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Siebzehntes Kapitel

Jakob verläßt Genf, und Gott öffnet ihm eine Türe

Jetzt hatte er also gar nichts mehr als was er am Leibe hatte, fort war auch das Felleisen, und ohne Felleisen solle er ihr nicht wiederkommen, hätte die Großmutter gesagt, meinte er, also auch heim durfte er nicht! Da ergriff ihn eine unendliche Trostlosigkeit, so alleine auf der Welt, nirgends mehr ein Heim, keinen Vater über den Sternen, keine freundliche Stätte auf Erden, keine Kraft in den Gliedern, keinen Mut in der Seele! Wo kein christlicher Sinn ist, keine Demut, welche im Unglück die eigene Schuld anerkennt und in der Züchtigung die göttliche Liebe, da versteinert eine solche Trostlosigkeit zu Menschenhaß, die Rachgier entsteht, welche vermeintlich erlittenes Unrecht am menschlichen Geschlechte oder wenigstens an ganzen Ständen und Klassen rächen will. Er suchte Arbeit und fand keine, wurde sehr kurz abgewiesen, selbst von Meistern, welche er im Bunde glaubte. Sie wollten sich nicht verdächtig machen, wollten lieber nicht selbst wandern, überdies stockte die Arbeit wie zu jeder Zeit bei bürgerlichen Unruhen. Sie gaben ihm Winke, er täte besser, so bald als möglich weiterzugehen, wenn er nicht auf dem Dampfschiff transportiert werden wolle den See ab. Was wollte er anders? Zudem graute ihm vor dem Dampfschiffe, er wollte lieber stolpern durch den Schnee, solange seine Beine hielten. Von seinem Unglück waren einige Weiber gerührt geworden, hatten ihm einiges geschenkt, zwei alte Hemden hatte er, ein Paar alte Pantoffel, dito Strümpfe, eine warme Halsbinde, und um dieses einbinden zu können, hatte ihm die Kellnerin ein Halstuch gegeben, auch einige Batzen Geld hatte er, dem Tod zu wehren in den ersten Tagen. So zog er aus, einer Schwalbe ähnlich, die wegen gelähmtem Flügel zurückgeblieben ist und den ersten Schnee auf ihrem Gefieder fühlt, oder als ein Lump, wie die Großmutter gesagt hätte. So arm und schlotternd zog er aus dem reichen Genf, in welchem achtzig Millionärs wohnen sollen, und keiner stand in bitterm Winde unter der Haustüre, paßte auf den armen Jakob, führte ihn ans helle Feuer und herbergte ihn, solange es Jakob wohlgefiel.

Was dies doch für ein prächtiger Text wäre für Kommunisten, Sozialisten, Fourieristen und andere Unchristen zu einer donnernden Habakukiade über die Reichen dieser Welt, die Notwendigkeit, sie erst zu beschneiden, dann auszurotten, endlich die Gebärden alle zu beginnen, welche nach ihrem Wähnen das Himmelreich bringen sollen! Alle diese Unchristen suchen die Ursache des bestehenden Elends nie in der Sünde, wo es nach unsern heiligen Büchern liegt, namentlich niemals das eigene Elend in der eigenen Sünde, sondern sie suchen es in der bestehenden Ordnung. Ja, hört es, ihr Leute alle, welche wirklich das Christentum noch für das höchste Gut halten, diese Leute suchen die Ursache des Elends in den Geboten Gottes und ihrer Befolgung, sie nennen die heilige Ehe eine Unsittlichkeit, das Verbot zu stehlen einen Frevel an den Menschenrechten, die Hoffnung eines ewigen Lebens Pfaffenlüge, den Glauben an Gott kindischen Unsinn. Christus, der kam, das Verlorne zu suchen und selig zu machen und nicht um der Welt Lohn willen, sondern indem er das eigene Leben zum Opfer gab, setzt eben in die Überwindung der Sünde, in das Opfern des alten Menschen des Menschen höchste Aufgabe in diesem Leben. Fourier im Gegenteil setzt in die Befriedigung aller Leidenschaften des Menschen Höchstes, und für die erste Pflicht der menschlichen Gesellschaft gibt er aus, jeden Menschen in die Lage zu versetzen, in welcher er seine Leidenschaften vollständig befriedigen kann, denn das ewige Leben hält Fourier für eine pfäffische Lüge. Je nachdem nun der Mensch ein Ziel hat, gestaltet sich ihm der Dinge Wert, sucht er den Grund, der ihn an Erreichung seines Zieles hindert, ihm Elend gibt statt Glück. Der Christ, um es bündig zu sagen, sucht diesen Grund in der Unzucht, der Fourieraner in der Zucht. Der Christ hätte den Grund von Jakobs Elend nicht bei den Genfer Millionärs gesucht, sondern in Jakob selbst. Der Christ hätte gesagt: »Wäre der Jakob bei seinem Leisten geblieben, wie es einem redlichen Gesellen ziemt, der aufsein Handwerk reiset, hätte er treulich gearbeitet, sich im Handwerk fleißig umgesehen, nicht mehr gebraucht als er nötig hatte, wäre er geborgen gewesen, geachtet geblieben, in Fällen der Not hätte er einen Notpfennig gehabt, und wenn gar großes Unglück gekommen, so hätte er doch den Trost in sich gehabt, daß er nicht verlassen sei, und wenn auf Erden keine Türe mehr offen sei, so sei ihm doch die enge Pforte offen, welche in den Himmel führt. Und wäre er aus der Not gekommen, so hätte er Anker geworfen im Leben, hätte guten Grund gefunden, wäre vom Gehorchen zum Befehlen gekommen, hätte eine feste Burg sich erbaut, in welcher er sicher gewesen wäre vor den Stürmen des Lebens. Der Junge konnte, aber er wollte nicht. Gaben und Gelegenheit fehlten ihm nicht, besonderes Unglück traf ihn nicht, aber der Junge wollte genießen, wollte seine Menschenrechte benutzen, wollte in fremdem Lande mit Gewalt eine Ordnung wegschaffen, welche ihm im Wege stand, wollte ernten, ehe er ausgesäet, wollte schneiden, was andere gesäet hatten, darum muß er jetzt ernten, was er ausgesäet, denn wer Wind säet, wird Sturm ernten.« So hätte der Christ gesprochen.

