Paul Grabein
Das stille Leuchten
Paul Grabein

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VIII.

Verdammt! Wir werden sicher Schnee kriegen.« Ärgerlich sah Dr. Adlon, vor die Tür der Hütte tretend, drunten in das Tal hinab, von wo in fahlem Morgengrau des anbrechenden Tages dichter, grauer Nebel heraufzuziehen begann. Seine Hauptmacht lag zwar noch massig drunten in der Tiefe, aber schon hatten sich einzelne Schwaden, dem Nebelheer vorauseilend, herangeschlichen und strichen lauernd um den See am Fuße der Hütte, in Schlüften und Scharten den Weg weiter aufwärts zu den Gipfeln erspähend.

Enttäuscht traten Frau Jutta und Holten, schon fertig zum Aufbruch, zu Adlon hinaus und blickten in das eintönige Grau von Fels und Nebel zu ihren Füßen. Ein Frösteln packte in der kalten, feuchten Morgenluft die wenig ausgeruhten Körper an. Sie hatten gestern abend bis nach Mitternacht beim Wein beisammen gesessen. Einen zweifelnden Blick warf der Doktor auf seine Begleiter:

»Von Aussicht wird ja nun natürlich keine Rede sein, aber wir gehen doch wohl trotzdem?«

»Wenn Sie die Tour für ausführbar erklären, selbstverständlich,« entschied Frau Jutta.

»Also vorwärts!«

Sie stiegen den schmalen, wenig begangenen Pfad empor, der sich am Bett des Bachs entlang durch die Felstrümmer wand. Nach einer knappen Stunde verloren sich auch diese letzten spärlichen Spuren menschlichen Verkehrs in der öden Felswildnis ganz, und es ging eine rauhe Blockhalde steil aufwärts. Immer kälter wurde es, schneidend pfiff der Wind über den Hang, so daß die Hände allmählich starr wurden. Inzwischen schlich sich hinter ihrem Rücken der heimtückische Nebel immer näher heran, bald näßte es stark und nun wirbelten in dichtem Gestöber die Schneeflocken um die Wanderer herum.

»Da haben wir's!« Dr. Adlon blieb stehen und blickte sich sehr verdrießlich um nach den ihm folgenden Begleitern. »Die Sache wird nun kein Spaß sein.«

»Um so besser« entfuhr es Holten. – Mit der steigenden Schwierigkeit packte ihn plötzlich eine helle Kampflust, mit dem Felsgiganten droben zu ringen, der sich die Nebel- und Winterriesen aus ihren unwirtlichen Verstecken in vereister Felsscharte herbeigeholt hatte gegen ihren Angriff.

»Das heißt, wenn es nicht über Ihre Kräfte gehen wird,« wandte er sich an Frau Jutta.

»Ich gehe nicht das erstemal im Schneefall,« klang es kühl zurück, und die schlanke Frau, heute zum Steigen im Touristenbeinkleid, setzte entschlossen weiter schreitend den benagelten Schuh dem Fels auf den trotzigen Nacken.

»Dr. Adlon weiß ja, was er mir zumuten darf.«

So ging man weiter; hoffentlich hörte das Schneetreiben doch auch wieder auf. Aber das war ein mühseliges Klimmen auf dem nassen Gestein mit dem Neuschnee. Oft glitt der Fuß aus, und die dicht umhertanzenden Flocken erschwerten Dr. Adlon die Orientierung ganz außerordentlich. Trotzdem kamen sie vorwärts, wenn auch nur langsam, und glücklich wurde auch das ausgedehnte Schneefeld oberhalb der Halde passiert. Holten mußte dem Ortssinn und der sicheren Führung Adlons unter diesen Umständen im stillen wirklich allen Respekt zollen. Nun standen sie am Fuß des steilen Ostabsturzes des Wildkogels, wo die eigentliche Schwierigkeit erst begann.

