Friedrich Gerstäcker
Tahiti
Friedrich Gerstäcker

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34. René und Susanne

Als René das Bewußtsein wiedererlangte und die Augen aufschlug, lag er unter einem hohen Moskitonetz in einem halbdunklen Zimmer. Wie im Traum hörte er, daß sich zwei leise im Zimmer unterhielten. Er fühlte sich merkwürdig schwach und wollte sehen, wo er war. Als er den rechten Arm hob, durchzuckte ihn ein stechender Schmerz, und mit halblautem Schrei fiel er fast besinnungslos zurück.

Das Netz wurde zurückgeschoben, jemand nahm seine Hand und fühlte seinen Puls.

»Der Puls geht regelmäßiger, Mademoiselle, ich hoffe das beste für unseren Freund.«

»Ist er wach?« sagte eine Stimme, die das Blut des Kranken beschleunigt durch die Adern jagte.

»Sieh da«, sagte der Arzt. »Unser Patient hat ausgeschlafen und sieht sich frisch und munter in der Welt um. Wie geht es, Monsieur Delavigne? Haben Sie Schmerzen?«

»Nein... ja... hier in der Schulter... wer ist noch im Zimmer?«

»Ihre Pflegerin, der Sie großen Dank schulden, Monsieur. Sie haben uns die letzten elf Tage viel Sorgen gemacht.«

»Wieso elf Tage?« wiederholte René erstaunt. »Aber wer ist noch hier?«

»Bleiben Sie ruhig, Herr Delavigne!« sagte da eine leise, ihm gut bekannte Stimme.

»Susanne«, flüsterte er mit kaum hörbarer Stimme vor sich hin, und ein glückliches Lächeln legte sich über seine bleichen Züge. Aber die Aufregung war zu viel für den geschwächten Körper. Mit geschlossenen Augen sammelte er mehrere Minuten seine Kräfte. Als er dann die Augen wieder aufschlug, war er allein mit dem Arzt.

»Sie dürfen noch nicht reden, Monsieur Delavigne! Sie sind viel zu schwach und können durch jede Aufregung Schaden...«

»Aber, lieber Doktor...«

»Ruhe«, lächelte er. »Ich kann mir denken, was Sie fragen wollen, und werde Ihnen deshalb kurz erzählen, was während der letzten elf Tage vorgefallen ist.«

»Elf Tage?«

»Ja, heute ist der elfte Tag. Um Sie zu beruhigen, unsere Position hier ist gesichert. An dem Morgen, an dem Sie verwundet wurden, kam die ›Uranie‹ und schickte ihre Boote an Land. Mit deren Hilfe haben wir den Feind wieder in die Berge getrieben. Am nächsten Tag liefen noch zwei andere Kriegsschiffe ein und brachten Verstärkung und Verpflegung. Die Insulaner haben sich jetzt in Papeeneo und im Hautauetal verschanzt, bis wir sie dort auch verjagen.«

»Ist Utami gefangen?«

»Utami, der Anführer der Rebellen? Nein, der hat sich tüchtig herausgehauen und Ihrem Freund Bertrand ebenfalls noch ein Andenken über den Schädel hinterlassen, an dem er noch ein paar Monate zu tragen hat. Schlimmer ist Lefevre betroffen. Von seinem Trupp ist keiner zurückgekehrt, und ihre Leichen lagen oben zerstreut in den Bergen. Nur von Lefevres Leiche war keine Spur zu finden. Er müßte höchstens in einem frisch aufgeworfenen und mit Blumen geschmückten Grab liegen, das wir mitten auf dem Kampfplatz fanden. Aber wer sollte sich die Mühe gegeben haben, gerade ihn so sorgfältig zu beerdigen, wo alle anderen noch lagen, wo sie gefallen waren?«

»Aumama«, flüsterte René, und ein tiefer Seufzer hob seine Brust.