Der Christ hätte ferner gesagt: »Gott der Herr hat die Pflichten zuerst gesetzt, nach den Pflichten erst kommen die Rechte, nach dem Säen kommt das Ernten.« Das ist auch ein Naturgesetz, aber ein von Gott gesetztes: »Wer nicht säet, soll nicht ernten, wer säet, soll ernten, was er gesäet, und wer untreu in seinen Pflichten ist, bringt sich um seine Rechte.« Dies ist eine Ordnung Gottes, welche er festhält mit seiner allgewaltigen Hand, welche so unabänderlich ist als die Ordnung, in welcher die Sterne rollen im unendlichen Räume, gehalten von Gottes allgewaltiger Hand. Diese Ordnung nun wollen die bösen Geister, welche, wie Paulus sagt, in der Luft schweben, nicht anerkennen, sondern umstürzen. Sie kennen nur Rechte, von den Pflichten wollen sie nichts wissen, insofern sie nicht eine Passion oder Leidenschaft dazu haben. Sie begehren das Recht, zu ernten, was ihnen beliebt, zu schneiden, wo sie nicht gesäet haben. Das irrt sie in ihren Grundsätzen durchaus nicht, daß das Leben sie in verschiedene Verhältnisse führt, sie bleiben sich in ihren Grundsätzen gleich. Haben sie zum Beispiel Väter, so entziehen sie sich allen Pflichten und fordern kindliche Rechte: der Vater soll geben, solange sie begehren. Werden sie Väter, so wollen sie nichts von den Kindern wissen, solange sie was kosten, würden sie den Hunden vorwerfen, wenn sie könnten. Darum nennen sie die Ehe, welche sie zu Erhaltung ihrer Ender verbindlich macht, eine Unsittlichkeit, weil sie ihnen Pflichten auferlegt. Kämen aber diese Kinder zu was, so würden sie väterliche Rechte geltend machen, ihnen auf dem Halse liegen und sie aussaugen. Sind sie arm, so sollen die Reichen ihnen geben, sind sie faul, so soll alles arbeiten, sie aber wollen jedem seine Arbeit zuweisen. Werden sie reich, so sollen ihnen die Armen arbeiten um nichts, Bettelei wird zur Sünde, und wer nicht arbeiten will, soll nichts essen. Sind saubere Kunden, diese Leute, haben es mit ihren Grundsätzen wie Hanswurst mit seiner Kutte, er hat immer die gleiche Kutte, aber er kann sie drehen und wenden, wie es ihm kommod ist, daß vernünftige Leute sich gar nicht darauf verstehen können. Diese Menschen alle begreifen nicht, daß wir allzumal von bloßer, simpler Natur aus gar keine Rechte haben, daß das sogenannte nackte Naturrecht eine Dummheit ist, ein menschliches Ersinnen, und daß der Fuchs mit der gleichen Befugnis sich ein Naturrecht auf den Hühnerstall oder den Taubenschlag des Menschen andichten könnte. Alle unsere sogenannten Rechte sind auf Gottes Wort und Ordnung gegründet, ohne diese sind sie alle nichts und eitel Dunst, sind nichts als die allgemeinen Tierrechte, welche vollständig in den kurzen Worten enthalten sind: »Wer einen fressen kann und fressen mag, der fresse ihn und zwar ohne weitläufige Komplimente!«