Das Schneetreiben ließ jetzt nach, und so bot sich ihnen deutlich der Ausblick auf die düstergraue Wand, die sich fast senkrecht – auf den ersten Blick schier unerklimmbar – vor ihnen auftürmte. Eine verwitterte Mauer mit zahllosen, schräg aufsteigenden Rinnen und Rissen, aus denen der Schnee das ganze Jahr nicht wich und aus denen das abfließende Schmelz- und Regenwasser gar häufig abbröckelndes Gestein loswusch. Die Wand war daher wegen der Gefahr ihrer Steinschläge gefürchtet, und gerade heute nach dem Schneefall erforderte der Aufstieg doppelte Vorsicht.

Nur in einem langen, sich schräg an der Wand hinaufziehenden Couloir war der Angriff auf die Spitze möglich, und hier stiegen jetzt, als der Schneefall ganz aufgehört hatte, die drei ein – Dr. Adlon zuerst, ihm nach Frau Jutta und zum Schluß Holten.

»Aber Vorsicht!« mahnte Adlon.

Und er hatte recht. Sie merkten's gar bald beim Steigen. Im unteren Teil der engen, steil ansteigenden Schlucht, wo sie nun langsam aufwärts klommen, war zwar der Schnee vereist; aber der Zusammenhang zwischen Firn und Gestein war durch die Regenfälle der letzten Tage so gelockert, daß die eingebacknen Steine durch einen falschen Tritt leicht aus ihrer Lage gelöst werden konnten. Dr. Adlon stieg daher mit dem Aufgebot allergrößter Vorsicht aufwärts, Schritt für Schritt, mit geübtem Auge ein Posto für den nächsten Tritt suchend und vorsichtig erst wieder mit dem Fuß tastend, ob auch der Firn unter ihm hielt. In seine Stapfen tretend, folgten die anderen. So klommen sie langsam und schweigend empor.

Die Gefahr, die sie hier bedrohte, wurde ihnen alsbald klar gemacht durch das unheimliche Leben, das ringsum an der ganzen Felswand über ihnen erwachte. Ihr Angriff hatte die bis dahin still lauernden Bergriesen alarmiert. Nun waren sie geschäftig bei der Arbeit: Bald ein scharfes Knattern und Klatschen wie prasselndes Gewehrfeuer, bald dumpfes, donnerndes Poltern – je nachdem ein kleiner Steinhagel von oben niederging oder größere Steine in mächtigen Sätzen zu Tal jagten. Oft genug spritzten im Sprühregen Schneeklümpchen und Eissplitter über die Köpfe der drei hinweg, während die schwereren Steingeschosse in höherer Flugbahn über sie hinwegsausten.

Der überhängende Rand der Schlucht schützte sie zwar vor den Steinschlägen von der Felswand her, aber nicht geringer war die Gefahr, daß sich in dem Couloir selbst größere Steine lösen und sie mit ihrem zerschmetternden Sturz bedrohten, und das um so mehr, als die Vereisung des Schnees hier und da an steilen Stellen den Gebrauch des Pickels nötig machte. Zwar waren wohl Spuren von früheren Stufen vorhanden, aber sie waren im Laufe der Zeit, längere Zeit nicht mehr begangen, fast gänzlich verschwunden und bedurften der Nachhilfe. Knie und Linke auf den Boden gestemmt, schlug Adlon, dabei immer gespannt nach oben lugend, ob auch alles ruhig blieb, mit äußerster Vorsicht die nötigen Streiche. Es war für die anderen unter ihm jedesmal eine Zeit gespannten Harrens, mit angehaltenem Atem, als könnten sie so die Möglichkeit einer Erschütterung des Gesteins verhindern. Alle Muskeln waren ihnen gestrafft zum rettenden Sprung oder blitzschnellem Niederducken, wenn ein verräterisches Geräusch droben Gefahr melden sollte.

Eine Stunde hatten sie sich so hinaufgearbeitet. Da hielt Adlon vorn still und sah sich, auf seinen Eispickel gestützt, nach ihnen um.

