Friedrich Gerstäcker
Tahiti
Friedrich Gerstäcker

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35. Schluß

Auf Tahiti verteidigten sich die Insulaner mit unerschütterter, ungebrochener Tapferkeit gegen den täglich anwachsenden Feind. Nicht mehr monate-, sondern jahrelang hielten sie sich in den Lagern auf, die sie sich in den Bergen ausgebaut und befestigt hatten. Aber immer neue Schiffe kamen, mehr und mehr Truppen wurden auf den Kampfplatz geworfen, ohne daß die Insulaner Verstärkung erhielten. Trotzdem wären wohl noch viele Jahre vergangen, wenn nicht durch Verrat den Feinden der Weg in die Schluchten geöffnet worden wäre. Ständig schürten die Missionare noch die Hoffnung, daß Hilfe aus England käme. Das wurde erst durch den Kapitän des englischen Dampfers »Salamander« zerstört. Kapitän Hammond erklärte unumwunden, soviel er wisse, beabsichtige die englische Regierung nicht, sich in ihren Streit zu mischen. Er selber habe jedenfalls keinen anderen Auftrag erhalten, und sie möchten sich deshalb nicht falschen Hoffnungen hingeben.

Pomare blieb an Bord des »Basilisk«, bis eine englische Fregatte, die »Caryford«, am 17. Juli 1844 in Papeete eintraf. Lord William Paulet brachte sie nach einer Besprechung mit Gouverneur Bruat dann nach Barbara auf Imeo, wo ihr erster Mann Tabara wohnte.

England hatte inzwischen die Behandlung seines Konsuls nicht so ganz ungeahndet hinnehmen können. Allerdings waren die französischen Klagen gegen ihn wohl auch durch zu viele Beweise bekräftigt worden, um sie ganz zu verwerfen. Die französische und englische Regierung einigten sich deshalb darin, daß man Admiral Du Petit Thouars bei seiner Rückkehr in Toulon von dem jungen Volk enthusiastisch empfangen und feiern lassen würde. Außerdem überreichte man ihm einen Ehrensäbel. Doch das Kommando wurde ihm entzogen. Die englische Regierung versprach, daß Mr. Pritchard nie wieder nach Tahiti oder einer anderen von Franzosen besetzten Insel kommen würde.

Am 19. Juni 1847 erließen die beiden Großmächte eine Deklaration. Darin wurde die Unabhängigkeit der Inseln Huaheine, Raiatea, Bola-Bola und anderer erklärt. Unter Paragraph 3 wurde zugleich festgelegt, daß kein Häuptling von Tahiti zu gleicher Zeit über die Inseln herrschen könne. Damit war die Macht der Pomaren gebrochen. Gleichzeitig wurden die tributpflichtigen Stämme ihrer Oberherrschaft entzogen, um die Franzosen fernzuhalten. Der Königsstamm der Pomaren sah seinen Stern auf ewig untergehen.

Über den Schluß des Krieges, den die Eingeborenen so tapfer und ausdauernd gegen die ihnen an Waffen und Kriegskunst überlegenen Franzosen führten, sagt ein Missionsbericht vom Januar 1847 folgendes:

»Etwa Anfang Dezember des vorigen Jahres entdeckte ein Eingeborener von Atiu über dem Hautaualager einen begehbaren Pfad über eine Klippe hinauf. Dort konnten die Feinde eine Position einnehmen, um das unter ihnen liegende Lager zu beherrschen. Der Mann war von seinen Leuten desertiert und hatte sich in Papeete für eine hohe Belohnung, wahrscheinlich 200 Dollar, erboten, sie hinaufzuführen. Nicht lange Zeit danach marschierten sämtliche Truppen in das Tal hinauf. Die Hauptmasse formierte sich in Schlachtordnung an der normalen Seite, wo der schon so oft abgeschlagene Sturm erneut versucht wurde. Die andere Abteilung mit dreißig Eingeborenen und vierzig Soldaten ging den Pfad hinauf und ließ von dort ein mitgenommenes Seil herunter. Dadurch wurde eine Strickleiter heraufgezogen, an der nach und nach alle anderen Soldaten emporkletterten. Als sie den etwa tausend Fuß hohen Absatz erreicht hatten, konnten sie die Eingeborenen unmittelbar in ihrem Lager bedrohen und richteten eine furchtbare Verwüstung unter ihnen an. Die Insulaner sahen ein, daß Widerstand nicht mehr möglich war, warfen ihre Waffen weg und wurden als Kriegsgefangene in die Stadt gebracht.

Die Einnahme des Lagers öffnete den Franzosen den Weg zu den beiden anderen befestigten Lagern. Sie wollten nicht die Insulaner bekämpfen, sondern sie unterwerfen. Sobald sie das französische Protektorat anerkannt hatten, entließen sie ihre Gefangenen wieder.