Nun eben möchten die Leutchen die Ordnung Gottes auf den Kopf stellen. Sie werden fuchswild, wenn einer nach seiner Leidenschaft auf das Fleisch säet, und er erntet nach der Ordnung Gottes das Verderben, erheben ein entsetzlich Mordgeschrei, und die bösen Geister, welche in der Luft schweben, stimmen entsetzlich ein über die Ordnungen, welche jemand, der nach seiner Natur handle, hemmen oder gar unglücklich machen. Erst wird revoluzt, die menschlichen Ordnungen werden über den Haufen geworfen, der Schelm in Ehren gestellt, der Bock zum Gärtner gemacht, der ehrliche Mann verfolgt. Von der menschlichen Ordnung gehts an die göttliche, und unchristliche Buben treiben den Frevel so weit, daß sie das Christentum eine Unsittlichkeit nennen, einen Raub an den allgemeinen Menschenrechten, der in Bälde gutzumachen sei. Die hirnwütigen Buben! Muß man bei solchem Frevel sich nicht ordentlich Gewalt antun, um zu sagen: »Vater, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun«? Den Menschen von dieser Sorte wäre nun Jakobs Auszug, nicht aus Ägypten, sondern aus Genf, ein herrlicher Stoffgewesen, Haß und Rache zu entzünden, die Reichen herunterzumachen und ihre Leute zu erheben. So wie man die Ordnung selbst angreift und die Freiheit der Triebe predigt grundsätzlich, so pflegt man, um das Volk vollständig zu blenden, alle Schelmen, Mörder, Brandstifter, Blutschänder als von Natur ganz herrliche Menschen darzustellen, und was an ihnen allfällig nicht zu loben und zu preisen ist, alles, was man ehedem Schandtaten nannte, daran ist die bestehende Ordnung, sind die christlichen Vorurteile und unmenschliche Vorschriften schuld und zwar so schrecklich, daß der gröbste Verbrecher nicht bloß zu entschuldigen, sondern vollständig zu rechtfertigen ist, eigentlich mit einem Orden oder einer Freiherrei, denn solche beginnen bei den rabiatesten Radikalen in Geltung zu kommen, zu bedenken wäre. Umgekehrt dann stellen sie alle Menschen, welche in höhern Verhältnissen, in öffentlicher Achtung, in Amt und zwar mit Ehre leben, als die allernichtsnutzigsten Menschen dar, beladen mit Verbrechen von allen Arten, von Herz und Seele zehnmal ärger als der Teufel, Galgen und Rad viel zu leichte Strafen für sie, und doch würden sie nicht gestraft, weil die verfluchte Ordnung sie schütze, das unsittliche Christentum ihr Schild und Deckmantel sei. Wolle man ihnen ans Leben, müßte erst die Sache umgedreht werden, dann erst könnte man die wahrhaft liebenswürdigen Menschen, die gegenwärtigen Mörder, Räuber, Brandstifter, zu den gebührenden Ehren bringen, zu Musterbildern der bis dahin durch das Christentum heillos verwahrlosten Jugend machen. Um es ganz kurz zu sagen, in allen in diesem Sinne geschriebenen Büchern stellt sich die Sache so heraus, daß der Leser den Richter als einen Unhold, als Scheusal, als tadelwürdig ansehen muß, den Verbrecher aber als eine liebe, treue Seele, einen leibhaftigen Engel, ein bedauernswertes Opfer christlicher Barbarei und Grausamkeit.

So schreiben diese Leute mit vieler Kunst und Kraft und werfen, was sie schreiben, unter das Volk. Mit vieler Kunst und Kraft wollen sie im Volk den Glauben pflanzen, all sein Unglück und Elend komme her von der bestehenden Ordnung, vom Christentum, darum müßten diese weg, dann komme die goldene Zeit, breche ein junger Morgen voll Herrlichkeit den Völkern an. So schreiben sie, und wer anders schreibt, den verfolgen sie, und wer anders geschriebene Bücher zu lesen gibt, den stellen sie ein im Amte, wenn er eins hat. Wer meint, es sei nicht so oder wenigstens zu grell dargestellt, der lese, was Franzosen schreiben und Deutsche für das Volk übersetzen und die Buchhändler in wahrer Wut verbreiten zu Hunderttausenden, der lese so manches sogenannte deutsche Volksbuch, er wird seinen Tadel zurücknehmen und bekennen, es sei noch ärger und schamloser, als es hier dargestellt ist.

Solche würden die armen Genfer gräßlich geschildert haben. Was das für Leute seien, die fromm täten und sehr fein, wie sie aber inwendig seien voll Moder und Totengebein, hinter ihren kalten Mauern die schrecklichsten Laster übten, Wucher trieben, Champagner söffen wie Kühe Wasser und einen armen Handwerker halb nackt und hungrig ziehen ließen zum Tor hinaus, ohne ihn zu kleiden und zu speisen, und wollten doch Christen sein und seien doch schuld an seinem Elend, die verfluchten Pfaffenknechte und Aristokraten! Denn hätten sie gleich nachgegeben und dem Fremdling gesagt: »Ihr habt recht, und machts, wie es Euch beliebt!« so könnte der Jakob, der jetzt halb tot durch die Straßen schleiche, eine hohe Stelle bekleiden und einer der Ersten sein, das sei ein Kerl, ach Gott! Nun würden sie schildern sein edles Gemüt, wie hochgesinnt er sei und schwärme für die Ideen, fasse das Höchste, sei geboren für das Beste und ein lebendiges Beispiel, wie die bestehende Ordnung der Natur Gewalt antue und heilloses Unrecht. Die Natur hätte den Jakob zu einem Häuptling bestimmt, zu einem Edeln des Volkes, und in der verfluchten Ordnung sollte er Handwerksgeselle sein und arbeiten um ganz gemeines Brot und habe doch eine so hohe Seele und ein so tief Gefühl und sei so schön, so gut und ach, so herrlich! Würden ihn schildern, daß die Männer knirschten und allen Leserinnen das Wasser über die Backen liefe und mit tiefem Seufzen ihre Herzen dem armen Jakob öffnen und sie von ihm träumen täten vierzehn Tage hintereinander. Wir tun das nicht, wir haben auch Erbarmen mit Jakob, bedauern gar sehr, daß er in solch Elend gekommen, und sind überzeugt, daß die Genfer Millionärs und Millionärinnen sicher auch Mitleid mit ihm gehabt hätten, wenn ihnen seine Umstände bekannt gewesen wären. Aber ein Mensch ist eben nicht der liebe Gott, der allein alles weiß; so einem Menschenkind bleibt gar vieles verborgen, auch wenn es Millionen besitzt. »Ja aber«, wird man sagen, »da sollte man Anstalten einrichten, und das ist eben an den Reichen, wo alle in solcher Lage sich melden können, wo allem Elend gesteuert, allen Bedürfnissen abgeholfen wird, allen Wünschen entsprochen usw.«