»Jetzt kommt die Hauptsache – die einzige Stelle, wo wirklich Gefahr droht, wenigstens heut – bei dem Schmelzwasser.«

Er wies etwa 50 Meter aufwärts. Die Schlucht wurde dort von einer fast senkrecht niederstreichenden Ausmuldung der Bergwand durchquert; ihr oberer Rand war ausgebrochen und tief ausgewaschen durch die hier Jahr für Jahr niedergehenden Lawinen und Schmelzwässer. Schwarz und glänzend dräute unheimlich die wassergetränkte Felswand oberhalb dieser Stelle, von der es hier beständig in die Schlucht niedersickerte, heute aber infolge der letzten Niederschläge ein richtiger kleiner Bach in wildem Schwall herniederschoß, der einige Meter weit in den Couloir abströmte, sich dann aber in einer Rinne seitlich hinausdrängte und in Gischt zerstiebend in die gähnende Tiefe drunten hinabsprang.

»Halten Sie sich nur immer möglichst rechts – hart unter dem Rande,« mahnte Dr. Adlon. Ein kurzer Halt noch, um neue Kräfte zu sammeln, und dann ging es vorwärts, der Gefahr entgegen.

In tiefstem Schweigen schritten sie alle drei von jener prickelnden Erregung durchzittert, die in Augenblicken höchster Spannung jeden Nerv in uns vibrieren läßt. So kamen sie vorwärts, Schritt für Schritt – alles blieb ruhig, es schien, daß sie ungefährdet vorbeikommen sollten. Dr. Adlon hatte die gefährliche Stelle fast schon glücklich passiert, das Wassergerinne bereits überschritten, nur wenige Schritte noch, und er hatte schon wieder die Schutzwehr des hohen Felsrandes erreicht – da plötzlich ein seltsamer Laut, der das Rauschen des niederstürzenden Wassers übertönte. Von hoch oben kam er. Ein langsames, klagendes Pfeifen und Heulen wie von einer beutegierigen Bestie, und dann ein donnerndes Aufbrüllen, von so furchtbarer Wildheit, daß einen Moment lang Holten das Herz im Leibe erzitterte.

Wie dann alles geschah – Holten wußte es selber kaum. Ein schriller Warnruf von vorn scholl an sein Ohr, von Adlon, der sich gleichzeitig platt auf den Boden warf; aber im selben Moment erdröhnte auch schon die Bergwand rechts über ihm: In zermalmenden Riesensprüngen setzte es heran, und nun – immer begleitet von dem nämlichen nervenerschütternden Heulen und Pfeifen – prasselte es über ihn dahin, ein furchtbarer Hagel von Steinen und Blöcken, die, im Fall aufschlagend, den Firn tief aufrissen und einen Sprühregen von Eis und Schneestücken mit sich fegten, ihm dicht am Kopf vorbei.

Im gleichen Augenblick hatte Holten aber auch blitzschnell um sich gespäht: Dort rechts ein großer Block – ein Sprung, und er war in Sicherheit. Aber wie sich schon die Muskeln zum Sprung strafften, durchschoß ihn der Gedanke: Die Frau da neben ihm. Sich herumdrehen, sie schutzlos dastehen sehen, zwei Stufen über ihm, hinspringen und sie mit der Linken packen – es war das Werk einer Sekunde.

War es nur eine Täuschung seiner fiebernd erregten Sinne in diesem Moment höchster Aufregung, oder spürte er wirklich bei ihr einen heftigen Widerstand, den er mit fast brutaler Gewalt in ihrem eigenen Interesse überwinden mußte? Seltsam! In seiner Seele blitzte jedenfalls inmitten der Gefahr, die den Tod bringen konnte, ein Vergleich auf, eine Reminiszenz aus den Schuljahren: Siegfried mit Brunhilde ringend. War es ihm doch auch, als flammten ihn ihre Augen so zornig, fast haßerfüllt an.

