Friedrich Gerstäcker
Tahiti
Friedrich Gerstäcker

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19. Alte Erinnerungen und neue Schmerzen

Über die See strich der Morgenwind leise und feucht, kräuselte die Wogen und glitt dann rasch zwischen die Palmen am Ufer, rauschte in den blütenschweren Zweigen und flüsterte zwischen den Blumen.

Bleigrau lag das Meer, dunkle Schatten flogen über seine Fläche. Nur am Himmel kündete ein lichter Streifen über dem dunklen Himmelsdom das Nahen des Sonnengottes.

Als die Sonne hell und freundlich auf die Dächer des kleinen Tales schien, saß Sadie am Strand. Sadie, die schönste Zierde des Hains, eine der schönsten Blumen des Landes. Ihr Kind spielte nicht weit von ihr, René hatte seine Heimat aber schon vor Sonnenaufgang verlassen. Bertrand hatte ihn abgeholt, und die beiden waren in einer Stimmung gewesen, die ihr das Herz schwer machte. Tränen liefen jetzt über ihr Gesicht, sie wußte nicht, weshalb sie sich so sorgte, denn die Männer hatten ihr gegenüber nichts verlauten lassen. Trotzdem wurde es Sadie immer ängstlicher zumute, ein merkwürdiges, stechendes Gefühl zog ihr durch die Brust. Sie atmete schwerer, schaute sich verstört um und fuhr mit einem Schreckensschrei in die Höhe. Vor ihr stand mit ernstem, strengem Blick der Missionar Rowe.

»Um Gottes willen, was ist geschehen?« flüsterte sie kaum hörbar. »Wo ist René?«

Der ehrwürdige Mr. Rowe schüttelte den Kopf und sagte ernst:

»Wenn du eine Unglücksbotschaft fürchtest, meine Tochter, so beruhige dich. Sie kann nicht von mir ausgehen, denn ich kenne kein fleischliches Leid, das dich und die deinen betroffen haben könnte. Aber Prudentia, sind das die Früchte unserer Lehren, die freudigen Hoffnungen, die wir, dein Pflegevater und ich, in dich setzten? Pflegst du so das Wort Gottes, das dir deinen Weg hätte beleuchten sollen?«

Sadie schwieg. Das Herz war ihr schon voll und schwer, und die Worte des Geistlichen schnitten nur noch tiefer in die Wunden. Der Gedanke, daß sie gesündigt hatte, drängte sich als Schreckensbild vor ihr auf.

»Es schmerzt mich, Prudentia, dir weh zu tun. Ich habe dich schon als Kind gern gehabt und dein Wachsen und Gedeihen mit inniger Freude gesehen. Ich hielt es damals für meine Pflicht, dir entgegenzutreten, als du den ersten Fehler tun wolltest. Der Herr hat es anders gewollt, sein Name sei gepriesen. Aber er wollte dir nur eine Prüfung auferlegen, und alle Hoffnungen sind jetzt wie Spreu im Winde verstreut. Aber noch ist es Zeit, dich zurückzuholen. Noch ist auch jetzt Rettung möglich, wenn du die mahnende Freundesstimme, die Stimme Gottes hören willst.«

»Was kann ich denn tun?« klagte die arme Frau und faltete verzweifelt die Hände. »Mein Mann und mein Kind fordern mein Leben, es gehört ihnen. Sagt nicht Gott selbst: Du sollst Vater und Mutter verlassen und dem Manne folgen?«

»Dem Manne, aber nicht dem Feind!« rief der Missionar. »Du sollst dem Mann, der nun einmal dein Ehemann geworden ist, in allem Guten folgen, aber nicht in Sünde und Finsternis. Du mußt auch deine ganze Kraft dafür einsetzen, um ihn selber aus dem Verderben zurückzureißen. Was würde Vater Osborne sagen, wenn er dich gestern in ihren Reihen beim Tanz gesehen hätte? Kannst du noch beten?«

»Aus voller, inniger Seele zu meinem Gott!« rief die arme Frau. »Der Schein mag gegen mich sein, aber Gott der mein Herz sieht und kennt, weiß, mit wie wehmütigem Gefühl ich dem Wunsch meines Mannes folgte. Ich passe nicht zwischen die Fremden mit ihren Sitten und Gebräuchen, hätte ich mein freundliches Atiu nicht verlassen, wäre ich noch immer froh und glücklich.«

»Ich komme eben von Atiu«, sagte Mr. Rowe leise.

