Friedrich Gerstäcker
Tahiti
Friedrich Gerstäcker

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3. Das Mädchen von Atiu

Nachdem ihn die Eingeborenen verlassen hatten, saß René eine ganze Weile nachdenklich auf den Steinen seines kleinen Forts und überlegte, was er am besten täte. Sollte er an dieser Stelle bleiben und die Rückkehr der Männer erwarten, oder sollte er sich lieber ein neues Versteck suchen? Dort konnte er wenigstens bis zum Dunkelwerden unentdeckt bleiben und hatte dann die ganze Nacht für sich, um eine bessere Stelle zu finden. Er wußte recht gut, daß der Kapitän des »Delaware« bald ungeduldig werden würde, wenn er ihn nicht wieder rasch zurückbekäme. Es war auch möglich, daß er in der Nacht ein Kanu fand, mit dem er in See stechen konnte. Im Nordwesten lagen noch mehrere Inseln, und lieber wollte er sich der Gefahr aussetzen, von einem Sturm bedroht zu werden, als wieder zurück an Bord zu gehen. Endlich hatte er einen Entschluß gefaßt. Er wollte von dieser Kuppe zu einer anderen Hügelspitze gehen, die er von hier aus gut erkennen konnte. Das nahm seinen Feinden einige Zeit, bis sie ihn wieder fanden, und die Nacht verbarg dann seine Spuren vor den Verfolgern.

Diesen Versuch mußte er aber bald aufgeben, denn kaum hatte er hundert Schritte den Berg hinunter getan, als sein scharfer Blick die Gestalt des dort stationierten Insulaners entdeckte. Der hatte sich zwar rasch in das üppige Kraut geduckt, das überall den Boden bedeckte, aber René wußte, daß er umstellt war. Es half ihm nichts, wenn er seinen Schlupfwinkel änderte. Diese Wachen würden ihm natürlich auf den Fersen bleiben. Es bestand sogar die Möglichkeit, daß sich seine Feinde in größerer Zahl hier versammelt hatten, als er selbst ahnte, und ihm einen Hinterhalt gelegt hatten. Bei diesem Gedanken sah er sich scheu um und hatte die gespannte Pistole in der Hand. Hinter jedem Baum glaubte er einen Eingeborenen, der schon sprungbereit lauerte. Rasch zog er sich deshalb wieder zu dem verlassenen Versteck zurück.

»Nun gut, dann sollen sie auch die Folgen tragen«, murmelte er zwischen den fest zusammengebissenen Zähnen hindurch, während er den Hügel hinaufschritt. »Wenn sie mich mit Gewalt zum Äußersten treiben wollen, gut. Aber lebendig bringen sie mich nicht von diesen Steinen herunter, das schwöre ich bei Gott!« Bei diesen Worten untersuchte er sorgfältig seine kleinen Terzerole, schraubte die Pistons heraus und schüttete frisches Pulver auf, dann erneuerte er die Zündhütchen. Als er auch nach seinem Messer gefühlt hatte, ob es locker und zum Griff bereit an der Seite hing, wußte er, daß er im Moment nichts weiter tun konnte, und warf sich auf die Steine nieder, um seine Kräfte jetzt zu sammeln.

Etwa eine halbe Stunde mochte er so gesessen haben, als der Lärm der zu ihm heraufsteigenden Menge an sein Ohr drang. Er horchte einen Augenblick, blieb aber noch ruhig in seiner Stellung. Er wußte, daß sie ihn nicht überraschen wollten, wenn sie so laut daherkamen. Aber der entscheidende Augenblick nahte auch. Er hatte das Boot wieder zurückkommen sehen und erwartete nun, daß der Harpunier selbst mit seinen Leuten sich den Eingeborenen angeschlossen hatte.

Die Menge kam jetzt mit lautem Reden und Lachen näher. René mußte sich aufrichten, aber der Blick über den Wall überzeugte ihn bereits, daß nur die Insulaner kamen. Damit zog auch wieder Hoffnung in seine Seele. Er nahm seine alte Stellung auf dem Stein ein. Als er die Männer und Frauen in bunter Menge um sich versammelt sah, konnte er erneut ein Lächeln nicht zurückhalten.