Aber im nächsten Augenblick hatte er sie zu sich herangerissen – ein zweiter Griff, sein Arm umklammerte ihre Taille, zwei Sprünge mit Aufgebot all seiner Kraft, und dann sank er, mit ihr eng verschlungen, auf dem Firn nieder – im Schutz des Felsblocks. Inmitten des donnernd niederbrausenden Verderbens hielt er den weichen Frauenleib an sich gepreßt, so eng, daß er das heiße Leben darin spürte, daß ihre zarte, duftende Wange ihn streifte. Und ein Triumphgefühl schoß in ihm auf, daß er sie, die Kalte, Unnahbare, hier umschlungen hielt, seiner Gewalt ausgeliefert wie eine angstvoll zitternde Beute. Immer fester, immer enger preßte er sie an sich.

Plötzlich aber fühlte er sich heftig von ihr zurückgestoßen, unwillkürlich gab er sie frei, und im nächsten Augenblick stand sie wieder auf ihren Füßen.

Wild flog ihr Atem, während sie mit heftigen Griffen ihre verwirrten Haare ordnete und den kleinen Filzhut fester steckte, der sich verschoben hatte. Auch Holten war wieder aufgesprungen, die Gefahr war ja nun vorüber.

Schweigend standen sie sich gegenüber. Sie sah ihn nicht an, und kein Wort des Dankes kam über ihre Lippen, trotzdem sie wußte, daß er sie vor ernster Gefahr gerettet hatte – ja gerade deswegen. Sie wollte es ihm nicht danken, sie konnte nicht, denn sie verwand es nicht, daß er in diesem Augenblick der Stärkere, der Überlegene gewesen war an körperlicher Kraft wie an Geistesgegenwart. Sie war wütend auf sich selbst, daß sie da eben hilflos, wie erstarrt vor Schreck gestanden hatte, daß er für sie denken und handeln mußte. Sie hätte ihn hassen können deswegen, und doch, im Innersten hatte sie ihn bewundert in jenem Augenblicke, wo er hochaufgerichtet in dem Geschoßhagel, des Todes nicht achtend, zu ihr gesprungen war – während der andere da droben, der große Bergbezwinger, in jämmerlicher Angst um sein bißchen Leben, sich bäuchlings auf der Erde gewälzt hatte. Sie hätte laut loslachen können, der Gefahr ungeachtet. Und wie er sie gepackt hatte, so wild, brutal, daß ihr noch jetzt das Handgelenk schmerzte – aber sonderbar, es hatte sie fast wie eine Wonne durchrieselt unter seinem eisernen Griff. Zum ersten Male hatte sie in ihrem Leben die Herrschaft eines Mannes gefühlt, der, wenn auch nur für einen Augenblick, mit ihr nach seinem Belieben schaltete. Wie eine Ohnmacht war es in diesem Bewußtsein plötzlich über sie gekommen, und sekundenlang hatte sie im Schutze des Blocks eng an ihn gepreßt sich willenlos, geschlossenen Auges diesem niegekannten Gefühl hingegeben.

Aber dann war sie wieder zur Besinnung gekommen, und in glühendem Zorn auf sich und ihn, der es gewagt hatte, sie so an sich zu ziehen, hatte sie ihn von sich gestoßen, war sie aufgesprungen.

Bleichen Antlitzes, mit fest zusammengebissenen Lippen blickte sie nun an Holten vorbei, zu Dr. Adlon hinüber, der jetzt auch wieder aufgestanden war und sich ihnen vorsichtig bis an das Wasser hin genähert hatte.

»Teufel auch! Eine nette Überraschung!« lachte er. »Doch alles heil geblieben? Aber hallo – Sie bluten ja, Doktor.«

Schnell sah sich Frau Jutta nach Holten um. Wirklich! Von der linken Stirnseite rieselte ihm eine kleine Blutspur über die Wange. Holten hatte vorhin in dem Sprühregen wohl einen Moment das Gefühl eines leichten Schlages am Kopf gefühlt, aber in der Aufregung nicht weiter darauf geachtet. Nun faßte er mit der Hand nach der Stirn – sie war rot gefärbt. Offenbar hatte ihn also ein Eissplitter oder Steinchen getroffen.