Einer der entlassenen Häuptlinge wurde nach Buaania als Parlamentär abgeschickt, um sie zur Übergabe aufzufordern. Als sie hörten, wie die Sache stand, unterwarfen sie sich auch dort. Das Lager von Papeeneo ergab sich zuletzt. Die Verteidiger zögerten mehrere Tage. Dann fügten sie sich der Übermacht und marschierten am Neujahrstag in die Stadt, um ihre Waffen niederzulegen. Sie kamen in langer Prozession, die Häuptlinge voran, dann die Krieger und die Frauen und Kinder zuletzt. Noch etwa hundert Schritt von den französischen Truppen entfernt machten sie halt. Dann knieten sie nieder und beteten, erhoben sich und marschierten in die Stadt. Inzwischen waren von den Franzosen schon ihre eingeborenen Richter ernannt worden. Sie empfingen die Menge freundlich, hießen sie als Brüder willkommen und führten sie zum Gouvernementshaus. Dort legten sie ihre Waffen nieder und erkannten das Protektorat an. Ohne Ausnahme wurde eine Amnestie verkündet, alle Fehltritte als vergessen betrachtet und den Leuten mitgeteilt, daß sie sich ruhig und unbesorgt wieder in ihre Heimat begeben können.«

Die geflüchtete Königin kehrte erst im Februar 1847 nach Tahiti zurück. Dort wurde sie vom Gouverneur Bruat empfangen und von ihm in alle ihre Rechte und Privilegien als Königin von Tahiti und Morea unter französischem Protektorat wieder eingesetzt. Ein aufgestelltes Musikkorps spielte das französische Nationallied, und ein Salut von einundzwanzig Schüssen donnerte dazu.

Ihre Majestät bekam nun regelmäßiges Gehalt aus Frankreich, so wie auch die abgesetzten indischen Fürsten auf Java von den Holländern. Pomare erhielt jährlich fünftausend Dollar und eine nicht unbeträchtliche Summe als Landzins für das Bäumefällen usw. Jede Audienz mit Fremden mußte aber vierundzwanzig Stunden vorher angezeigt und genehmigt werden. So war der Titel den Pomaren erhalten geblieben, aber sie hatten aufgehört zu regieren.

Die katholische Religion breitete sich mehr und mehr aus. Ein Bischof war aus Frankreich gekommen, und ein großer Teil der Insulaner wandte sich der neuen Religion zu. Andere verharrten in ihrem Glauben, und sehr viele überlegten sich die Sache.

Es war Frieden in Tahiti. Die Parteien hatten sich geeinigt. Paofai und Utami, Tati, Hitoti und Paraita waren Richter des Volkes geworden. Die Sonne lachte so freundlich auf die blitzenden Uniformen der französischen Soldaten wie auf die Tapatücher der Eingeborenen. Die zerschossenen Brotfruchtbäume und Palmen wurden entfernt. Große steinerne Gebäude errichtete man, breite Straßen wurden angelegt und Brücken gebaut. Straßenlaternen standen auf behauenen Korallenblöcken am Strand des Hafens von Papeete.

 

Jahre waren seit diesen Ereignissen vergangen, als ein Schiff durch die Straße von Tahiti und Imeo segelte und in eine Windstille geriet. Während es noch mit schwerfällig gegen den Mast schlagenden Segeln und der Gegenströmung zurücktrieb, kam ein kleines Boot an ihnen vorbei. Zwei Eingeborene aus Morea ruderten, als sie vom Deck aus angerufen wurden. Ein Passagier wollte mit an Land fahren. Da er ihre Sprache gut sprach, einigten sie sich bald. Das Boot legte sich an die Seite des Schiffes, die Fallreepstreppe wurde über Bord gehängt, und der Fremde stieg rasch hinab. Im Boot nahm er seinen Sitz im Heck am Steuerruder ein.

»Gerade da hinüber, wohin ihr den Bug jetzt gedreht habt. Da liegt die Einfahrt der Bai«, sagte der eine Insulaner.

»Ich weiß es«, erwiderte der Europäer, ohne die Augen von dem Ufer zu nehmen. Die Insulaner ruderten schweigend weiter. Sie glitten durch die Einfahrt und am Ufer hinauf, vermieden hier und da Korallenriffe, deren Lage zu ihrem Erstaunen der fremde Mann genau kannte. Dann landeten sie in der Matavaibai am Fuß eines ziemlich gut erhaltenen Gartens, in dem eine der gewöhnlichen Bambushütten stand. Woher kannte der Fremde den Platz so genau? Die Eingeborenen, die seit ihrer Kindheit hier lebten, konnten sich nicht an ihn erinnern. Es war ein schlanker, kräftig gebauter Mann. Seine Bewegungen waren fast jugendlich, nur sein stark ergrautes Haar und die tiefen Furchen seines Gesichtes widersprachen dem.

Elf Jahre hatten René Delavigne zum Greis gemacht, so daß selbst zwei seiner alten Nachbarn ihn nicht erkannten. Er sprang an Land, und als er den festen Grund betrat, wollte er den Männern seine Aufregung nicht verraten. Er brauchte mehrere Minuten, bis er sich so weit gesammelt hatte, sie wieder anzureden. Er erkundigte sich, wem das Haus gehöre.

»Dies hier? Mitonare«, sagte einer von ihnen.