»Was für eine herrliche Situation wäre das jetzt für einen der frommen Missionare«, sagte er leise vor sich hin. »Kanzel und Auditorium sind fix und fertig, und was für eine zahlreiche, bunte Versammlung, sogar mit Frauen. Die lieben Dinger müssen doch überall dabeisein – selbst wenn es darum geht, einen armen Teufel von Matrosen wieder an seine Henker auszuliefern. Aber noch habt ihr ihn nicht, und so billig sind die zehn Ellen Kattun und was weiß ich noch nicht zu verdienen, ehe ihr ihn bekommt!«

Die Schar versammelte sich jetzt um den Felsen. Bei ihnen befand sich der Sohn des Königs, aber Raiteo mußte wieder als Dolmetscher dienen. Doch der schien seine gute Laune verloren zu haben und forderte den Matrosen kurz und barsch auf, herunterzukommen und mit ihnen zu gehen, weil sie sonst Gewalt gebrauchen müßten. Ihr König erlaube ihm nicht länger, sich hier auf der Insel aufzuhalten, weiterer Widerstand würde ihm nicht helfen.

René hatte sich bei seinen Worten hoch aufgerichtet. Die jetzt frisch von der See herüberwehende Brise schlug ihm das dunkle, lange Haar wild um die Schläfe. Von der Anstrengung war sein Gesicht bleich, aber seine Augen funkelten, und ein trotziges Lächeln umspielte seine Lippen, als er mit lauter, herausfordernder Stimme hinunterrief: »So kommt doch her, wenn ihr den Mut habt, mich zu holen! Kommt und seht, wessen Blut diese Steine zuerst färben soll! Kommt und liefert einen Mann, der euch nie etwas getan hat, seinen Feinden aus! Ihr seid ja Christen und wollt nach Gottes Geboten handeln, kommt! Aber ehe ich das Schiff wieder lebendig betrete...«

Er schwieg plötzlich, denn sein Blick war unwillkürlich auf das Schiff gefallen. Dabei sah er jetzt zum erstenmal das flatternde Zeichen an der Gaffel und gleichzeitig das zurückkehrende Boot. Ein zweiter Blick überzeugte ihn, daß nach Westen hin die drei anderen Boote ebenfalls unter Segel standen, und die Bedeutung dieser Tatsache durchzuckte ihn.

Als die Eingeborenen sahen, daß er plötzlich seine Blicke zu der Richtung lenkte, wo das Schiff lag, versuchten sie ebenfalls, einen freien Ausblick zum Meer zu erhalten. Zwei junge Leute, die rasch eine der Kasuarinen erstiegen hatten, riefen gleich darauf etwas in ihrer Sprache herunter. Jetzt verteilten sich einige der Männer auf andere Punkte, von wo aus sie die See überblicken konnten. Sie erkannten ebenfalls, daß etwas an Bord des Schiffes vorgehen mußte, und beobachteten gespannt das Treiben.

René selber dachte kaum mehr an die Eingeborenen. Er sah, wie das Boot, das ihn abholen sollte, an Bord des »Delaware« zurückkehrte. Gleich darauf wurden die Rahen umgebraßt, und mit geblähten Segeln folgte das Schiff den vorangeeilten Booten. Sie mußten dort eine große Anzahl von Fischen bemerkt haben. Wenn die Jagd nur bis zum Abend dauerte und das Schiff dadurch eine größere Strecke nach Westen abkam, so war es fraglich, ob der Kapitän seinetwegen hier wieder gegen den Passat ankreuzen würde. Jedenfalls behielt er einen, vielleicht mehrere Tage Zeit, an eine Flucht von der Insel zu denken. Die Gefahr war wenigstens für den Moment von ihm abgewandt. Daß er die Insulaner jetzt sich leicht fernhalten konnte, daran zweifelte er keinen Augenblick.