Man sollte auf Erden eine Anstalt errichten, zu verhüten, daß je ein Mensch, er mag tun, wie er will, in Verlegenheit oder Leiden komme, und eigentlich hätte der liebe Gott mit jedem Menschen ein himmlisches Kindermädchen sollen geboren werden lassen mit einer Unmasse von Vorräten an Geduld und Vorsicht, daß ja das gute Menschenkind den Fuß an keinen Stein stoße. Aber eben dies wollte der liebe Gott nicht. Als es dem verlornen Sohne schlecht ging, schickte ihm Gott keine Köchin nach, daß sie dem lieben Söhnlein koche und brate, sondern er ließ ihn zu den Trebern kommen, bis er deren nicht einmal mehr kriegte, bis er in sich schlug, sich aufmachte und den Vater wieder suchte. Denn dies ist eben die Ordnung Gottes, daß der Sünder durch Weh zum Wohl geführet wird, daß Züchtigungen wirken friedsame Früchte der Gerechtigkeit, daß, wer sich nicht bekehrt, untergeht. Gegen diese Ordnung Gottes hilft keine Anstalt, da setze man nur ab, und wie auch die Sünder das Ding umkehren, den Sünder warm betten, den braven Mann durch Weh zur Sünde treiben möchten unter dem Schirmdache des sogenannten Zeitgeistes, es hilft ihnen all nichts. Freilich fallen ihnen alle zu, welche kein ewiges Leben glauben, und deren sind viele, denn solche können keinen Lebenszweck haben als Genuß. Wer aber ein ewiges Leben glaubt, weiß, daß man sich hier läutern, daß man kämpfen muß und seine Kräfte schärfen, um jenseits die Vollendung zu erlangen; die begreifen die Ordnung Gottes und beten die Weisheit an, welche sie geschaffen. Wie böse, faule Winde über die Erde streichen, Seuchen bringen unter Vieh und Menschen oder Pflanzen, Kartoffel vergiften, so weht auch zuzeiten ein fauler, sündiger Geist durch das Menschengeschlecht, Seelen vergiftend, Zeitgeist nennt man gegenwärtig diesen Wind, und selten wird auf Erden jetzt ein Menschenkind gefunden werden, welches nicht kürzere oder längere Zeit an demselben krank gelegen hat. Aber wie plötzlich frische Winde kommen, die faulen vertreiben, der Kartoffeltöter sein Ende finden wird, so verbläst sich auch der Zeitgeist, und der gesunde Gottesgeist wird wieder heilend und heiligend wehen über dem Menschengeschlechte.

Statt nach Paris wanderte Jakob zu dem Tore aus, welches nach der Schweiz führte und durch die Schweiz nach der Großmutter. Es war ihm unheimlich geworden in den welschen Landen, und wie sollte er in Paris einziehen mit seiner Habe im Nastuch, was würde man da zu dem Jakob sagen, wenn er so daherkäme? Zudem hoffte er, zu seinem Felleisen zu kommen, den verfluchten Wirt zu erhaschen, der so verflucht liberal getan und vor lauter Freisinnigkeit nicht wußte, was sein oder andern Leuten, mit der Habe armer Gesellen davongegangen war.

Hochgemut war er eingezogen in Genf, fast wie die Östreicher zur Schlacht bei Morgarten, wo sie Wagen voll Stricke mitführten, um die Schweizer zu binden; jetzt zog er ab ganz kleinmütig, fast wie die Franzosen aus Rußland, wo ein einziger Kosak ganze Haufen gefangen nahm. So wandeln sich nicht bloß die Dinge, so wandeln sich auch die Stimmungen, gar selten sind die Helden, welche den gleichen Mut bewahren in Glück und Unglück, nach gewonnenen und verlorenen Schlachten, solche heißt man dann aber auch nicht umsonst Helden. Nun, ein Held war unser Jakob nicht, großer Kleinmut füllte seine Seele, ließ selbst Groll und Bitterkeit nicht ordentlich aufkommen. Ja, wer so recht kalt hat, die Glieder Eiszapfen scheinen, das Blut wie halb gefrornes Wasser in den Adern sich stauchen will, das Herz nur noch ein ganz klein wenig klopft, dem schwinden die welterobernden Ideen, und nach einer warmen Ecke seufzt der Mensch, sie ist seiner Träume höchstes Ziel. Aber wo sie finden in fremden Landen und noch dazu im Welschland, wo das Holz dünn, die Wärme teuer und man fast ohne Geld ist?

So humpelte er matt und traurig die tote Straße fort und fror entsetzlich. Er hielt es nicht lange aus, er mußte in einer Kneipe einsprechen, um wieder zu erwarmen und zu sich selbst zu kommen. Der Wirt konnte Deutsch, und da eben niemand sonst da war, verhandelte er mit ihm das Woher und Wohin. Dies führte sie auf die Tagesfragen und die Genfer Geschichte. Der Wirt war ungeheuer freisinnig, konnte die Genfer Aristokraten nicht sattsam lästern und sagen, wenn er dabei gewesen wäre, es wäre ganz anders gegangen, aber leider hätte er damals den Husten gehabt und der kalten Luft sich nicht aussetzen dürfen, aber wenn es noch einmal losgehe, dann sei er auch dabei, und dann schone er das Kind im Mutterleibe nicht. Jakob ward es ganz traulich zumut und warm ums Herz, Groll und Bitterkeit wurden wieder flüssig, er erzählte seine Malheurs, und wie es vielleicht gegangen wäre, wenn es ihm nicht so ergangen, wie man ihn im Stiche gelassen, wie schlecht man es ihm gemacht; wenn er mal wiederkomme, dann solle man sehen, wie es gehe, er wolle dann abrechnen, daß man davon reden werde.