»Was für ein Mitonare? Ferani oder Insulaner?«

»Insulaner«, lachte der Eingeborene. »Raiteo heißt er, dort sitzt er!« fügte er dann mit leiser Stimme hinzu. Als René den Weg hinaufging, erkannte er den Mann, der je nach Nutzen sein Feind oder sein Freund gewesen war. Er hatte sein bewegtes Leben gegen ein gottseliges vertauscht und saß vor der Tür im Schatten eines Orangenbusches. Die aufgeschlagene Bibel lag neben seinem Tisch. Die Hände hatte er über seinem stattlichen Bauch gefaltet. Er war in Frack, Weste und Halstuch so unbequem wie möglich gekleidet. Darunter trug er nur den Pareu. Die unter den Eingeborenen weit verbreitete Elephantitis erlaubte ihm nicht, Hosen zu tragen. Diese Krankheit hatte aber sonst keine unangenehmen Folgen für ihn, sondern trug eher noch zu seinem achtbaren Aussehen bei.

Als Raiteo den Fremden erblickte, rief er ihm ein gastliches »Haremai, haremai!« entgegen und lud ihn ein, näher zu treten.

René zögerte und grüßte dann nur mit der Hand herüber. Rasch schritt er vorbei und ging dann langsamer den Weg bis zur Straße nach Papeete weiter. Teilnahmslos ging er an den Kasernen und Kapellen vorbei, an den Gouvernementsgebäuden und Befestigungen, bis er die kleine, wohlbekannte Gartenpforte erreichte, die zu Monsieur Belards Haus führte. Seine zitternde Hand legte sich auf den Drücker, als sein Blick auf eine kleine Porzellantafel fiel, die einen fremden Namen trug. Durch den Garten kam ein behäbig aussehender alter Herr von unverkennbar englischem Aussehen. Er hatte die Hände in den Taschen seiner weiten Nankinghosen und pfiff ein fröhliches Lied.

»Verzeihen Sie, wohnte hier nicht früher Monsieur Belard?«

»Ja, früher, ich habe es von ihm gekauft.«

»Was wurde aus Monsieur Belard?«

»Er ist vor zwei Jahren etwa zurück nach Frankreich gegangen.«

»Nach Frankreich zurück? Allein?«

»Mit seiner Frau.«

»Nahm er... nahm er sonst keine Dienerschaft... keine Begleitung mit?«

»Niemand, soviel ich weiß. Wir waren bis zur letzten Stunde noch zusammen.«

»Entschuldigen Sie bitte, aber können Sie mir auch noch sagen, ob Schiffe oder Fahrzeuge manchmal von hier nach den leewärts liegenden Inseln gehen?«

»Selten, mit Ausnahme der Missionsfahrzeuge. Wenn Sie aber Fracht dorthin haben wollen, so liegt gleich da unten ein kleiner Kutter. Der Eigentümer hat mir erst heute eine Fahrt offeriert. Den können Sie sofort mieten. Sie sind wohl erst vor kurzem von Frankreich herübergekommen?«

»Nein, Sir, ich habe Frankreich schon mehrere Jahre verlassen.«

»Aber Sie sind Franzose?«

»Allerdings.«

»Das dachte ich mir. Doch wir stehen hier vor der Tür, wollen Sie nicht eintreten?«

»Herzlichen Dank«, sagte René, dem es ein unheimliches Gefühl war, gerade die Schwelle bei fremden Menschen wieder zu überschreiten. »Ich habe keine Zeit mehr zu verlieren und erkundige mich lieber gleich nach den Fahrtbedingungen. Wissen Sie nicht zufällig, wo ich den Eigentümer finden kann?«

»Er ist ein Landsmann von Ihnen. Wenn Sie ihn nicht an Bord finden, können Sie ihn jedenfalls bei Victor erfragen. Er fährt aber nicht selber, sondern schickt seine Insulaner. Sie gehen dazu die erste Querstraße hier hinauf in die sogenannte Broomroad, und dann rechts hinunter, bis Sie...«

»Ich danke Ihnen, ich kenne den Platz.«

»Ah, um so besser!«

Mit freundlicher Verbeugung trennten sich die Männer.

 

Der frische Ostpassat blähte die Segel. Das kleine Schiff warf schäumend die schimmernden Wellen zurück, die hinter ihm hertanzten und sprangen. Der Himmel spannte sich klar und rein über das tiefblaue, wie mit einem durchsichtig goldenen Netz überzogene Meer.

Vor dem Bug des Kutters zeigte sich Land, dem er mit gefällter Leinwand entgegenstrebte. Über dem Horizont stiegen die eigentümlich geformten blauen Kuppen einer kleinen Insel auf. Sie hoben sich höher und höher, jetzt zeichneten sich die einzelnen Konturen der Schluchten und Berghänge klar ab. Der zackige Baumwuchs auf dem oberen Kamm der Hügel wurde deutlich, während rechts und links schon ein schmaler, dünner blauer Streifen zu sehen war – das niedrige Palmenland, das die Hügel umgab.