»Ah, nichts weiter. Eine kleine Schramme,« erwiderte er und wollte nach dem Taschentuch greifen. Aber Adlon wehrte ihm ab.

»Halt! Halt! – Warten Sie, ich habe Verbandzeug bei mir. Immer aseptisch verfahren.« Eilig nahm er den Rucksack ab und suchte niederkniend nach Watte und Kompresse. »Übrigens waren Sie mehr als leichtsinnig, Verehrtester. Sie exponierten sich ja ganz unvernünftig der Steinsalve.«

»Herr Holten hatte offenbar Ihr gutes Beispiel nicht gesehen.« Mit spöttischem Blick trat Frau Jutta bis an das Wassergerinne zu Dr. Adlon. Dieser hatte gerade das Gesuchte gefunden und sah nun erstaunt auf, von ihrem kalt-ironischen Ton betroffen.

Schweigend reichte ihr Adlon das Verlangte hin, aber seine Stirn furchte sich. Kein Zweifel, sie wollte sich lustig über seine Vorsicht machen. Als ob es ihr etwas geholfen hätte, wenn er da vorn – weit ab von ihr – sich auch nutzlos preisgegeben hätte. Aber so sind die Weiber – ein Spielball ihrer Launen. Natürlich hatte ihr die »ritterliche Selbstaufopferung« des Anderen gewaltig imponiert, und darum mußte er ihr selbstverständlich ebenso in demselben Grade mißfallen. Weibergunst – immer dieselbe Schaukel. Wenn der eine steigt, muß der andere fallen. Der Teufel hole alle Frauenzimmer! Sie sind schließlich doch immer dieselben, auch wenn sich eine noch so still, kühl-verständig und mannesmäßig geriert. Er war ein Narr, daß er sich um dieses Weibes willen hier nun schon drei schöne Wochen festgelegt hatte. Na, nun aber Schluß! Er hatte genug davon. – Und mit grimmiger Entschlossenheit erdrosselte Dr. Adlon förmlich seinen Rucksack, so heftig zog er die Schnur zusammen. Er wußte, was er morgen tat.

Unterdes war Frau Jutta zu Holten getreten. Ein eigenes Gefühl überkam ihn, als sie sich jetzt freiwillig so dicht näherte, daß ihr Gewand ihn berührte.

»Sie erlauben,« richtete sie nun das Wort an ihn, aber sie vermied es, ihn anzusehen, wie sie dann mit leichter Hand ihm geschickt die Watte auf die kleine Wunde legte und die Kompresse darüber band. Er spürte dabei ihren warmen, wohlduftenden Atem an seiner Wange, und einmal berührten ihn leicht die feinen, weichen Fingerspitzen – ihm war, wie wenn die leise, offenbar unabsichtliche Berührung den Dank aussprechen sollte, den die trotzigen Lippen zurückdrängten – und abermals durchrieselte ihn das Gefühl geheimer Wonne wie vorhin unter dem Felsblock. Es packte ihn plötzlich das Verlangen, die helfende, zarte Frauenhand vor seinen Augen mit den Lippen zu berühren. Aber dann drängte er das aufwallende Gefühl rasch wieder zurück. Vernünftig bleiben! Sich nicht von dieser ihrer momentanen Samariterlaune aufs Glatteis locken lassen. Jeden Augenblick konnte wieder das spöttische Lächeln da um den feinen, roten Mund erscheinen – und er wollte sich nicht von ihr bei einem Ausgleiten ertappen lassen.

»Nun nur noch einen Augenblick!« Schnell eilte sie zum Wassergerinnsel, tupfte ihr feines Taschentuch hinein und kehrte zurück, ihm die Wange vom Blut zu reinigen.