»Von Atiu? Von meinem Atiu?« rief Sadie rasch und erfreut aus.

»Bruder Ezra hat mich begleitet. Wegen der jetzigen Verhältnisse ist eine Zusammenkunft aller wichtigen Männer von den Inseln erforderlich, um dem französischen Einfluß entgegenzutreten.«

»Mi-to-na-re«, flüsterte die junge Frau und lächelte unter Tränen.

»Ja, Prudentia, das war eine schöne Zeit für dich, und Gottes Hand lag liebend auf deiner Heimat. Doch dann kam der Versucher, und du bist ihm erlegen.«

»Ehrwürdiger Vater...«, bat Sadie.

»Fürchte dich nicht, mein Kind. Ich bin nicht gekommen, um dir Vorwürfe über das Geschehene zu machen. Wenn ich dich auch durch die Ereignisse bedingt einige Zeit allein lassen mußte, habe ich die Hoffnung nie aufgegeben, deine Seele ihrem Erlöser zu retten, ja, ich fürchte fast, wiederzugewinnen.«

»Aber was kann ich denn tun?« frug Sadie in großer Angst. »Auch unsere Religion gebietet uns, dem Mann zu gehorchen!«

»Willst du seinen Leib oder seine Seele retten?« sagte der Priester finster.

»Seinen Leib?« Blitzschnell durchzuckte sie erneut der Gedanke an eine drohende Gefahr. »Was ist denn geschehen?«

»Törichtes Kind, das die unheilvollen Wolken am Himmel nicht sehen will. Bete, Tochter, verlorenes Lamm der Herde, bete!«

Plötzlich warf sich Rowe auf die Knie nieder, hob die krampfhaft gefalteten Hände zum Himmel und betete mit lauter Stimme. Neben ihm kniete Sadie, die von den drohend klingenden Worten des Priesters eingeschüchtert wurde. Jedes seiner Worte traf sie schwer. Als Rowe endlich die Hand auf ihren Kopf legte, um sie zu segnen, zuckte sie unter der Berührung zusammen.

»Prudentia!« sagte Bruder Rowe leise, aber sie antwortete nicht, sondern verbarg weinend ihr Gesicht in den Händen. »So sei Gott mit dir!« sagte der fromme Mann und ergriff seinen Hut. »So sende er dir sein Licht und seine Gnade, er lasse sein Angesicht leuchten über dir und gebe dir Frieden.«

Mit leisen Schritten verließ er Sadie. Seine lange und hagere Gestalt war noch nicht ganz hinter den blühenden Papayen verschwunden, als eine kleine, dicke Figur aus dem dichten Orangenlaub auftauchte. Mißtrauisch sah er sich erst um, dann folgte er dem Geistlichen noch ein paar Schritte auf dem Weg. Von einer kleinen Anhöhe aus konnte er sehen, daß er sich immer weiter entfernte. Erst jetzt schien er sich völlig sicher zu fühlen und eilte mit vor Freude strahlenden Augen zum Haus. Scheu blieb er an der Schwelle stehen, dann faßte er sich ein Herz und klopfte an. Es gab keine Antwort, im Zimmer regte sich nichts. Als er ein zweitesmal klopfte, etwas stärker, erfolgte noch immer keine Reaktion. Gerade wollte er sich wieder umdrehen, als er leise, aber deutlich ein wohlbekanntes: »Hare mai!« hörte. Sadie hatte sich erhoben und war zur Tür getreten. Kaum erblickte sie die kleine Gestalt des Eintretenden, als sie in einen Freudenruf ausbrach. »Mitonare, mein guter, lieber Mitonare!«

»Pu-de-ni-a!« stammelte der kleine Mann, und die Tränen quollen ihm über die Wangen. Er nahm sie in die Arme, als sie auf ihn zuflog, und konnte nur noch einige Begrüßungsworte stammeln. Dann rieb er als Ausdruck höchster Zärtlichkeit seine Nase an ihrer, drückte sie fest an sich und nannte ihre alten Kosenamen. Endlich sammelte sich Bruder Ezra und sprach in seiner Muttersprache:

»Was ist mit meiner kleinen, lieben Pudenia? Sie ist nicht das fröhliche Kind von A-tiu. Ist der böse Wi-wi schlecht zu meinem lieben Kind gewesen?«

Unter ihren Tränen lächelte Sadie. Sie schüttelte leise den Kopf. »Nein, Mi-to-na-re, er ist gut und lieb wie immer zu mir. Zanke nicht mit den Wi-wi...«

»Dann hat dir der ›schwarze Mann‹ wieder das Herz mit seinen Worten schwer gemacht«, sagte Bruder Ezra und warf einen scheuen Blick zum Fenster. »Wenn ich mit ihm eine Zeitlang gebetet habe, komme ich mir wie der schlimmste Sünder vor. Wenn ich früher mit Vater Osborne sprach, war es mir dagegen immer, als ob mir eine Last von der Brust gewälzt wurde. Es ist doch schrecklich, wenn man nie weiß, ob man ein Sünder oder ein guter Christ ist, und ich bin bei mir noch nicht dahintergekommen.«

»Aber du hast dich auch verändert. Du siehst so würdig aus!«

Bruder Ezra schüttelte den Kopf. »Es ist nichts. Die Hosen machen den Menschen nicht besser, nur unbequemer. Und der steife Kragen schneidet mir noch die Ohren ab.«

»Die Kleider machen wirklich nicht den Christen aus, aber das treue Herz in der Brust hat dich dem reinen Glauben gewonnen.«

Der kleine Mitonare seufzte aus schwerem Herzen tief auf. Es war offensichtlich, daß ihn etwas bedrückte. Nicht nur Schuhe trug er heute und bewegte sich darin, als würde er jeden Moment seinen Fuß irgendwo einklemmen, sondern auch das alte Hüfttuch fehlte, und dafür hatte er eine stramm sitzende Hose an. Auch der hohe europäische Hut durfte nicht fehlen, um ihn unglücklich zu machen. An jedem Guiavenbusch, jeder Banane und jedem Zweig eines Baumes war er hängengeblieben. Mit seinem Frack, in den er noch das schwere Gebetbuch gesteckt hatte, fühlte er sich sichtlich unbehaglich. Aber den armen Mann drückten auch noch andere Sorgen.

»Die schöne Zeit ist vorbei«, sagte er traurig, »wo ich nur in die Sterne sehen mußte und dabei in Gottes herrliches Reich sah. Mitonare ist unglücklich, sein Glaube ist wankend geworden, er hat den Weg verloren und weiß nicht, ob er gerade durch über die Berge und durch die Täler gehen soll oder ein Kanu nehmen muß, um im Binnenwasser langsam dahinzusteuern.«

»Armer Mitonare!« sagte Sadie lächelnd. Sie hatte den Sinn seiner Worte nicht verstanden. »Wer hat dich denn so in der fremden Tracht herausgeputzt?«

»Wer? Er hat noch andere Sachen getan. Wir sind arge Sünder und müssen jetzt entsetzlich viel beten und Bibelstellen auswendig lernen, oder wir gehen rettungslos zugrunde. Aber mein Vater und mein Großvater bleiben doch in der... da unten... tief da unten...«

»Es wird schon noch alles gut gehen, Mi-to-na-re. Gott ist der Allerbarmer, ohne dessen Willen nichts geschieht. Erzähle mir von Atiu, meinem lieben Atiu!«

»Atiu!« wiederholte der kleine Mann und nickte langsam mit dem Kopf. »Mit dem stillen, luftigen Haus und der kleinen, lieben Kirche... aber es ist auch einiges anders geworden auf Atiu. Die Leute werden zu klug und zu reich, und dann ist es mit dem Frieden und dem Glück vorbei. Wie schön war Atiu, als es nur seine Palmen hatte und seine Hütten!«

»Wie schön war Atiu!« wiederholte seufzend die junge Frau.