»Mein Atiu!« flüsterte René, als er vorn auf der Back des kleinen Fahrzeuges stand. »Mein liebes Atiu. Dort der Hügelhang, unvergessen mit seinen rauschenden, flüsternden Palmen, den Zeugen meines schönsten Glückes. Da drüben das schmale, schattige Tal mit den duftenden Blumen, dort oben die runde Kuppe, die das Ihiamoea trägt. Da oben ist der Weg, über den mich Sadie in der Nacht führte, da unten – ha, da kommt schon das helle Dach des Mitonare mit seinem Orangenhain und Bananengarten, seinem lauschigen Platz unter dem breitästigen Hibiscus. Es ist noch alles so, wie ich es verließ«, setzte er tief aufseufzend dazu, als das kleine Fahrzeug in die Riffe fuhr und nach langen Jahren wieder die stille Bai ihre waldigen Arme ausstreckte, um ihn zu begrüßen. »Alles ist noch so, nur in meiner Brust ist es tot, und am Herzen nagt es und wühlt in Schmerz und Reue.«

Das Segel fiel, der kleine Kutter hatte den seichten Korallengrund erreicht. Drei von den vier Eingeborenen, die seine Besatzung bildeten, kamen nach vorn, um den leichten Anker über Bord zu werfen. Als er den Grund erreichte, schwang das Fahrzeug herum, und die Flutwellen kräuselten sich in dem sonst stillen Wasser am Ankertau und Bug. Sie lagen kaum dreißig Schritte vom Land entfernt, konnten aber wegen der überall aufsteigenden Korallen nicht näher heran und mußten ein Kanu rufen. Am Ufer hatten sich inzwischen eine Menge Männer und Frauen versammelt, um den ungewohnten Besuch zu empfangen. Mit ängstlich klopfendem Herz harrte René auf den Augenblick, der ihn an Land bringen sollte. Dort wollte er erfahren, wonach er sich in Tahiti nicht zu fragen getraute. Jetzt stieß ein Kanu vom Strand ab. Zwei alte Insulaner saßen darin, und das leichte, schlanke Fahrzeug glitt pfeilschnell zwischen den Korallenblöcken auf sie zu.

»Joranna, Joranna!« riefen die fröhlichen Menschen. »Joranna, bo-y, komm an Land, Fremder, komm an Land, wir haben Kokosnüsse für dich und Brotfrucht, komm an Land!«

Die Begrüßung schnitt durch Renés Seele wie ein Messer. Er kannte die beiden Männer, die manche Nacht in seiner Hütte geschlafen und von seiner Brotfrucht gegessen hatten. Aber ihn kannte keiner. Hatte er sich denn so sehr verändert, Zeit und Gram sein Gesicht so entstellt, daß ihn selbst alte Freunde und Nachbarn nicht mehr kannten. Er kämpfte gegen die Regung an und wollte sich nicht verraten, ehe er Einzelheiten erfahren hatte. Das freundliche Joranna erwiderte er leise und stieg dann in das Kanu. Die Ruder fielen ein, und wenige Minuten später raschelten die Korallen unter seinen Füßen.

Sadie! Ihr Name lag auf seiner Zunge, aber er wagte es nicht, ihn auszusprechen. Unwillkürlich suchte er unter den lachenden, munteren Gruppen das bekannte Gesicht der Geliebten.

»Er versteht unsere Sprache nicht«, sagten die Insulaner untereinander. »Er weiß nicht, wohin er gehen soll, wir wollen den Mitonare rufen.« Ein paar sprangen zu dem Haus, während andere seine Hände ergriffen und ihm mit Zeichen klarmachten, daß er in dem Haus einen Europäer finden würde.

Mitonare – was für freundliche Szenen das Wort in sein Gedächtnis rief, und unwillkürlich suchte er die Gestalt des kleinen würdigen Mannes in der offenen Tür. Aber dort trat ihm ein weißer Mann entgegen, und René erkannte mit freudigem Staunen den alten Mr. Nelson. Der erblickte den Fremden und erkundigte sich freundlich, womit er ihm helfen könnte. Auch er erkannte in dem ergrauten Fremden nicht den lebensfrohen jungen Mann.

»Ich kommt nur wegen einer Frage, ehrwürdiger Herr« , sagte René mit leiser Stimme. »Lebt hier noch... wohnt noch auf Atiu...« Wieder stockte er, er brachte den Namen nicht über seine Lippen.

»Wen meinen Sie?« sagte der Geistliche und sah ihn freundlich an.

»Sonst wohnte Bruder Ezra hier im Haus«, stammelte René endlich.

»Bruder Ezra«, wiederholte der Geistliche und nickte nachdenklich mit dem Kopf. »Bruder Ezra, ja, ja, das war in früherer Zeit. Jetzt existiert der nicht mehr.«

»Ist er tot?« rief René schnell.

»Nein, nein«, lächelte Mr. Nelson. »Das nicht. Er erfreut sich im Gegenteil eines ganz besonders gesegneten Wohlseins. Aber er hat nur den ›Bruder Ezra‹ und den ›Mi-to-na-re‹ abgeworfen uns ist von unserer christlichen Gemeinschaft zurückgetreten. Er ist zwar nicht zum alten Heidentum zurückgekehrt, aber der arme kleine Mann konnte seine vielen Zweifel nicht mehr bekämpfen und übersprang sein Ziel. Anstatt zu prüfen und das Beste zu behalten, verwarf er alles und lebt nun ziemlich gleichgültig, aber anscheinend ganz zufrieden in den Tag hinein.«

»Und wo ist seine Wohnung?«

»Nicht sehr weit von hier, gleich über dem niedrigen Hügelhang. Wenn Sie den Pfad wüßten...«

»Ich will dich führen, Wi-wi«, sagte da eine leise Stimme an seiner Seite. Als sich René rasch umdrehte, sah er sich einer schlanken, ziemlich abgemagerten Frau gegenüber, die ihre Augen fest und forschend auf ihn gerichtet hielt.