»So –« sie trat von ihm ab. »Nun wird es wohl gehen.«

»Sie sind sehr gütig, gnädige Frau.« Holten sah sie voll an. »Ich danke Ihnen.«

»Bitte – das wäre wohl an mir,« lehnte sie ab, das ausgepreßte Tuch wieder in ihrer Tasche bergend, und nun traf ihn auch ihr Blick – ganz eigen, seltsam; halb im Dank, halb im Trotz und dabei so eindringend, forschend, unsicher.

»Nun?« Dr. Adlon fragte es in etwas unwirschem Ton zu ihnen herüber, den Rucksack wieder auf dem Rücken. Die Samaritergruppe hatte seinen geheimen Ärger nur noch mehr angefacht.

»Selbstverständlich weiter,« sagte Holten und wollte vorwärts.

»Damit uns der nächste Steinhagel die Köpfe einschlägt? Nein, ich danke bestens.«

Erstaunt sah sich Holten nach Frau Jutta um; das hatte er von ihr nicht erwartet. Sie las es in seinen Augen und fuhr ruhig fort:

»Ich bin nicht bange – aber bei dem Wetter heute hier rumzukriechen, das ist doch heller Blödsinn. Sagen Sie selbst,« wandte sie sich an Adlon, »das eben hier kann uns doch jeden Augenblick wieder passieren?«

Adlon zuckte die Achseln. »Schon möglich, obwohl ich es nicht glauben möchte. Die Hauptsache haben wir ja gleich hinter uns. Immerhin – auch der Couloir selber ist heute nicht zuverlässig,« fügte er, in die Schlucht hinaufsehend, hinzu, sich seiner Verantwortlichkeit als Führer bewußt.

»Um so mehr bin ich für Umkehr,« entschied Frau Jutta. »Ich habe jedenfalls meinerseits nicht viel Neigung dazu, mich alle paar Schritt auf die Nase zu werfen. Diese Parterregymnastik ist doch nicht ganz nach meinem Geschmack.« Die abermalige höhnische Anspielung machte Adlon sich auf die Lippen beißen. »Überdies brauchen wir ja auch absolut nicht heut den Berg zu bezwingen. Morgen ist ja auch noch ein Tag.«

»Ganz recht.« Kühl kam es von Adlons Lippen, während er, zur Rückkehr entschlossen, zu ihnen herankam. »Nur müssen Sie dann allerdings auf meine Gesellschaft verzichten. Ich breche morgen von Längenfeld auf.«

Holten sah ihn erstaunt an. Aber Frau Jutta, die seinen Gedankengang erriet, erwiderte – sie würde sich doch von ihm nicht drohen lassen – ganz gelassen:

»Das ist freilich sehr bedauerlich, kann uns aber kaum umstimmen. – Nicht wahr, Herr Doktor, Sie geben mir doch auch recht: Es ist vernünftiger, wir kehren heute um?«

Schmeichelnd sah sie Holten an; aber er empfand es wohl: Nur um den andern zu ärgern, bat sie um seinen Beistand. Es reizte ihn daher, sie zu enttäuschen.

»Sie kennen ja im allgemeinen meine Ansicht, gnädige Frau,« sagte er zurückhaltend. »Indessen, wenn ich einmal etwas unternehme, höre ich nicht gern mitten drin auf.«

Ein zorniger Blick sprühte ihn an. Wenn da vorhin sich Weiches bei ihr regen wollte, er hatte es jetzt selber wieder vernichtet. Kurzerhand drehte sie um; jetzt gab sie schon aus Eigensinn nicht nach.

»So mögen die Herren allein weiter gehen. Ich kehre um.« Und sofort begann sie abwärts zu schreiten.

»Davon kann natürlich nicht die Rede sein,« entschied Holten. »Selbstverständlich fügen wir uns dann Ihrem Wunsch.«

Wie er folgte nun auch Adlon; aber schweigend traten sie alle drei den Rückweg an.

 


 << zurück weiter >>