Der Erfolg zeigte denn auch, daß er vollkommen recht gehabt hatte. Die Insulaner wußten nicht, woran sie waren, und mußten erst wieder einen Boten ausschicken, um neue Verhaltensbefehle einzuholen. Dem begegnete unterwegs schon ein anderer, der den Befehl brachte, den jungen Fremden einstweilen einzufangen und mit herunterzunehmen. Das war aber leichter gesagt als getan. Wenn er gutwillig kam, gut. Aber sollten sie ihr Leben wagen, ohne sicher zu wissen, ob das Schiff hierher zurückkam?

Die Frauen und Mädchen waren dem Zug aus Neugierde gefolgt und hielten sich zunächst scheu zurück. Da aber alles friedlich abzulaufen schien, so kamen sie weiter vor und versuchten Plätze zu bekommen, von denen sie den jungen Fremden genau beobachten konnten. Nur ein junges Mädchen war schon früher so weit vorgedrungen, daß sie sich dem Umstellten auf einer anderen kleinen Erderhöhung fast gegenüber befand. Sie hatte die ganze Zeit keinen Blick von ihm gewandt.

Es war ein junges, bildschönes Mädchen von vielleicht sechzehn Jahren, schlank gewachsen wie die Palme ihrer Wälder, aber mit vollem, rundem Gliederbau. Ihre rabenschwarzen, mit wohlriechendem Kokosöl getränkten Locken flatterten wild um die braune Stirn, und die schönen großen, dunklen Augen hatte sie halb ängstlich, halb mitleidig auf den jungen Mann geheftet. Sie war nach Art der übrigen Mädchen gekleidet. Ein Lendentuch aus farbigem Kattun schloß sich ihr dicht um die Hüften und reichte bis auf die feingeformten Knie. Ein anderes Tuch hing nur lose über die linke Schulter und war auf der rechten mit einem Knoten locker zusammengehalten. Der rechte Arm war vollkommen nackt und frei. In den kräftigen Locken trug sie einen dünnen Kranz weißer und roter Blüten, von den Fasern der Kokosblätter zusammengebunden. In den Ohren befanden sich zwei der großen weißen, duftenden Sternblumen. Wie sie dort stand auf dem brüchigen Stein, um das sich dicht hinter ihr die dunklen Büsche schmiegten, den linken Arm um die dünne Kasuarine geschlungen, glich sie eher einer aus dem Dickicht getretenen Waldnymphe als einem Kind dieser Inseln.

René war zunächst zu sehr mit seiner gefährlichen Lage beschäftigt gewesen, um einzelne Gestalten näher betrachten zu kennen. Besonders die Männer hatte er bei ihrer Beschäftigung beobachtet, um einem plötzlichen Angriff vorzubeugen. Jetzt aber überwog sein Leichtsinn über der geringer erscheinenden Gefahr. Er fühlte das Eigentümliche, Interessante seiner Lage. Während das Blut in seine Wangen zurückkehrte und ein leichtes Lächeln über sein Gesicht flog, sah er sich nach den einzelnen Gruppen um. Da begegnete sein Blick zum erstenmal dem dunklen Augen des Mädchens.

Sie sah verschämt zu Boden. René konnte auf ihrer lichtbraunen, zarten Haut deutlich das dunkle Erröten erkennen. Gerade jetzt wurde aber seine Aufmerksamkeit wieder auf die Männer gelenkt, die sich ihm näherten und sich noch einmal erkundigten, ob er gutwillig zu ihnen heruntersteigen wolle oder nicht.