»Aia!« rief er überrascht aus, aber die Frau ergriff seine Hand. Sie zog ihn mit sich und sagte dabei:

»Komm – ich weiß, wohin du willst, und kenne den Weg fast so gut wie du!«

»Herr Delavigne, mein Gott, haben Sie sich verändert!« rief jetzt auch der Geistliche, der ihn ebenfalls erkannt hatte.

»Nicht wahr? Ich bin nicht jünger geworden!« sagte René mit düsterer Stimme.

»Komm, komm!« rief die Frau und zog ihn ungeduldig weiter. »Wir sind alle nicht jünger geworden, unser Fleisch ist weich, unsere Haare grau – nur die Erinnerung ist noch frisch und jung!«

René folgte ihr jetzt willenlos durch den Garten den gut bekannten Pfad hinab. Sie schritt mit ihm durch einen Wald von erst später entstandenen Guiaven zu dem Hügelkamm hinauf, wo Sadies Lieblingsplätzchen lag.

»Du hast Wort gehalten«, sagte sie dabei still und unheimlich in sich hineinlachend. »Du bist uns gefolgt. Du bist gekommen... Sadie hat es immer behauptet.«

»Sadie...«

»Pst, jetzt noch nicht«, flüsterte die Frau. »Du hast wirklich Atiu nicht ganz vergessen und bist wiedergekommen, nur ein wenig spät... ein wenig zu spät... und dein Haar ist dünn und grau geworden, Wi-wi, in der kurzen Zeit!« Sie war stehengeblieben und trat einen Schritt von ihm zurück. »Und was für Furchen das böse Gewissen dir in die Stirn und Wangen gegraben hat! Hm, das war eine trübe Zeit für alle, und habe ich es euch nicht vorher gesagt?«

»Zu spät, Aia? Sagtest du zu spät?« rief René mit zitternder Stimme.

»Pst, pst!« wiederholte die Frau und schritt erneut voran. »Kannst es jetzt auf einmal nicht erwarten, und hast dich die langen Jahre nicht um sie gekümmert? Du kommst zeitig genug dorthin, Wi-wi!«

Sie sprach jetzt kein Wort mehr. Den Hügelhang lief sie in raschen Sätzen hinauf, und René konnte ihr kaum folgen. Oben blieb sie plötzlich stehen und wartete auf den Ferani. René folgte ihr nur langsam. Jeder Schritt traf ihn hier wie ein scharfer Messerstich ins Herz. So, wie er den Platz verlassen hatte, lag der Pfad hier. Die pflegende Hand war überall erkennbar. War das alles seinetwegen geschehen? Jetzt sah er die Wipfel seiner Palmen, die in der langen Zeit höher geworden waren. Das kleine Orangendickicht hatte er erreicht, das den Platz umgab. Und jetzt – ein jäher Schlag traf ihn im tiefsten Inneren – Sadie! Wie bei einer Erscheinung sank er in die Knie und sah zweifelnd, staunend auf das, was sich ihm bot. Dort stand seine Frau, Sadie, so schön, so wild, so jugendlich wie immer. Die dunklen, flatternden Locken mit durchflochtenen Blumen, das dünne Schultertuch um den nackten Körper gewickelt. Sie hatte den Arm gegen ihn ausgestreckt.

»Sadie!« rief er und verdeckte seine Augen, um für kurze Zeit das Bild zu bewahren. Er glaubte noch immer nicht, was er gesehen hatte. »Sadie, du arme, verratene Sadie!« In diesem Moment brach die harte Rinde von seinem starren Herz. Wie der wilde Strom Tag und Nacht an seinem Damm wühlt und leckt, bis er sich endlich freie Bahn gerissen hat, so drängten sich jetzt seine Tränen heraus. Erneut rief er ihren Namen und preßte sein Gesicht in einen kühlen Farn.

»Was fehlt dem fremden Mann? Ist er krank? Und woher kennt er meinen Namen?« erkundigte sich eine sanfte, wohlbekannte Stimme. Der Unglückliche mißtraute seinen Sinnen und sah erneut auf. Noch immer stand sie freundlich lächelnd vor ihm.

Aber auch Aias Zorn war gewichen, als sie den Reumütigen in dieser Verfassung sah. Während auch ihr die Tränen über das Gesicht herunterliefen, sagte sie leise:

»Die du rufst, du falscher, treuloser Wi-wi, die liegt unter dir in dem kühlen Grab, das wir auf ihre Bitte an ihrem Lieblingsplatz ausgehoben haben. Der kleine Hügel mit den Blumen dort bedeckt sie. Hier hat sie den Frieden bekommen, den du ihr genommen hast. Sie hat dich mehr geliebt, als du verdienst, mehr, als du je geahnt hast, und noch im Sterben hat sie dir vergeben und Gottes Segen für dich erfleht. Kennst du dein Kind nicht mehr?«

»Mein Kind? Sadie?« rief René und sprang vom Boden auf. Er wollte seine Arme nach dem Mädchen ausstrecken, das ihn scheu ansah. »Sadie – mein Kind!«

»Ist das mein Vater, Aia?« frug mit schüchterner Stimme das Mädchen. »Der Vater, wegen dem meine Mutter so oft geweint hat und für den ich jeden Abend beten mußte?«

Aia konnte nicht sprechen, aber sie nickte langsam. Sadie ging zu René und legte ihren Kopf vertrauensvoll an seine Brust. Er preßte sie an sich und küßte ihre Stirn. Sie sagte leise:

»Wir haben so lange auf dich gewartet, Vater Du bist lange weggeblieben, und Mutter hatte dich so lieb.«

»Kind, du brichst mir das Herz!« rief der sonst so starke Mann, den der Schmerz zu überwältigen drohte.