»Viel Besuch hatten wir dort. Viele Leute, die es gut mit uns meinten, wie sie sagten, und die gekommen waren, um unsere Seelen zu retten, und die uns viel versprachen, wenn wir nur täten, was sie wollten.«

»Waren Missionare aus Frankreich auf Atiu?«

»Ich weiß nicht, woher sie kamen. Aber es waren Wi-wis darunter und auch andere. Sie haben uns das Herz mit Versprechungen und Drohungen schwer gemacht.«

»Weiß Mr. Rowe, daß die Fremden da gewesen sind?«

Mitonare lächelte fast wieder wie in alter Zeit und sagte schmunzelnd:

»Und ob er es weiß! Mord und Blut hat er vom Himmel heruntergebetet für die... die Götzendiener, und der Himmel blieb blau!« Er lachte unheimlich. »Dann kamen die anderen Männer und sprachen vom lieben Gott, den sie ganz genau kennen wollten und der ihr bester Freund sein sollte. Auch sie riefen einen Feuerregen über ihre Gegner hernieder, und der Himmel blieb blau!«

Er sprach das letzte Wort so scharf aus, daß die kleine Sadie erschrocken aufsprang und einen leisen Schrei ausstieß. Als Bruder Ezra sich umdrehte und das Kind am Boden spielend sah, warf er sich neben dem noch immer ängstlich aufsehenden Mädchen auf den Boden und rief mit vor Rührung fast erstickter Stimme:

»Iti, iti Pudenia, iti, iti, aiu, potii.«»Kleine, kleine Pudenia kleines, kleines Herzchen, mein kleines Mädchen!«

Die Kleine hatte ihn erst erstaunt angesehen, dann streckte sie die Händchen nach ihm aus und lachte ihm entgegen. Der gute kleine Mitonare nahm sie auf den Arm und sprang jauchzend mit ihr im Zimmer umher. Mit dem Kind hatte er alles vergessen, was ihn bis dahin gedrückt hatte. Die kleine Sadie ließ sich alles gefallen, und er plauderte mit ihr die tollsten Sachen. Dann begann er sogar, in seinem gebrochenen Englisch ihr Geschichten zu erzählen aus der Bibel und aus der Heidenzeit, vom Meer und dem Land, wie es ihm gerade einfiel. Die Mutter stand daneben und sah ihnen zu.

»Wie lange bleibst du auf Tahiti, Mitonare?« erkundigte sie sich endlich. Da wurde der kleine Mann plötzlich wieder ernst, setzte das Kind auf den Boden und sagte:

»Sie haben hier auf Tahiti etwas vor. Was es ist, weiß ich noch nicht. Aber die Bibelstellen, die Vater Rowe predigt, riechen nach Blut. Die Beretanis haben Kriegsschiffe hier, aber auch die Wi-wis warten nicht ab. Vorgestern waren zwei Schiffe auf Atiu in Sicht. Raiteo behauptet, daß sie den Feranis gehören und viele Kanonen an Bord haben.«

»Was können unbewaffnete Männer dagegen tun!«

»Unbewaffnete nichts, aber Bewaffnete um so mehr. Bibeln waren nicht in den Kisten, die sie an Bord des Walfängers hatten, als er auf Atiu landete. Sie haben sie in die Berge gebracht, das Schiff ist jetzt hier im Hafen.«

»Die Missionare werden nie zu Gewalt und Blutvergießen die Hand reichen!« tief Sadie.

»Wenn ich etwas nicht lesen mag, drehe ich den Kopf weg«, antwortete Mitonare trocken.

»Du hast Raiteo erwähnt. Wie geht es ihm, und was treibt er jetzt? Ist er ein besserer Mensch geworden?«

»Was er jetzt treibt, weiß ich nicht. Aber als ich kam, stand er draußen auf Posten und ging dann mit dem ehrwürdigen Bruder Rowe in die Stadt zurück. Es ist nicht das erstemal, daß sie in einem Joche ziehen..«

»Raiteo hier auf Tahiti?« rief Sadie erstaunt.

»Raiteo Mitonare«, erwiderte Bruder Ezra trocken.

»Mitonare? Raiteo? Der seinen Vater verraten würde, um ein Stück Kattun zu verdienen oder etwas Geld?«

»Raiteo Mitonare«, bestätigte der kleine Mann. Langsam mit dem Kopf nickend setzte er hinzu: »Menschen sind einmal bös und dann wieder gut. Raiteo hat seine Sünden eingesehen und ist frommer Mann geworden... aber trägt noch keine Hosen.« Es klang etwas eifersüchtig, als Mitonare das sagte und dann noch hinzusetzte: »Er hat noch sein Lendentuch und seine nackten Beine und einen bloßen Kopf. Nur am Sabbath in der Kirche einen Frack, kann nicht gut ohne Frack in die Kirche kommen.«

»Raiteo Mitonare«, wiederholte Sadie, die sich nicht von ihrem Erstaunen erholen konnte. »Und das auf Atiu... wo sie ihn kennen!«

Bruder Ezra verneinte. Auf Atiu habe ihn Bruder Rowe doch nicht lassen können, denn sie kannten ihn dort zu gut. Wahrscheinlich sollte er auf eine der Nachbarinseln kommen.