»Für heute haben Sie aber genug Aufregung gehabt. Jetzt schlafen Sie ein paar Stunden, um sich wieder zu erholen. Ich komme gegen Abend und erneuere den Verband.«

»Aber wo bin ich verwundet?«

»Fragen Sie lieber, wo Sie nicht verwundet sind!« lachte der Arzt. »Schrammen und Beulen haben Sie am ganzen Körper. Die Hauptsache ist aber der Schuß in die Schulter. Aber er hat nichts zu sagen, halten Sie sich ruhig und von jeder geistigen Aufregung fern, denn körperlich bewegen können Sie sich sowieso nicht. Wir werden Sie bald genug wieder zusammenflicken.«

Er verließ mit kurzem Gruß das Zimmer. René fiel in einen leichten, unruhigen Schlaf. Als er wieder erwachte, war es Nacht. Ein mattes Licht brannte im Zimmer. Neben seinem Bett hörte er die schweren, regelmäßigen Atemzüge seines schlafenden Wärters. Er hatte Durst und streckte seinen linken Arm aus, um den Schlafenden zu wecken.

»Aye, aye!« rief der aufspringend aus. »René, bist du munter? Wie geht es dir, alter Kerl?«

»Adolphe! Das ist nett von dir, daß du hier wachst.«

»Ich glaube eher, ich habe geschlafen!« lachte der Freund. »Brauchst du etwas?«

»Ich bin durstig.«

»Hier ist etwas für dich. Frische Kokosmilch und Himbeerwasser, das wird dir guttun.«

»Ich danke dir. Schön, dich zu sehen!« sagte René herzlich.

»Alle Kameraden haben abwechselnd bei dir gewacht. Sie mögen dich alle, und wer dich nicht kannte, bewunderte deinen tollkühnen Mut. Mensch, du hast ein fabelhaftes Glück. Ich glaube, du könntest von einem Kirchturm herunterspringen und kämst gesund auf die Füße.«

»Nennst du den Schuß ein Glück?«

»Wenn ich dadurch das schönste Mädchen, das ich kenne, als Krankenschwester bekäme, ließ ich mich hinschießen, wohin du willst!« sagte Adolphe und lachte. »Die kleine, niedliche Madame Belard ist auch mehr in deinem Zimmer als in ihrem eigenen gewesen.«

»Ich liege hier also bei Belards?«

»Versteht sich. Sie haben dich aufgenommen und gepflegt wie ein Kind des Hauses. Monsieur Belard hat übrigens selbst mitgekämpft.« Adolphe lachte. »Da sind herrliche Sachen passiert! Aber das erzähle ich dir alles später, wenn du dich wieder richtig ausschütten kannst vor Lachen, ohne daß es dir weh tut. Schmerzt deine Wunde?«

»Nicht sehr, aber ich kann den Arm nicht bewegen. Er ist doch nicht gebrochen?«

»Nein, aber es war ein böser Schuß und hätte nicht einen Zoll tiefer kommen dürfen.«

»Wer weiß«, seufzte René leise und schloß die Augen.

Adolphe nahm an, daß er schlafen wollte, und schattete das Licht ab. Leise setzte er sich wieder auf seinen Stuhl, als René seinen Namen rief.

»Möchtest du noch etwas, René?«

»Hast du mit dem Arzt über meine Wunde gesprochen?«

»Ja, und ich kann dir versichern, daß sie zwar langwierig sein wird, aber keineswegs lebensgefährlich.«

René lag wieder eine ganze Zeit still und sagte dann:

»Und wann glaubt er, kann ich nach Atiu geschafft werden?«

»Nach Atiu?« wiederholte Adolphe verwundert. »Mensch, hast du Fieber, daß du jetzt an Atiu denkst, wo der Arzt noch fast ständig bei dir sein muß? Wenn dir die Fahrt auch nichts schaden würde, wie willst du dich da ohne ärztliche Hilfe erholen?«

»Aber Sadie wird sich um mich ängstigen«, sagte René.

»Ich habe daran gedacht und wollte ein paar Zeilen an sie schicken, aber es gab noch keine Gelegenheit dazu. Erst in acht Tagen soll der Missionskutter hinübergehen.«

»Ich danke dir, Adolphe. Jetzt will ich schlafen, ich bin noch immer ziemlich matt und angegriffen.«

 

Die Sonne stand am nächsten Morgen schon hoch, als René erwachte. Der Arzt hatte nach ihm gesehen und wollte in einer Stunde wiederkommen. René fühlte sich heute wesentlich frischer als gestern, und auch die Schulter schmerzte nicht mehr so stark. Da kam Madame Belard herein und machte ihm auf ihre freundliche Art Vorwürfe. Als sich René nach Mademoiselle Lewis erkundigte, mußte er erfahren, daß sie nach Imeo gefahren war, um dort Freunde zu besuchen. Sie hatte den Besuch extra aufgeschoben, bis es René wieder besser ging. Sie wollte nicht lange wegbleiben, denn ihre Abreise nach Europa stand bevor. Das erste französische Kriegsschiff, das wieder zurückfuhr, sollte sie mitnehmen.