»Komm jetzt, fort von hier!« rief Aia, die es nicht länger ertragen konnte. Sie griff Renés Arm. »Komm, ihr quält euch und mich und die Schlafende da unter den Blumen. Komm mit hinunter, Wi-wi, zu Ahiahi, den du früher Bruder Ezra nanntest.«

Langsam gingen sie gemeinsam den Hügelhang hinunter. Ein neuer Pfad führte zu der jetzigen Wohnung des Mitonare, wie ihn die Insulaner noch immer nannten.

Mitonare saß vor seiner Tür und sah noch behäbiger und runder als damals aus. Er hatte auch wieder die bequeme, natürliche Tracht an. Das einzige, was von der alten Mode geblieben war, war ein Strohhut. Sonst trug er nur den weiten, luftigen Pareu um die breiten Hüften und den Oberkörper frei. Deutlich waren die blauen Tätowierungen erkennbar. Er hatte ziemlich gleichgültig die Schritte gehört, als sein Blick auf die ihm verhaßte Kleidung des Fremden fiel. Überrascht sah er auf den unwillkommenen Besuch. Als er aber die Gruppe erkannte und sein Pflegekind im Arm des fremden Mannes sah, da durchfuhr ihn auch die Wahrheit.

»Der Wi-wi!« rief er und sprang von seinem Sitz auf. Unwillkürlich streckte er ihm die Arme entgegen. Dann aber ließ er sie sinken, fiel auf seinen Stuhl zurück und starrte erstaunt den einstigen Freund an.

»Mitonare – Joranna – Joranna!« rief René und streckte ihm die linke Hand zum Gruß entgegen. »Habe ich mich so verändert, daß selbst du, mein alter Freund, mich nicht mehr erkennst? Dann kann ich es den anderen auch nicht verdenken.«

Mitonare veränderte seine Stellung nicht und ergriff auch nicht die Hand. Als er in das schmerzzerfurchte Gesicht sah, sagte er leise, mehr zu sich selbst:

»Das war die Strafe für begangene Sünde von dem da oben, wie er auch heißt. Das war das einzige Gute, was noch in dem falschen und leichtsinnigen Wi-wi steckte, das Gewissen. Das bohrte und stach und ließ nicht nach, ließ ihn nicht in Ruhe und trieb den Wi-wi wieder über das große Wasser, um die Stelle noch einmal zu sehen, wo er seinen ersten Meineid geschworen hatte vor dem Allmächtigen.«

»Mitonare!« bat René, dem die Worte das Herz zerrissen.

Der kleine Mann schüttelte den Kopf.

»Ach was, der Mitonare steckt da drin in den Kalebassen. Da der Frack, das Halstuch und die Weste. Da ist das dicke Buch und da Schuhe und Strümpfe. Ahiahi ist ausgezogen und hat Bruder Ezra und Mitonare in den engen Nähten gelassen. Er ist jetzt wieder ein Mann geworden, der sich nicht mehr fürchtet und die Sache abwarten will, wie es einmal wird. Ahiahi hat Zeit, und dann kommt er mit seinem Vater und seinem Großvater zusammen, egal wo.«

»Ahiahi ist böse auf dich, weil du die Mutter verlassen hast«, sagte Sadie. »Er hat sie sehr liebgehabt.«

Mitonare wollte sehr ernst und böse bleiben, aber die Töne schnitten ihm ins Herz. Er winkte dem Mädchen und Aia fortzugehen. Aia sah, daß er mit dem Wi-wi allein bleiben wollte, und ging leise mit Sadie in den Wald.

»Da bist du also wieder auf Atiu, René«, sagte der Mitonare endlich leise. »Da bist du nun wieder, und wie ist dir jetzt zumute? Bös, recht bös und weh, und wie weh hast du erst allen getan, die dich so liebgehabt haben!«

René verbarg sein Gesicht in den Händen und sagte kein Wort.

Leise fuhr Mitonare fort.

»Die erste Zeit war die schlimmste. Wie wir so Monat für Monat dasaßen und auf dich warteten. Fahrzeug nach Fahrzeug kam von Tahiti, ohne auch nur einen Gruß zu bringen. Da hat Sadie viel geweint, und Tage und Nächte da oben gesessen, wo sie jetzt ausruht von ihrem Schmerz. Immer wieder sah sie vergeblich nach einem Segel aus.«

René hatte erschrocken aufgesehen. Jetzt sagte er mit vor innerer Angst und Aufregung fast erstickter Stimme:

»Hat sie meinen Brief von Tahiti nicht bekommen, als ich schwer verwundet dort lag? Den Brief, den der Missionskutter selbst mit herübergebracht hatte und den der Missionar – ich weiß nicht, welcher – versprochen hatte, in ihre Hand zu geben und sie selber oder zumindest Antwort mit zurückzubringen?«

»Einen Brief? Der Mitonare? Und wann war das?« sagte der kleine Mann kopfschüttelnd.