Sadie blickte den kleinen Mann erstaunt an, denn eine merkwürdige Veränderung war in dessen ganzem Wesen vorgegangen. Er, der noch vor wenigen Jahren jedem Wort von den Lippen der Missionare in frommer, furchtsamer Weise gelauscht hatte, sprach jetzt selbst über den Strengsten ihrer Schar gleichgültig. Ja, Sadie konnte sich über den Ausdruck in seinem Gesicht und in seinen Worten nicht länger hinwegtäuschen, er sprach fast ironisch über alles. Das bittere Lächeln, das um seine Lippen spielte, unterstrich das noch. Bruder Ezra hatte den forschenden Blick bemerkt und zuckte zusammen. Der Gedanke, daß seine kleine Pudenia, die jetzt zu ihm aufsah wie zu einem zweiten Vater, annehmen könnte, daß er etwas Schlimmes denken könnte, war mehr, als er ertragen konnte. Leise sagte er:

»Mitonare ist kein böser Mensch geworden, Pu-de-ni-a, er liebt seinen Gott... und tut auch... tut alles, was in der Bibel steht, aber... andere Männer... Männer, die auch sagten, daß sie der liebe Gott schickt... sind zu ihm gekommen und haben ihm, als er verzweifelt war, Trost gebracht, als er weinte, seine Tränen getrocknet, als er unschlüssig stand, einen neuen Pfad gezeigt und... wenn er sich auch bis jetzt noch nicht traute, den neuen Pfad zu gehen, hat er doch bis jetzt...«

Er stockte, als traue er sich nicht, weiterzureden. Sadie ergriff seine Hand und fuhr traurig fort:

»Den alten Pfad seiner Religion verlassen und nur die äußere Form beibehalten, seinen Gott damit täuschen.«

»Aita, Pu-de-ni-a, aita!« rief der kleine Mann rasch und ängstlich, vielleicht weil er die Wahrheit des Vorwurfs fühlte. »Nein, Kind, ich bin nicht meinetwegen auf dem Pfad wankend geworden, nein, die Mitonares tragen selbst die Schuld. Sie feinden einander an, schimpfen sich Heiden und Götzenanbeter und behaupten alle, allein den richtigen und alleinigen Glauben zu haben, dessen Feinde Gott mit seiner Rache heimsuchen und von der Erde vertilgen werde. Mir frißt dabei aber immer etwas am Herzen. Vater und Mutter, die rettungslos im Höllenpfuhl brennen sollen! Da kamen andere Priester und sagten, daß ich sie retten kann, wenn ich fleißig in ihrer Art bete. Bruder Rowe donnerte dagegen mit allen Waffen der heiligen Schrift. Da zuckte und zog es in meinem Herzen, und böse Gedanken stiegen in mir auf und ließen mich nicht zur Ruhe kommen. Hat der eine recht, sind sie unrettbar verdammt, hat der andere recht, begehe ich eine entsetzliche Sünde, wenn ich mein Leben nicht ihrer Rettung weihe. Armer Mitonare, ist recht böse daran, soll anderen den Glauben bringen und weiß selber nicht. Und wenn der alte Mann nun doch allein recht hätte?«

»Welcher alte Mann, Mitonare?« erkundigte sich Sadie erstaunt. Bruder Ezra hob erschrocken den Finger an die Lippen und sah sich vorsichtig um.

»Pst... Pu-de-ni-a, das war ein wunderbarer, furchtbarer alter Mann, und er kam und ging in einem Sturm.«

»Was tat er bei euch auf Atiu?«

»Er sagte, er käme von den Inseln leewärts und wollte Handel treiben und Kokosöl und Perlmuttschalen einkaufen. Aber er sprach furchtbare Sachen, und mich schaudert's, wenn ich daran denke, wenn ich darüber nachsinnen

»Was hat er denn entsetzliches gesagt?« drängte die Frau.