René äußerte den Wunsch, Sadie eine Nachricht zukommen zu lassen, und Madame Belard erklärte ihm gleich, daß an eine Reise nach Atiu nicht zu denken sei, auch wenn ihn dort Sadie noch besser pflegen würde. Madame Belard erriet aber auch seine Gedanken.

»Sie möchten, daß Sadie hierherkommt, nicht wahr?«

»Ja, aber halten Sie mich deshalb nicht für undankbar. Es ist nicht, weil ich glaube, daß ich in Ihren Händen weniger gut aufgehoben hin...«

»Nein, nein, lieber Delavigne!« sagte die kleine Frau gerührt. »Sie haben vollkommen recht. Sadie soll herüberkommen, sobald sie nur kann. Ich will noch heute an sie schreiben, damit der Brief bei passender Verbindung hinübergehen kann. Wo kann ich etwas darüber erfahren?«

»Im Hauptquartier und im Missionsgebäude«, sagte René. »Die Missionare unterhalten doch eine ziemlich regelmäßige Verbindung zu den Inseln.«

»Mein Mann soll sich gleich morgen danach erkundigen. Sind Sie nun beruhigt?«

René streckte der freundlichen Frau mit einem dankbaren Lächeln seine Hand entgegen. Dann sank er erschöpft auf sein Lager zurück.

Es vergingen acht volle Tage, ehe wirklich eine wesentliche Besserung im Zustand seiner Wunde eintrat. Nach Atiu gab es noch immer keine Verbindung, aber in etwa drei Tagen sollte der Missionskutter abgehen. Madame Belard wartete auf die Ankunft des Geistlichen, der sich seit längerer Zeit in dem Lager der Eingeborenen im Hautauetal aufgehalten hatte. Sie wollte ihm den Brief selbst übergeben.

Am anderen Morgen kam Madame Belard früher als sonst zu dem Kranken, um seinen Verband zu wechseln.

»Delavigne, ich bringe Ihnen heute lieben Besuch. Werden Sie sich kräftig genug fühlen, um ihn zu empfangen?«

»Fräulein Lewis?« sagte René leise.

»Susanne ist schon seit gestern wieder zurück. Die ›Jeanne d'Arc‹ sollte übermorgen segeln, hat aber heute wieder andere Befehle erhalten und soll bis zum Eintreffen der ›Reine blanche‹ liegenbleiben. Du Petit Thouars will ihr wohl die Meldung über den Sieg gleich mitgeben, aber die Eingeborenen lassen sich noch nicht besiegen.«

»Und Fräulein Lewis?«

»Kann doch unmöglich so lange hier im Haus bleiben, ohne sich selbst von Ihrer Besserung zu überzeugen. Darf sie eintreten?«

»Madame!«

»Gut, ich schicke sie Ihnen. Ich muß sowieso zu den Brouards. Sprechen Sie nur sowenig wie möglich, und lassen Sie lieber die junge Dame erzählen. Wenn Sie nach Europa schreiben wollen, können Sie ihr diktieren. Es wird die nächste Gelegenheit zur Postbeförderung sein. Ich denke, in einer Stunde bin ich wieder bei Ihnen.«

Sie verließ rasch das Zimmer, und René lag mit klopfendem Herzen und schlagenden Pulsen. Mit jedem Tag hatte er ihre Rückkehr sehnlicher erhofft. Aber je mehr er seine Gefühle in seinem Inneren verschließen mußte, um so mehr hatte er sich auch vor dem Tag gefürchtet. Der Gedanke an Sadie erfüllte ihn mit einem bitteren Schmerz. Aber noch war Rettung möglich. Nur wenige Wochen oder Tage vielleicht trennten ihn von ihr und Atiu, und die Welt lag abgeschlossen hinter ihm. Im Bewußtsein erfüllter Pflicht würde er vergessen, daß er ein Leben wie an einen Traum weggeworfen hatte. Da kam leichter Schritt die Treppe herauf, und Susanne trat schüchtern ein. Schweigend streckte er ihr die Hand entgegen.