Weil ihm so traulich ward und das Herz aufging und der Wirt ein Bruder schien, so wäre er gern da geblieben. Er sagte dem Wirt, es gefalle ihm hier, er gedenke, ein paar Tage da zu bleiben, um sich zu erholen und die herbste Kälte vorbeizulassen. Der Wirt machte eine Pause, sah auf das Nastuch, dann frug er, Jakob werde mit Geld versehen sein; habe er kein Geld, so könne er nicht dienen, es müsse heutzutage jeder zu sich selbst sehen und sehen, wie er durchkomme. Mit Geld sei er eben nicht versehen, sagte Jakob. Aber ihrer Freiheit wegen sei er hergekommen und entschlossen, den letzten Blutstropfen daran zu setzen, und gehe es bald wieder los, so sei er am nächsten bei der Hand, wenn er hier bleibe. Das sei nicht nötig, sagte der Wirt, sie werden es machen können ohne ihn, so wie er auch ihretwegen hätte daheim bleiben können. »Ich verstehe Sie nicht«, sagte Jakob, »Sie werden mich doch nicht aus dem Hause stoßen wollen? Sie sind ja auch ein Bruder und müssen brüderlich an mir handeln, Sie wissen ja, was wir wollen: was mein ist, ist dein, und was dein ist, ist mein!« Es murmelte der Wirt was von hungrigen Fremden und Emmentalerkäs, den die Mäuse gerne teilen täten, dann schmunzelte er und sagte, am Ende könne er sich das Teilen noch gefallen lassen, wenn es sein müsse. Er sei achthundert Franken Miete schuldig, für Wein, Brot usw. auch noch was; wolle er die Schulden mit ihm teilen und seinen Anteil daran bar erlegen, so stehe er nicht an, die Teilung einzugehen, »was mein ist, soll auch dein sein, was dein ist, begehre ich dann weiter nicht.« So sei es billig; wolle man das eine, solle man auch das andere nehmen.

Diesen Hohn hätte Jakob gerne gerochen, aber er hatte die Kraft nicht dazu, er machte, daß er fortkam, denn er kriegte Furcht, dachte, der Wirt sei ein falscher Bruder und möchte ihm die Gendarmen nachhetzen. Der gute Jakob wußte nicht, daß sein ganzes System oder sein Glaube im Kerne die tierische Selbstsucht war, freilich als Schale darum herrliche Phrasen und Redensarten. Teilen wollte man mit allem, was andere Menschen Gutes hatten, ihrer Bürden bedankte man sich, die Hälfte Kinder eines armen Teufels zum Erziehen zu übernehmen, daran hat noch kein Kommunist gedacht, wohl aber daran, die Ehe abzuschaffen, so daß man dann gar nichts auch mit den eigenen Kindern zu schaffen hätte. Aber sobald einer was abgekriegt hätte, so hätte er sich damit gestrichen wie ein Huhn mit dem Brocken Brot, wie der Hund mit einem Stück Fleisch aus der Fleischbank, oder aber er hätte wie Reineke Fuchs oder wie Johann von Leyden die Menge beredet, einen gemeinschaftlichen Schatz anzulegen, und hätte sich dann die Verwaltung vorbehalten oder wäre in einer ruhigen Stunde damit davongegangen. Der gute Jakob hatte genug erlebt, war aber noch lange nicht weise genug, Erfahrungen zu machen, das heißt, die äußern Erscheinungen auf ihren innern Grund zurückzuführen und diesen mit Sicherheit zu erkennen. Am allerwenigsten wäre Jakob imstande gewesen, seinen eigenen innern Sinn zu ergründen. Seine eigenen Begierden hatte er mit schönen Redensarten umwunden, diese Redensarten Grundsätze genannt, allgemeine Weltgrundsätze für alle, und ahnete von ferne nicht, daß der Kern, aus welchem alle diese Grundsätze gewachsen waren, nichts mehr und nichts weniger war als ganz gemeine Begehrlichkeit und der jederzeit und in jedem Tiere vorhandene Neid gegen alles, was andere hatten. Der gute Junge hätte himmlisch geschrien, wenn man es ihm gesagt hätte.

Bitterböse ging er weiter, bis es ihn wieder fror, dann verging der Zorn, und er ward wieder elend und jammersüchtig. Er versuchte zu fechten, aber es ging schlecht, der Welsche ist nicht freigebig, macht, absonderlich wenn es kalt ist, seine Tür nicht gerne auf und streckt eine milde Hand hinaus. Jakob dachte diesmal an das Fechten im Aargau von Basel her, wie das lustig gewesen sei und abträglich, und seufzte bei sich: »Ach, wenn es nur wieder so wäre!« Aber daß er sich damals mit dem mutwilligen Fechten versündigt hätte und jetzt die Bußzucht angebrochen sei, daran dachte er nicht. Er glaubte, die Heerstraße, auf der er wanderte, sei schuld an der Kaltherzigkeit, indem die Herzen an der Straße hartgetreten worden seien so gut als die Straße selbst. Er lenkte landeinwärts ein, er pochte an niedere Hütten, er suchte Arbeit, er, der Jakob, in den schauerlichsten Winkeln, welche ihm ganz abseits der Welt zu liegen schienen, und bei Meistern, welche auch nicht der geringste Funke von Bildung angeflackert hatte, und von welchen es ihn durchaus nicht verwundert hätte, wenn sie Hörner auf dem Kopfe und Klauen an den Füßen gehabt hätten. Aber er fand keine, wie gerne er auch welche gehabt hätte, wie sehr er sich herabließ und bat und anhielt. Es war Winter, die Arbeit rar, und wer ihn ansah in seiner abgerissenen Gestalt, mußte Bedenken tragen, ihn zum Hausgenossen zu machen, denn auf dem Lande wohnt an den meisten Orten der Geselle noch beim Meister. Er war zwei ganze Tage gegangen, freilich dabei nicht weit gekommen und hatte wenige Gaben empfangen, kein freundlich Wort, konnte kaum mehr das Leben fristen, und es ward ihm mehr und mehr, wenn er nur sechs Fuß unter der Erde wäre, und doch schauderte ihm davor. Hui, dachte er, wie kalt es erst da unten sein müsse, wo kein Feuer sei, keine Sonne scheine. So recht kalt haben, keine warme Ecke auf der Welt, keine Aussicht als das kalte Grab, kein Gedanke an den schönen, sonnenreichen Himmel, da ist ein schrecklich Dabeisein.

