

»Ich weiß nicht, was Sie darunter verstehen.« Holten zuckte die Achseln. »Ich habe die üblichen Besteigungen im Stubai, Ötztal und in der Ortlergruppe gemacht, unter anderem den Ortler selbst.«

»Heutzutage auch bloß noch eine bessere Sommerfrischlertour.« Dr. Adlon zerschnitt kaltblütig seinem Braten.«

»Wohl möglich.« Holten blieb äußerlich ruhig, obwohl ihn der Alpinistenhochmut des anderen nachgerade zu reizen begann. »Im übrigen scheinen Sie nur Bergtouren für voll anzusehen, bei denen man jedesmal den Hals riskiert.«

Dr. Adlon sah mit etwas malitiösem Lächeln herüber.

»Nicht gerade das. Aber allerdings besteht nach meiner Auffassung der ganze Reiz des Alpensports im Überwinden der Gefahr. Es ist das ja freilich nicht jedermanns Geschmack.«

Frau Jutta sah herüber, sie hatte ihre stille, boshafte Freude, wie Freund Adlon den anderen schraubte. Da bekam sie ja ihre kleine Revanche für gestern abend.

»Sie haben ganz recht,« bestätigte Holten kühl. »Ich zum Beispiel halte den ganzen Alpensport für Unfug.«

Ah! Adlon sah auf. Was erlaubte sich der gegen ihn, der ersten einer, dessen Namen man in allen »alpinen« Kreisen mit Ehrerbietung nannte.

»Pardon, das verstehen Sie wohl kaum zu beurteilen,« versetzte er sehr von oben herab.

»Warum?« fragte aber Holten ruhig. »Das ist doch lediglich Sache des gesunden Menschenverstandes und im übrigen des persönlichen Geschmacks. Es gibt doch nun einmal Leute, die der Meinung sind, daß man in erster Linie ins Hochgebirge gehen soll, um sich an seiner Schönheit zu erfreuen und an seiner Kraft zu stärken, nicht aber, um gewagte Kletterkunststücke zu machen in »idealer Konkurrenz« mit jedem Seiltänzer und Akrobaten – es gibt eben Leute, denen so etwas ganz und gar nicht imponiert. Erstens, weil es ein reiner plumper Zufall ist, daß der eine festere Knie hat und schwindelfreier ist als der andere, und zweitens, weil diesen Leuten jedes zwecklose Spielen mit dem Leben in tiefster Seele unmoralisch und töricht erscheint.«

Dr. Adlon biß sich auf die Lippen. Er hatte eben auch einen Blick von Frau Jutta aufgefangen, der ihn aufstachelte, diese Abfuhr nicht ruhig einzustecken.

»Sehr schön,« erwiderte er daher hochmütig. »Aber ich habe immer gefunden, daß sich hinter dem moralischen Mäntelchen dieser Leute meist nur Mangel an persönlichem Mut versteckt.«

Holten zuckte leise zusammen, ein drohender Blick schoß zu dem anderen hinüber. Einen Augenblick brannte ihm ein Wort auf der Zunge, das ein ernstes Renkontre mit Dr. Adlon unvermeidlich zur Folge gehabt hätte. Und es packte ihn sogar eine wilde Lust nach einem solchen Gegenüberstehen Auge in Auge, die Waffe in der Hand. Der inneren Zerrissenheit und Gereiztheit, die seit dem Abschied von Fränzl trotz aller äußeren Ablenkung in ihm immer stärker geworden war, hätte solch heftiger Ausbruch gar wohl getan. Und um so mehr, als er sich jetzt gerade vor den spöttischen Blicken dieser Frau beleidigt fühlte. Aber im nächsten Moment kehrte ihm die ruhige Überlegung zurück: Wollte er sich im selben Atem, mit dem er das leichtfertige Spiel mit dem Leben verurteilte, des gleichen Verfehlens schuldig machen? Nein, nur ruhig geblieben. Seine Gelegenheit zur Revanche würde schon noch kommen. – So erwiderte er denn nur mit festem Blick auf den Gegner:

»Vermutlich sind diese Leute über jeden Verdacht der Feigheit so erhaben, daß sie über solche Insinuation nur ruhig lächeln können, Herr Doktor.«

Holten sprach es und erhob sich zugleich – er hatte bereits vorher ausgetrunken – mit stummem Gruß von der Tafel. Mit anscheinend voller Gelassenheit ging er aus dem Saal, aber innerlich wogte es in ihm. Er wußte, daß die Frau da mit höhnischem Lächeln hinter ihm hersah. Er trat in ihren Augen als Besiegter seinen Rückzug an. Und heißer denn zuvor loderte in ihm ein fast haßerfülltes Begehren auf, sie zu demütigen, seine Kräfte mit ihr zu messen.

 


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