»Pu-de-ni-a«, sagte der Mitonare, der Frage noch ausweichend. »Hast du schon einmal an einem Abgrund in schwindelnder Höhe gestanden? Ist dir da nicht der Gedanke gekommen, du müßtest da hineinspringen in die Tiefe, damit du den Platz nur schnell verlassen kannst?«

Sadie nickte, noch in der Erinnerung schaudernd.

»Siehst du, so ging es mir, als ich den Worten des alten weißen Mannes lauschte«, flüsterte der kleine Mann und nickte still vor sich hin. »Er trug einen langen, weißen, spitzen Bart, und die kleinen, blitzenden Augen lagen wie zwei glühende Kohlen unter den buschigen Brauen. Sein ganzes Gesicht hing dabei in dichten Falten, er mußte sehr alt sein, denn er hatte die Welt gesehen von dem Teil, wo das Wasser zu Stein wird in großer Kälte, bis dahin, wo die Sonne abends in ihr Lager sinkt. Er sprach von Gott und den Sternen und allem, was auf Erden lebt.«

»Aber er glaubte an Gott?« frug Sadie leise und scheu.

»Er hatte denselben Namen dafür wie wir, Jehova«, sagte der kleine Mitonare. »Aber er verleugnete den Heiland!« setzte er leise hinzu.

»Gütiger Gott!«

»Er leugnete Jesus Christus«, bestätigte der Mitonare, »und mir lief es wie ein Fieberschauer durch die Adern, als ich mit ihm allein in dem stillen Haus saß und der Weststurm um das Dach heulte. Die flackernden Ölflammen schlugen in roter Glut hoch auf, und der magere, alte, bärtige Mann erzählte mir von dem Heiland, der nur ein Mensch gewesen sei wie wir alle, aber ein guter Mensch, und von seinen Neidern und den reichen Leuten, die befürchteten, daß er durch seine Reden das Volk gegen sie aufwiegeln würde. Er wurde von ihnen ans Kreuz geschlagen.«

»Er verleugnete Gottes Sohn!« sagte Sadie schaudernd.

»Ja, und er trieb Spott über alles, was selbst die Wi-wis für heilig halten«, nickte der Kleine. »Aber trotzdem hörte ich ihm gern zu, denn sein Gott war ein Gott der Liebe und der Gnade, und alle Menschen waren seine Kinder, alle nahm er zu sich auf, Farbige und Weiße, Beretanis und Feranis, wenn sie gut und redlich lebten und seinem Wort folgten. Auch mein Vater und meine Mutter wären in seine Herrlichkeit eingegangen, wenn sie nicht sonst schlechte oder böse Menschen gewesen waren. Seit der Zeit sind meine Gedanken nicht mehr mein eigen«, fuhr der kleine Mann trübsinnig fort. »Seit dieser Zeit suche ich Antworten auf meine Fragen, und nachts kommt der Böse und lockt mit seinen Schmeicheleien, tagsüber sehe ich den Alten vor mir, wie er sich den Bart streicht und mit seinen scharfen Worten mir noch Trost und Hoffnung gibt. Seit diesem Tag ist der kleine Mitonare ein anderer geworden. Er trägt sein Gebetbuch mit sich herum, hat aber nicht den Mut, hineinzusehen.«

»Armer Mitonare. Bete aus tiefster Seele zu deinem Heiland, der dich führen und schützen möge«, sagte Sadie mit ihrer weichen Stimme. Bruder Ezra hatte nachdenklich auf das Meer gesehen, schreckte jetzt aber auf.

»Was ist das?«

Sie sahen das Boot eines Kriegsschiffes, von acht Matrosen gerudert. Es kam um die nächste Landspitze und hielt gerade auf ihr Haus zu. Hinten am Heck wehte die französische Flagge.

»Ein Boot der Feranis«, sagte Sadie ruhig. »Es will wahrscheinlich nach Papara und hält sich dicht an der Küste. Sie kommen oft hier vorüber.«

»Dann hätten sie die Korallenspitze vermeiden müssen«, sagte der Mitonare. »Sie können nur hierher wollen. Hinten neben dem steuernden Mann sitzen zwei Offiziere der Wi-wis und neben ihnen...«

»Heiliger Gott, neben ihnen liegt jemand auf der Bank!« rief in diesem Augenblick Sadie in Todesangst. Die böse Ahnung, die ihr den ganzen Morgen nachschlich, hatte sie kräftig gepackt.