»Nur wenige Wochen, nachdem Sadie nach Atiu gefahren war«, erwiderte René schnell.

»Da war Bruder Rowe selbst hier«, sagte der kleine Mann. »Er wußte von nichts, hat kein Wort gesagt, keinen Brief, keine Nachricht für uns gehabt...«

»Und auch von Frankreich kam hier kein Brief an?« Renés Angst stieg immer mehr.

»Keiner – kein Brief, keine Nachricht, bis... bis der Mitonare zum letztenmal zu Sadie kam. Da hat er viel gesagt, und dann...«, setzte er mit tiefbewegter, kaum hörbarer Stimme hinzu, »dann war's vorbei.«

»Allmächtiger Gott, dann sind meine Briefe verloren oder unterschlagen!« rief René zerknirscht. »Und Sadie hat glauben müssen, ich hätte nie wieder an sie gedacht.«

»Nie wieder an sie gedacht?« sagte der Mitonare finster. »Ach was, was hätte der Brief geholfen, wenn der Wi-wi selber wegblieb, und den hat doch niemand vergessen können als er selbst!«

»Arme, arme Sadie!« stöhnte René.

»Jawohl, arme Sadie!« sagte der Mitonare traurig. »Als der finstere Mann erst einmal eine lange Zeit wegblieb und dann zurückkam und erzählte, daß er über dem großen Wasser gewesen war und von dem Wi-wi erzählte, den er drüben gesehen hatte...«

René wurde aufmerksam und schien dem kleinen Mann die furchtbaren Worte von den Lippen ziehen zu wollen, so hafteten seine Augen daran.

»Als er von dem großen Haus erzählte, in dem er dort wohnte...«, fuhr Mitonare immer leiser fort, als ob er jetzt fürchte, daß die Verstorbene die Nachricht noch einmal hören mußte, die ihr damals den Todesstoß gegeben hatt e. »Und daß er... daß er sich wieder eine andere Frau genommen hat... das schöne weiße Mädchen, das drüben auf Papeete war und mit dem er fortgefahren war in einem Schiff, da... da war es aus. Da brach ihr das Herz, und... sie lebte wohl noch eine Woche, aber... das Gift hatte gewirkt. Am nächsten Sabbath...« Der kleine Mann konnte nicht mehr. Bis hierher hatte er seinen Schmerz in Gegenwart des Mannes, der der Urheber des ganzen Leids war, bezwungen. Die Erinnerung aber trieb ihm die Tränen aus den Augen, und er schluchzte laut auf.

René wagte nicht, das Schweigen zu unterbrechen. Er stand da, erschüttert und vernichtet. Totenbleich starrte er auf die Erde, bis sich der Mitonare endlich gewaltsam bezwang, die Tränen aus den Augen wischte, und mit lebhafterer Stimme fortfuhr:

»Nachher kam Bruder Rowe wieder zu uns. Die Mutter war fertig, jetzt wollte er mit der Tochter anfangen. Er kam wieder mit ›Bruder Ezra‹ und ›Mitonare‹. Oros Zorn über ihn! Er kam mit dem dicken Buch und dem stachligen Stock da hinten. Aber Ahi-ahi ist nicht so schwach. Bruder Rowe kommt nicht wieder über den Hügel. Da flog er hinaus, und er glaubte, er hätte Arm und Bein gebrochen. Jetzt ist alles wieder gut«, setzte er dann mit ruhiger Stimme hinzu. »Ahi-ahi lebt zufrieden und glücklich, lernt keine Bibelverse mehr und kein kleines, dünnes Buch. Er braucht nichts mehr herzusagen und sich nicht mehr mit iti iti kanaka zu ärgern.« Da schoß ein neuer Gedanke durch sein Hirn. »Aber was willst du wieder auf Atiu? Wi-wi, bist du gekommen, um die Mutter zu suchen, oder... oder willst du dein Kind mit dir in die fremde Welt nehmen?«

Renés Blick haftete mit unendlicher Wehmut auf dem Mädchen, das die letzten Worte gehört hatte. Schüchtern wandte sie sich an ihren Pflegevater.