Eiskalt war er auch am dritten Tage aus schlechtem Bette aufgestanden, in welchem er eine ganze Nacht umsonst versucht hatte zu erwarmen, halb erfroren mußte er in die kalte Welt hinaus und hatte dazu noch Frostbeulen an den Füßen, mußte langsamer gehen als nötig war, das Blut in raschen Umlauf zu setzen. Klar war der Himmel in tiefem Blau, silbern flimmerte der Schnee, mit weißen Kränzen hatten sich die Bäume geschmückt, es war herrlich auf der Erde; wer aus warmem Pelze heraus sie ansehen, wer wohl eingepackt in lustigem Schlitten über sie hingleiten konnte, wer eine warme Ecke wußte, wo er wieder absitzen konnte, wenn es ihm zu kalt war draußen, wer ein Heim hatte oder einen guten Freund, der mußte sich freuen über den herrlichen Wintertag und Gott loben, der seine Pracht und Schönheit im blumenreichen Frühling, im schneereichen Winter in immer gleicher Herrlichkeit entfaltet.

Wer aber böse Füße hat, dünne Hosen, eine kalte Haut und nirgends einen Fleck, wo er in Ruhe sein Haupt ablegen kann, der hat andere Augen im Kopf und keinen Mund, zu preisen und zu loben, sondern nur einen Mund, zu seufzen und zu klagen. Wer auch schon so im Winter gewandert ist, der kann erzählen, wie schwarz einem die Welt vorkömmt, auch wenn sie in Sonnenglanz und weißem Winterkleide am hellsten glänzt und glitzert. Die weißen Girlanden, welche von den Bäumen hingen oder von einem Aste zum andern, die wollten Jakob vorkommen wie Totenkränze, welche man über die Särge legt, wenn man Junggesellen oder Jungfrauen zu Grabe trägt. Es kam ihm vor, als seien diese für ihn bereitet, und wenn er sich schlafen lege unter einen von diesen Bäumen, so fielen sie herab und legten sich über ihn, damit er nicht ohne den üblichen Schmuck im Tode bleibe. Er betrachtete die Bäume einen nach dem andern und mußte immer denken, welches wohl sein Totenbaum sei, und an welchem die Totenkränze hängen möchten. Das kam ihm unheimlich übers Herz, es war ihm, als sei jeder Baum eigentlich der Tod und hasche nach ihm, hastig schoß er an jedem vorüber, war froh, wenn er ihn im Rücken hatte, aber dann paßte schon ein anderer wieder auf, lange Äste über die Straße streckend, an denen die Kränze tief niederhingen. Diesem galt es zu entrinnen und dann wieder einem und wieder einem, und so in Angst und Fieber fast wie ein vom Tode gejagtes Wild wanderte er den Morgen durch und kam gegen Mittag in einen kleinen, abgelegenen Ort, todmüde. Er hatte nach einem Meister seines Handwerks gefragt und erfahren, daß ein alter Meister im Orte wohne, und sein Häuschen war ihm gezeigt worden. Dort klopfte er an und mehrere Male, ehe ihm aufgetan wurde.

Ein altes Mütterchen öffnete endlich. Da sie sich gegenseitig mit Deutsch und Welsch nicht verständigen konnten, rief die Alte nach jemand, und alsbald erschien ein alter, aber noch kräftiger Mann, der bösdings Deutsch konnte. Es war der Meister, der auf Jakobs Bitte um Arbeit eine abschlägige Antwort gab und in seinen Taschen nach einem Zehrpfennig suchte. Also wieder weiter sollte Jakob sonder Rast und Ruhe wie der ewige Jude, und die Totenbäume stunden so drohend den Weg entlang, so schaurig hingen die Totenkränze über den Weg herein, so todmüde war er an Leib und Seele! Da lehnte sich Jakob an die Türpfosten, das Wasser schoß ihm in die Augen, unwillkürlich faltete er die Hände und seufzte: » Mon dieu, mon dieu!« Denn wie oft an einem Baume die Blätter noch grünen, wenn auch inwendig das Mark gefault ist, so bleiben vielen Menschen noch fromme Worte im Munde, wenn im Herzen der fromme Glaube längst vermodert ist.

Die Alten kannten Zaubersprüche, in denen bezwingende, übermächtige Kräfte liegen sollten, fromme Sprüche hatten sie als Talisman gegen böse Geister, und wer will in Abrede stellen, daß nicht ein innig Wort aus dem Herzensgrund herauf, daß nicht ein fromm alt Wort zum Zauberstabe werden kann, welcher verschlossene Herzen öffnet, aus dem Fels der Teilnahmlosigkeit plötzlich die süße Quelle des Mitleids kann sprudeln lassen? Das Mütterchen war hinter ihrem Bescheid gebenden Hausherrn stehn geblieben, faßte auf Jakobs Ausruf hin den Alten beim Arme und sagte ihm was auf welsch, was Jakob nicht verstand. Daraufhin lud der Alte ihn ein, einzutreten, sich zu wärmen und mit ihnen das Mittagessen zu teilen, wenn er vorliebnehmen wolle. Jakob ließ sich dies nicht zweimal sagen. Wer je in harter Kälte gestanden, geldlos und ohne eine warme Ecke zu wissen, wird es fassen, wie ein Ruf in ein warmes Stübchen an warmes Essen klingen muß.