»Gewiß!« rief René jetzt freudig. War es schon früher seine Absicht gewesen, so hatte ihn die Gestalt des bezaubernden Mädchens nur noch darin bestärkt. »Gewiß will ich herunterkommen und bei euch bleiben. Aber ihr müßt mir versprechen, daß ihr mich nicht festhalten und gefangennehmen wollt. Freiwillig komme ich zu euch, und freiwillig werde ich bei euch bleiben. Das Schiff, das mich zurückforderte, hat die Insel verlassen, um nicht wieder zurückzukehren. Wenn ihr mir also fest und aufrichtig Sicherheit für mich versprecht, so komme ich sofort zu euch herunter, und ich hoffe, wir werden gute Freunde. Seid ihr einverstanden?«

Raiteo hatte die Worte des jungen Matrosen übersetzt, und jetzt besprachen sich die Insulaner kurze Zeit laut und lärmend. Dann wandte sich Raiteo wieder zu ihm und sagte, freundlich mit der Hand winkend:

»Gut, weißer Mann – a haere mai – sei willkommen und bleib bei uns, bis dein Schiff zurückkommt oder so lange du willst!«

»Sehr schön, das ist ein Vorschlag zur Güte, und die Sache löst sich freundlicher, als ich erwarten konnte!« rief der junge Franzose. Dabei schob er seine Pistolen in die Tasche, drückte sich die Mütze wieder in die Stirn und wollte sich eben über die kleine Steinmauer schwingen, als ihn ein Ausruf in englischer Sprache zurückhielt. Überrascht und verwundert sah er auf.

Es war das junge Mädchen, das ihm mit ausgestrecktem Arm zurief: »Halt, Fremder, halt! Sie sind falsch! Sie wollen dich binden und festhalten! Du sollst dem Schiff ausgeliefert werden, das schon Lösegeld für dich zurückgelassen hat! Traue ihnen nicht und bleib, wo du bist, bis dich der König selbst unter seinen Schutz nimmt!« Dann wandte sie sich zu den anderen. Raiteo war bestürzt, denn er hatte als einziger verstanden, was sie dem Fremden zugerufen hatte. Jetzt rief sie ihm mit zürnender, fast drohender Stimme in der schönen, klangvollen und melodischen Sprache ihres Stammes zu: »Schäme dich, ahina! Schämt euch alle, den armen hutupanutaidie an den Strand gespülte hutu-Nuß – oder auch, in der bilderreichen Sprache des Stammes, der an die Küste geworfene Fremde ohne Verwandte und Freunde verräterisch herunterzulocken und überfallen zu wollen! Wo sind seine Verwandten, seine Eltern, seine Geschwister? Weit, weit weg von hier, und nur wegen der Fangprämie wollt ihr ihn seinen Feinden ausliefern! Ihr nennt euch Christen? Ihr prahlt damit in den öffentlichen Versammlungen, daß ihr euren Nächsten lieben wollt wie euch selbst und anderen nicht das zufügen wollt, was euch nicht selbst geschehen soll! Schämt euch in eure Seele hinein, daß euch ein junges Mädchen zurechtweisen und eure Ehre vor einem Fremden retten muß!«

Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen und bemerkt, wie alle Blicke an ihr hingen, überkam sie wieder ihre Scheu. Das Blut schoß ihr ins Gesicht, und mit niedergeschlagenen Augen glitt sie in die Büsche zurück, als wäre sie im Unrecht gewesen. Im nächsten Moment war sie auch schon hinter dem Felsenhang verschwunden.

René, der bei dieser Warnung rasch seine Stellung wieder eingenommen hatte, betrachtete mit gezogenen Waffen und finsterem Blick die verlegen stehende Schar. Ihr Verhalten zeigte ihm deutlich, daß die Anschuldigung zu Recht bestanden hatte. Besonders Raiteo, der bei den sonntäglichen religiösen Veranstaltungen eine Hauptrolle spielte, schien sich am stärksten über den verletzenden Vorwurf zu ärgern. Die Mädchen und Frauen flüsterten lebhaft untereinander, und aus den freundlich nach oben gerichteten Blicken konnte René erkennen, daß er den schönen Teil seiner Feinde bereits für sich gewonnen hatte. Die Frauen der Insel waren mit dem Verhalten des jungen Mädchens vollkommen einverstanden.