»Weg von dir, Vater? Fort von Aia, von Mutters Grab? Ich darf nicht – ich habe ihr versprochen, ihr Lieblingsplätzchen zu erhalten.«

»Ja, du kannst sie jetzt mitnehmen, du hast vielleicht das Recht dazu«, sagte Mitonare finster. »Sie ist jetzt fast so alt, wie ihre Mutter damals war. Gerade alt genug, um auch draußen die Sprache der Wi-wis und der Beretanis zu lernen und fremde Kleider zu tragen und sich unglücklich zu fühlen wie ihre Mutter. Hier hat sie nichts anderes getan, als Tapa herzustellen, zu singen und zu tanzen und fröhlich zu sein und abends am Grab der Mutter zu beten. Sie weiß nichts weiter als das, was einen der jungen Burschen auf der Insel glücklich machen könnte. Aber nimm sie nur mit, bis sie ihr draußen auch das Herz gebrochen haben wie ihrer Mutter. Dann schick sie mir wieder, Ahi-ahi wird ihr dann das Bett machen – neben der anderen.«

»Nein, nein!« rief René, den der Vorwurf tief traf. »Nein, Mitonare, ich habe schwer genug an euch gesündigt. Behalte Sadie, und bewahre sie vor dem Fluch, der das Glück ihrer Mutter zerstörte. Halte sie glücklich und zufrieden und gib mir wenigstens den Trost, daß mein Kind hier glücklich lebt.«

Der Mitonare stand eine ganze Weile vor ihm und betrachtete abwechselnd ihn und sein Kind. Dann nahm er seine Hand und sagte leise:

»Armer Wi-wi, armer René. Du bist alt geworden in den wenigen Jahren und gewiß nicht so glücklich, wie du vielleicht geglaubt hast.«

René schüttelte heftig und abwehrend seinen Kopf, und der kleine Mann fuhr fort, indem er sich abwandte:

»Die Menschen wissen meistens nicht, wenn sie es sind. Sie wollen andere glücklich machen und machen sie und manchmal auch sich selbst unglücklich. Dein Volk hat unserem Land viel Schmerz gebracht. Aber wie willst du es haben? Soll dein Kind bei mir bleiben, oder soll es zu dem weißen Mitonare gehen, der ihr Sachen beibringen kann, die sie bei mir nicht lernt?«

»Nein, Mitonare, auf keinen Fall!« rief René rasch und bewegt. »Das wäre kein Segen für sie auf dieser stillen Insel. Du selbst hast das größere Recht auf sie. Sie ist unschuldig hier aufgewachsen, paß weiter auf sie auf, wie du es bislang getan hast. Aber ich bin reich, ich will dir Geld zurücklassen, damit du...«

»Geld?« unterbrach ihn Mitonare rasch und zornig. »Geld? Willst du selbst wieder den Fluch auf Atiu aussäen, der unser Volk schlecht und geizig gemacht hat? Weg mit dem Geld, es ist Gift, Haß und Neid darin. Siehst du die reife Frucht am Brotfruchtbaum? Das klare Wasser hier? Brauchen wir mehr? Wir nicht, aber andere brauchen mehr davon. Die schwarzen Mitonares wollen Geld, immer nur Geld. Denen gib es, wenn du so viel hast. Ahi-ahi gönnt es ihnen, aber nicht uns hier. Du hast uns genug weh getan, aber du meinst es ja nicht so schlimm«, setzte er dann etwas ruhiger hinzu. »Du wußtest es nur nicht besser. Aber es wird Zeit für dich, Sadie. Die Sonne sinkt, komm Aia, laß die beiden zusammen gehen. Das Gebet dort oben am Hügel wird ihnen guttun. Gehst du mit ihr, René?«

René stand viele Sekunden still und sprachlos, endlich riß er sich zusammen. Sein Gesicht war totenbleich. Langsam ging er auf den Mitonare zu, ergriff und schüttelte seine Hand. Dann küßte er den verlegenen kleinen Mann auf den Mund, anschließend Aias Hand. Dann zog er sein Kind an sich und ging langsam den kleinen Hang hinauf, zum Grab seiner Frau.

 

Lange schon war die Sonne ins Meer gesunken. Tiefe Dunkelheit bedeckte das Land und den Ozean. Noch immer saß der kleine Mitonare vor seiner Hütte. Er wurde bereits unruhig über das lange Ausbleiben der beiden. Endlich erhob er sich und wollte ihnen eben entgegengehen, als er leichte Schritte im Laub hörte. Gleich darauf stand Sadie allein vor ihm.

»Und wo hast du den Wi-wi?« Eine dunkle Ahnung durchzuckte ihn: Sadie schmiegte sich an ihn. Er fühlte, wie ihr die Tränen über das Gesicht liefen.

»Er ist fort, Vater, und wird nie wieder zurückkehren.«

»Fort? Mitten in der Nacht? Wohin?« rief der Mitonare erschrocken.

»Fort mit seinem Boot.«

»Bei Nacht durch die Korallenriffe?«

»Wir haben lange bei Mutters Grab gebetet. Er hat geweint, als ob ihm das Herz bräche. Dann hat er mich gedrückt und geküßt und gesagt, er wäre es nicht wert, zu leben, wo er uns alle unglücklich gemacht hat. Ich bat ihn, bei uns zu bleiben, aber er riß sich von mir los und lief den Hügel hinunter. Als ich ihm nachsah, erkannte ich das kleine Schiff, wie es die Segel setzte. Mit der Brise, die heute abend weht, glitt der dunkle Schatten des Fahrzeuges von sicherer Hand gesteuert durch die Riffe zur Einfahrt, durch die es bald verschwand.«

Der Mitonare erwiderte kein Wort. Er küßte das Mädchen und ging in sein Haus. Dort blieb er allein während des ganzen Abends.

Als sich die Sonne am anderen Morgen aus dem Meere hob, schauten die Insulaner vergeblich nach dem kleinen Kutter aus. Kein Segel war am ganzen Horizont zu sehen.


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