Das Stübchen war klein, aber sehr warm, wie alte Leute es lieben, auch der Tisch war klein, daß mit Mühe Jakob daran Platz fand. Seltsam kam es ihm vor, als der Meister die Mütze abnahm, das Mütterchen die Hände zusammenlegte, beide beteten, ehe sie das Essen berührten. Das hatte er lange nicht getan, das war nicht Sitte mehr in den Kosthäusern; selbst sei der Mann, meint man, und davon, daß jede gute Gabe von Gott kömmt, will man nichts wissen. Aber das Tun der alten Leute hatte auch eine bezwingende Kraft für ihn, er tat unwillkürlich wie sie, faltete die Hände, und unwillkürlich kam das Tischgebet, welches er während seiner Lehrzeit hatte hersagen müssen, ihm auf die Zunge, und kein Wort fehlte dran; was doch jahrelang im Grabe gelegen, stand jetzt auf, ganz und unversehrt. Kurios!

Das Mahl war sehr einfach, es bestand aus einer sogenannten Bataillen-, Bettler- oder welschen Suppe. Das ist eine merkwürdige Suppe, alle Tage die gleiche und doch alle Tage anders. Diese Suppe besteht nämlich aus allem Eßbaren, was in einer Haushaltung aufzutreiben ist, aus Fleisch, wenn man welches hat, sei es von diesem oder jenem Tiere, aus Gemüse von allen Sorten, aus Kartoffeln, Brot, was der Welsche jedoch lieber apart ißt, kurz, es ist die kommodeste Suppe von der Welt, es paßt alles dazu, was man zur Hand kriegt. Man kann alles Mögliche kochen und braucht nur einen Topf dazu, und je nachdem man Dinge hineintut, von diesem mehr, von jenem weniger oder gar nichts, hat man alle Tage eine andere Suppe und selten eine angebrannte. Es liegt nicht in ihrer Art, anzubrennen, und wenn man nur auf ein Gericht zu sehen hat, so nimmt man es um so genauer. Will man das Ding etwas feiner, so wird das Fleisch zu rechter Zeit herausgenommen und auf einem aparten Teller auf den Tisch gestellt, so kann man es auch mit einigen Gemüsesorten machen, aber warum soll man auf dem Tische sondern, was in einem Topfe gekocht ist und wieder in einen Magen zusammen muß?

Unbeschreiblich mundete Jakob die wackere Suppe, und mit unbeschreiblichem Mitleid sah das Mütterchen seinem Heißhunger zu, betrachtete seine mageren Hände, hieb ihm große Stücke Brot ab, aß selbst fast nichts, da die Suppe nicht auf einen solchen Appetit eingerichtet war. Zwischendurch erzählte er, wie er aus dem Spital komme, wo er mehrere Wochen bewußtlos gelegen, wie er um sein Felleisen gekommen und zweihundert Stunden weit seine Heimat sei, wo er nur noch eine Großmutter habe, welche er gerne noch einmal sehen möchte, aber zweifle, daß er es dazu bringen werde. Unterdessen hatte das Mutterherz, um der Suppe nachzuhelfen, eine Flasche Wein auf den Tisch gestellt und frug, da sie nichts verstand, alle Augenblicke mit französischer Lebhaftigkeit ihren Alten: » Que dit-il?« Wenn sie es dann vernahm, so sagte sie: » Le pauvre garçon!« und sah ihn mit mütterlichen Blicken an. Der Lauf am Morgen, das tüchtige Essen, der Wein, die Wärme, welche endlich einmal durch Haut und Glieder ging, hatten zur Folge, daß Jakob, der schon lange unwillkürlich gegähnt hatte, während einer solchen Verdolmetschung einschlief, sichtbar und fest. Der Alte wollte versuchen, ihn zu wecken, aber die Mutter wehrte und meinte, das sei eine Unbarmherzigkeit, schlafen dem armen Jungen eine Notwendigkeit. Wer in großer Kälte ermattet sei, darauf an die Wärme komme, esse und trinke, der müsse ja schlafen. Der Alte gab es gerne zu, er hatte nur wecken wollen, weil er dachte, Jakob habe eigentlich weiterwollen, und in den kurzen Tagen sei die Nacht da, ehe man daran denke.

Nun ließ das nach welscher Weise redselige Mütterchen sich noch einmal alles gründlich dolmetschen, was der arme Junge gesagt hatte. Gar großes Mitleid wuchs in ihrem Herzen auf, besonders daß er so weit von der Heimat sei, eine Großmutter habe, welche ihm so lieb sei, daß er krank gewesen und jetzt matt und bloß zu solcher Jahreszeit wandern solle. Sie begehrte auf über die Meister in Genf, welche den armen Jungen in gesunden Tagen in Arbeit gehabt, in kranken ihn laufen ließen. Le pauvre diable müsse ja umkommen vor Hunger oder Kälte und sei doch einer lieben Großmutter einzig Großkind, und was die sagen würde, wenn er nicht wiederkäme! Aber solche Herren hätten kein Gewissen und frügen dem Nebenmenschen gar nichts nach, wenn sie nur hoch leben könnten. Aber in Städten sei es so, da sei alles steinern, die Häuser und die Herzen, keiner habe für den andern ein Herz, und das sei bei Reichen und Armen so. Die gute Alte packte einen gewaltigen Groll gegen alle Städter aus, der seit langer Zeit sich aufgestaucht haben mußte. Derweilen verfloß eine tüchtige Portion Zeit, und Jakob schlief immer noch. Der Alte meinte endlich, es sei doch Zeit zum Wecken, sonst komme er heute nicht weiter.