Die Männer berieten sich eine ganze Zeitlang miteinander, sahen dann wieder nach dem Schiff aus, das allmählich im Westen verschwand, und schienen völlig ratlos zu sein. So verging der Nachmittag. René beschloß, nichts zu unternehmen, bis das Schiff völlig aus der Sicht war. Zeigten sich die Insulaner dann immer noch so hartnäckig, dann wollte er versuchen, ein Kanu zu erreichen und von der Insel zu fliehen. Es war ihm nach den Worten des Mädchens klargeworden, daß der »Delaware« auf jeden Fall zurückkommen würde. Das hing zwar von dem Verlauf des Fangzuges ab, denn solange er den Wal längsseits hatte, konnte er nicht segeln und trieb immer weiter nach Westen ab. Aber zurückkehren würde er wohl schließlich doch.

Inzwischen stellten sich Hunger und Durst ein, und um den Insulanern zu zeigen, daß er keine Furcht hatte und noch einen ganz guten Appetit besaß, setzte er sich oben auf sein Befestigungswerk und begann die hinausgeschobene Mahlzeit nachzuholen.

Erst als es Abend wurde, verließen ihn die Insulaner, und zwar ohne weiter mit ihm zu verhandeln. Niemand blieb zurück, und René hatte nur die Sorge, daß sie zurückgeschlichen kämen, wenn er eingeschlafen war. Einen derartigen Versuch würde der Feind aber erst in der Nacht machen, und um seine Kräfte nicht unnötig zu überanstrengen, beschloß er, nach Einbruch der Dunkelheit eine Stunde zu schlafen. Sein Bündel schob er sich als Kopfkissen zurecht. An der leicht zu ersteigenden Seite hatte er vorher einen lockeren Stein so plaziert, daß er bei der leichtesten Berührung herabfallen mußte. Dann warf er sich mit sorgloser Ruhe auf den harten Boden und schlief bald darauf ein.

Hätten die Insulaner vorgehabt, ihn in der Nacht zu überwältigen, wäre ihnen das leichtgefallen. Lange nach Mitternacht berührte eine leichte Hand seine Schulter, ohne daß er erwacht war.

»Fremder«, sagte eine sanfte, weiche Stimme, und das junge schöne Mädchen legte ihre kalten Finger an seine heiße Stirn.

»Ja«, sagte René, schlug die Augen auf und sah sich erstaunt um. »Ja, schon acht GlasenSchiffsausdruck, vom Stundenglas entstanden. Bedeutet jetzt die verschiedenen Schläge der Wachuhr, die alle vier Stunden mit eins beginnt und jede halbe Stunde einen Schlag hinzufügt. ?« Die kalte Nachtluft strich über ihn, das Laub des Waldes rauschte, und die hellen, funkelnden Sterne blickten klar auf ihn herab. In dem Moment schoß ihm auch die ganze Gefahr seiner Lage durch den Kopf, und rasch emporspringend riß er die Pistolen heraus und erwartete einen Angriff.

»Du bist eine gute Wache!« lachte das junge Mädchen, das ruhig neben ihm stehengeblieben war. »Wenn du so über die Dinge anderer Leute wachst wie über deine eigene Sicherheit, würde ich dir noch nicht einmal eine Banane anvertrauen!«

René faßte sich an die Stirn. Er wußte im ersten Augenblick nicht, ob er wachte oder träumte. Das Fremdartige seiner Umgebung, das schöne, lachende Mädchen dicht vor ihm, das Bewußtsein drohender Gefahr und seine noch schlaftrunkenen Sinne mußte er erst einmal sammeln, bis er seine Lage richtig begriff.

Das Mädchen stand mit untergeschlagenen Armen und fest zusammengepreßten Lippen vor ihm. Jetzt sagte sie, halb lachend, halb erstaunt: »Bist du nicht ein merkwürdiger Mensch, Fremder? Schläfst hier mitten zwischen deinen Feinden, als ob du im sicheren Haus unter deinen Freunden bist und kein Preis auf deine Gefangenschaft ausgesetzt ist!«

»Konnte ich nicht ruhig schlafen, wenn ein solcher Schutzgeist über mich wacht?« erkundigte sich René lächelnd und streckte ihr die Hand entgegen. Sie aber trat einen Schritt zurück und deutete mit ernstem Blick nach oben.