»René?« rief Bruder Ezra erschrocken. »Was hat der tolle Wi-wi wieder angestellt, daß ihn die eigenen Landsleute gefangen haben? Aber das Boot dreht vielleicht doch noch ab.«

Sadie antwortete ihm nicht. In sprachloser Angst und Erwartung hing ihr Blick an dem rasch näher kommenden Fahrzeug. Schon glaubte sie, die Züge des Offiziers zu erkennen, der hinten lehnte, und auch sie war von den Bootsleuten erkannt worden. Die auf dem Sitz liegende Gestalt richtete sich halb empor und winkte herüber. Mit lautem Aufschrei flog sie hinaus an den Strand. Ohne an ihre europäischen Kleider zu denken, sprang sie in die Flut und dem Boot entgegen. René lag bleich und blutend auf der Bank und winkte jetzt freundlich zu ihr.

Da schoß das Boot heran, die Matrosen der Backbordseite warfen ihre Riemen mit einem Schlag empor, und Bertrands Hand streckte sich der armen Frau entgegen, deren stierer Blick nur an dem bleichen Gesicht des Verwundeten hing. Da berührte das Boot den Strand, ein Teil der Matrosen sprang über Bord, um ihn an Land zu tragen.

»Aber Sadie, was machst du denn für tolle Streiche?« flüsterte René halb vorwurfsvoll, halb verlegen.

»Du bist verwundet!« war alles, was sie in ihrer Angst hervorbringen konnte.

»Unsinn, eben nur die Haut geritzt. Ich hätte gehen können, aber Bertrand hat darauf bestanden, mich hierher zu fahren!« sagte er lachend.

»Die Wunde ist unbedeutend, Madame!« bestätigte jetzt auch der Offizier. Er war an Land gesprungen und machte eine fast unwillkürliche Bewegung, die junge Frau hinauf zum Haus zu führen. Sadie ließ aber die Hand ihres Mannes nicht los, während vier kräftige Matrosen ihn nach oben trugen.

»Ich fürchtete nur eine Entzündung, wenn er den langen Weg bei der Hitze zu Fuß zurückgelegt hätte. Wenige Tage Ruhe werden ihn wieder herstellen.«

»Aber was um Himmels willen ist geschehen?« bat Sadie.

»Nichts von Bedeutung«, sagte René. »Ein doppelter Aderlaß für eine neckische Göttin als Opfer. Das Fleisch heilt bald. Wer ist das da drüben? Mi-to-na-re? In Hosen und Strümpfen? Mitonare!« Er schüttelte herzlich die Hand des kleinen Mannes. In diesem Augenblick gab ihm die Erinnerung an Atiu einen Stich durch das Herz, und die Tränen traten ihm ins Auge. Er drehte den Kopf zur Seite, damit die Seeleute seine Rührung nicht bemerkten.

»Böser Wi-wi,« rief jetzt der kleine Missionar in seinem wilden englischen Kauderwelsch. »Aita maitai... macht ole manni viel Sorge... leichtsinniger Kopf, der in dicken Bambus fährt und durch will... läßt kleine Pu-de-ni-a zu Haus und kommt angefahren, blutig und blaß, und jagt ihr Todesschreck in die Glieder, daß sie auch krank wird und stirbt!«

René drückte die Hand seiner Frau und sprach dann in reinem Tahitisch zu dem erstaunten Missionar.

»Wo kommst du her, was treibst du, und wie geht es dir? Willst du jetzt bei uns auf Tahiti bleiben?«

Ehe der Mitonare die rasch hintereinander ausgesprochenen Fragen beantworten konnte, verbot der mitgekommene Schiffsarzt jede weitere Aufregung. Er wollte erst die Wunde noch einmal untersuchen und verbinden. Sie war ungefährlich, aber in dem heißen Klima doch zu beachten. Vor allen Dingen müsse der Verwundete in ein kühles Zimmer geschafft werden. Mit zitternder Hast besorgte Sadie alles. Sie legte viele Matten übereinander, um ihm ein weiches Lager zu errichten. Erst dann wechselte sie ihre nassen Kleider. René war von einer Kugel dicht an der Schulter getroffen. Sie war durchgegangen, ohne den Knochen zu verletzen. Blutverlust und Ermattung hatten ihn aber doch erschöpft. Als der zweite Verband mit Sadies Hilfe angelegt war, fiel er in einen sanften, aber festen Schlaf. Nur Mataoti durfte bei ihm bleiben und sollte rufen, wenn er wieder wach wurde.