»Hör, mein Lieber«, sagte das Mütterchen, aber auf französisch, versteht sich, »wecke mir ihn nicht, ich möchte dir gerne was sagen, wenn du es erlaubst.« »Rede, meine Liebe!« sagte der Alte und zündete sich eine Zigarre an, vielleicht das einzige neumodische Ding in dem kleinen Häuschen. »Laß ihn ausruhen hier ein paar Tage, und bis die Kälte bricht, mein Lieber!« sagte die Mutter. »Wir müßten uns ja ein Gewissen daraus machen, wenn wir ihn fortließen, nach ein paar Tagen käme die Nachricht, es sei ein Handwerksbursche erfroren gefunden worden, und es fände sich, es wäre der unsere.« »Mein Gott«, sagte der Vater, »er ist ja nicht der Unsere. Laß die Genfer Meister sich ein Gewissen daraus machen, welche uns alle Arbeit wegnehmen und das Handwerk verpfuschen! Arbeit habe ich nicht mehr, als ich fertigen kann; wie lange ich arbeiten mag, weiß ich nicht, und was erübrigt ist, ist für dich, und ein solcher Bursche ißt und trinkt mehr als wir beide zusammen.« »Lieber Alter«, sagte die Alte, »der ist der Unsere, welcher unser bedarf. Denke an den barmherzigen Samariter! Was willst du für mich sorgen? Überlasse das unserm guten Vater im Himmel, du weißt nicht, wie bald der mich haben will. Denke, wenn ich stürbe oder du in diesem Winter, und wir hätten auf unserm Herzen das Bewußtsein, den armen Jungen hätten wir an der Wärme gehabt und an die Kälte gelassen, und diese hätte ihn weggerafft, denke, mein Lieber, was das für eine Bürde wäre, und haben doch siebenzig Jahre lang so gut als möglich gelebt, damit wir mit leichtem Gewissen sterben möchten und die letzte Stunde uns nicht verbittert sei.« »Ja, Mutter«, sagte der Alte, »mache, was du willst! Du hast Mühe und Schaden, alten Leuten wie uns fällt das Ungewohnte schwer, und seit vielen Jahren haben wir keine dritte Person unter unserm Dache gehabt.« »Ich weiß ja wohl«, sagte die Mutter, »daß du immer so gut gegen mich bist und für mich denkst. Wir haben keine Kinder und keine Großkinder, aber denke, wenn wir einen Großsohn in der Fremde hätten bei solchem Wetter in solchem Zustande, und niemand wollte sich seiner annehmen, er käme elend ums Leben, und wir würden vernehmen, einige Stunden vor seinem Ende habe er bei alten Leuten gerastet, und die hätten wohl eingesehen, in welche Gefahr er komme, und ihn doch wegen der Unbequemlichkeit aus dem Hause gestoßen, denke, Vater, was würden wir sagen zu solchen Leuten, und würden wir sie nicht dem lieben Gott verklagen? Vor Unglück hat der liebe Gott uns so lange bewahrt, sollen wir nicht einmal einer Unbequemlichkeit eine kleine Weile uns unterziehen wollen, bis das Wetter ändert, bis er sich erholt hat, bis er selbst weiter will? Weiß Gott, wenn ich seine Großmutter im Himmel antreffen würde, und es wäre ihm ein Unglück zugestoßen, ich liefe weg, ich dürfte ihr nicht unter die Augen. Wenn wir vom Handwerk seiner uns nicht erbarmen wollen, wer soll es dann tun?«

So redete das gute Mütterchen mit großer Geläufigkeit, und ihr Alter hatte seine Freude daran, wenn er schon seine Einwendungen zwischen ihre Reden streute. Er war Meister und ein Christ auf die alte Weise, pünktlich, treu, und hielt dafür, daß man sich gegenseitig aushelfen soll, absonderlich die vom gleichen Handwerk. Zur Zeit, als er noch Gesellen hatte, hielt er sie gut, meinte nicht, er wolle den Gewinn alleine, und erwarb sich dabei doch ein kleines Vermögen, groß genug zu einem sorgenfreien Alter. Aber er haßte den Aufwand, lebte seinem Stande gemäß und wie er es gewohnt war, daher zufrieden mit Gott und Menschen, und zufrieden verließen ihn die meisten seiner Gesellen, denn er stellte keinen an, hatte er ihm nicht ordentlich gefallen. Die Unzufriedenheit, die lästerliche Zeitkrankheit, rührt meist daher, daß die Menschen über ihrem Stande leben wollen, auf ihnen ungewohnte Weise, dadurch werden sie beides, unglücklich und lächerlich. Der Alte gab daher gerne nach, machte bloß die Bedingung, Jakob mit einem guten Zehrpfennig weiterzusenden, wenn es sich nach einigen Tagen ausweisen sollte, daß er zu ihnen nicht passe, sondern ihren Frieden störe. Als dieses ausgemacht war, ließen sie den armen Jungen ruhig schlafen, und dieser schlief, bis es dunkel war im Stübchen.


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