»Du hattest einen Schutzgeist, der über dich wacht. Aber es ist das Auge Gottes, das jedes deiner Haare gezählt hat und ohne dessen Willen nicht eins davon zu Boden fällt. Ihm danke für deine bisherige Sicherheit, nicht mir!« Dann setzte sie freundlicher hinzu: »Aber komm, Fremder, nimm deine Sachen auf und folge mir, ich will dich, bevor böse Menschen im Tal neue Pläne schmieden können, an die andere Seite der Insel bringen. Dort steht das Haus eines frommen Mannes, das dich schützen wird, bis dein Schiff die Gegend verlassen hat. Später kannst du nach Tahiti gehen, wo viele deiner Landsleute leben, und dort bist du in Sicherheit.«

René wurde bei diesen Worten völlig munter und erkundigte sich, ob er auch den Proviant mitnehmen sollte. »Wir finden genug auf unserem Weg, iß und trink, was du jetzt magst, den Rest laß hier zurück.«

»Dann wird sich mein Dolmetscher die Reste als kleines Andenken mitnehmen können. Der alte Bursche wird sich schön ärgern, wenn das Nest leer ist!«

»Sprich nicht so leichtsinnig über die Gefahr, der du noch lange nicht entgangen bist!« antwortete das Mädchen. »Ich kann nichts für deine Sicherheit tun, sondern dich nur zu jemand führen und ihn bitten, dir zu helfen. Er ist selbst ein Weißer und ein Diener des Herrn und wird sicher alles für dich tun, was er kann. Er ist aber doch auch nur ein Mensch und kann dir eben nur seinen Schutz anbieten.«

»Ein Weißer? Und ein Diener des Herrn?« sagte René rasch und nachdenklich. »Also ein Missionar?«

»Ja, ein Missionar!« bestätigte das Mädchen. »Er hat mich erzogen und mir seine Sprache und seine Religion beigebracht. Er ist ein stiller, friedlicher und guter Mann.«

René blieb nachdenklich stehen. Alles, was er in seinem katholischen Heimatland über die protestantischen Missionare dieser Inseln gehört hatte, ging ihm im Kopf herum. Durfte er noch freundliche Aufnahme erwarten, wo er Katholik war und ein entlaufener Matrose? Aber er war nicht der Mensch, sich voreilig unnötige Sorgen zu machen, und so rief er fröhlich aus:

»Nun gut, wohin du mich führst, will ich dir folgen, und sei es in den Tod. Hier kann ich doch nicht bleiben, die Bequemlichkeiten sind nicht besonders, und sonst stöbert mich vielleicht der alte Bursche von Dolmetscher wieder auf. Also vorwärts, du liebe Retterin. Welchen Namen hast du eigentlich, wie soll ich dich nennen?«

»Meine Landsleute nennen mich Sadie, nach einem der freundlichen Sterne dort oben. Aber mein Pflegevater fand den Namen heidnisch, und deshalb heiße ich jetzt Prudentia. Nur die Insulaner können das nicht gut aussprechen und nennen mich deshalb lieber mit meinem alten Namen.«

»Oh, ich möchte dich auch Sadie nennen, denn du bist mir auch ein freundlicher Stern geworden, dem ich gerne folgen will. Prudentia – lieber Gott –, der Name paßt zu einer würdigen Ehefrau oder Mutter, aber deinen Namen zu verändern, heißt die Saiten einer Harfe zu zerreißen und dafür Bindfäden zu spannen. Nein, Sadie, leuchte mir, und ich will dir wie einem Stern folgen.«

Das junge Mädchen hörte wohl insgeheim den alten Namen ebenfalls lieber und erwiderte jetzt nichts weiter. Wie eine Gemse kletterte sie den ziemlich steilen Hang hinunter. Dabei wich sie René aus, der sie bei der Klettertour unterstützen wollte. Bald darauf hatte er Mühe, ihr zu folgen.


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