Das Boot am Strand war schon wieder zur Abfahrt gerüstet. Bertrand wollte sich gerade von Sadie verabschieden, als sie ihn mit leiser Stimme zurückhielt. Sie bat ihn, ihr die Ereignisse zu schildern. Der junge Mann zögerte erst mit seiner Antwort. Aber er fühlte auch, daß er ihr die Wahrheit nicht vorenthalten durfte. Deshalb erzählte er ihr so schonend wie möglich, wie der Offizier nach den gestrigen Vorfällen nicht anders handeln konnte und René fordern mußte. Heute hatte man sich in aller Frühe vor der Stadt getroffen und aufeinander geschossen. Rodolphe, der Gegner, hätte zuerst gefehlt und eine leichte Streifwunde erhalten. Dann habe er hartnäckig darauf bestanden, den zweiten Schuß zu tun. Die Sekundanten konnten ihm den nicht verweigern. Die beiden fast gleichzeitig abgefeuerten Kugeln trafen ihre Ziele. René wurde leicht am Arm getroffen, Rodolphe in die Brust. Der Gegner lebe zwar noch, aber die Wunde sei sehr gefährlich. René brauchte nichts für seine Sicherheit zu befürchten, setzte er rasch hinzu. Selbst im unglücklichsten Fall stehe er gerechtfertigt da. Er hatte nichts anderes getan, als sich verteidigt.

Sadie wurde totenbleich. Ihr Mann verwundet, vielleicht ein Mörder, ihretwegen... Mit Entsetzen dachte sie daran, daß gerade jetzt die englischen Schiffe die Übermacht im Hafen hatten und wohl kaum einen Fall vorübergehen lassen würden, um einen der Feinde vor Gericht zur Rechenschaft zu stellen. Bertrand schüttelte aber lachend den Kopf.

»Die englische Herrschaft ist vorbei! Großbritannien erkennt das französische Protektorat an und zieht seine Schiffe zurück. Es geht aber noch weiter. In der Nähe einer der Nachbarinseln sind schon zwei französische Kriegsschiffe gesehen worden, wahrscheinlich Du Petit Thouars mit seiner Flotte. Von jetzt an weht die Tricolore auf Tahiti.«

»Zwei französische Schiffe sind gesehen worden? Von wem haben Sie die Nachricht?« erkundigte sich Sadie, und ein Gedanke an Raiteo durchblitzte ihr Gehirn.

»Kleine Fahrzeuge kreuzen herüber und hinüber«, antwortete der Offizier. »Wir haben überall unsere Wächter. Sehen Sie, Madame? Dort vor den Riffen segelt der ›Talbot‹ vor dem Wind, um diese Küsten zu verlassen, und... ha! Da kommt auch der ›Vindictive‹, schwerfällig seine Segel entfaltend. Halt, Ruhe, bis wir draußen in See sind!« rief er rasch seinen Leuten zu, die in lauten Jubel ausbrechen wollten. »Der Kranke schläft. Wir müssen jetzt auch nach Papeete zurück, dort wird es viel für uns zu tun geben. Heute abend komme ich schnell herüber, um nach unserem Kranken zu sehen. So, adieu Madame, auf ein frohes Wiedersehen!«

Gleich darauf stieß das Boot wieder ab und verschwand hinter der nächsten Landspitze.

Mitonare hatte nichts von dem Gespräch verstanden und wurde jetzt von Sadie über den Abzug der englischen Schiffe informiert. Der kleine Mann konnte es nicht glauben, aber Sadie hörte nicht auf ihn. Ihre Sorge galt dem verwundeten René. Mitonare verabschiedete sich schließlich, weil er zur Versammlung nach Papeete mußte. Er wollte abends ebenfalls wiederkommen und bei René bleiben.

Sadie wollte Aumama bitten, ihr zu helfen, aber die Freundin war erst früh am Morgen nach Hause gekommen, hatte ihre Kinder geweckt und mitgenommen, niemand wußte, wohin. Auch Lefevre war verschwunden, das Nachbarhaus lag wie ausgestorben.


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