»Sie haben sich lange meinem Dank entzogen«, sagte er mit einem leichten Vorwurf in der Stimme.

»Wie fühlen Sie sich? Schon besser? Sie sehen noch sehr blaß und angegriffen aus.«

»Jetzt ist mir sehr wohl, und auch wieder sehr weh, denn die Wunde sitzt zu tief.«

»Die Zeit wird sie heilen, René«, hauchte Susanne und drehte ihr Gesicht zur Seite, um ihre Bewegung nicht zu zeigen. Sie kannte die Gefahr, in die sie beide durch ihre unausgesprochenen Gefühle geraten waren. Wollte sie früher darüber lachen, so hatte sie ihr eigenes Herz vergessen.

»Sie sind Hauptmann geworden«, sagte sie schließlich. »Sie müssen ja auch mit einer besonderen Tapferkeit gekämpft haben. Monsieur Bertrand konnte uns nicht genug davon erzählen.«

»Bertrand ist mein Freund«, sagte René. »Es hat ihm selber Freude gemacht, etwas Günstiges über mich zu sagen. Ich tat nicht mehr als alle anderen.«

»Na, das ist wohl nicht ganz so. Man behauptet sogar, daß Ihrem Angriff es zu verdanken ist, daß man die Wilden von der Erstürmung des Arsenals abhalten konnte. Die Eingeborenen, die keine Ahnung von der Macht des Pulvers haben, hätten das Haus bestimmt angezündet. Aber Sie sehen angegriffen aus, Delavigne, Sie brauchen Ruhe, und ich fürchte, ich habe Sie durch mein Schwatzen nur aufgeregt. Ich lasse Sie jetzt allein. Aber solange ich noch hier hin, erlauben Sie mir, daß ich wieder Ihre Pflege übernehme, bis liebere Hände mich ablösen.«

Damit verabschiedete sie sich und ließ den Kranken wieder mit seinen Träumen allein.

Susanne übernahm jetzt wieder seine Pflege, war aber nie mehr mit ihm allein. Mit Adolphes Hilfe hatte René einen Brief geschrieben. Er schilderte Sadie seinen Unfall und bat sie, den zurückkehrenden Missionskutter zu benutzen und mit dem Kind nach Papeete zu kommen, wenn sie sich um ihn ängstigte. Sonst wäre er auch in einigen Wochen selber in der Lage, nach Atiu zu kommen. Trotz Adolphes Kopfschütteln entschuldigte er sich bei ihr, daß er gegen ihre Landsleute gekämpft hatte, weil sie ihn dazu gezwungen hatten. Aber er würde nicht Soldat bleiben, sondern nach Atiu zurückkehren.

Mit dem Brief wurde ein junger Bursche in das Missionshaus geschickt und sollte einen der ehrwürdigen Herren dort bitten, den Brief nach Atiu mitzunehmen.

Mr. Rowe, der sein früheres Amt wieder aufgenommen hatte und eben nach Atiu wollte, erhielt den Brief.

Mit zusammengezogenen Brauen las er die Adresse: »An Madame Sadie Delavigne. Und der Brief wurde dir für mich von Herrn Delavigne gegeben?«

»Für den Mitonare, der nach Atiu ginge«, sagte der Bursche etwas bestürzt, »wenn es nicht recht ist, nehme ich ihn wieder mit.«

»Es ist recht«, sagte der Geistliche nach kleiner Pause. »Der Brief ist in guten Händen. Ist der Verwundete bald wieder hergestellt?«

»Ai ta vau i ite, mi-to-na-re, er liegt noch im Bett, böse Wunde, Mitonare«, sagte der Insulaner achselzuckend.

Der Geistliche nickte mit dem Kopf, und der Eingeborene schoß erleichtert wie ein Blitz aus der Türe.

 

Zwei Wochen waren inzwischen vergangen. Renés Wunde hatte sich so weit gebessert, daß er wieder umherlaufen konnte. Er trug den Arm noch in der Binde, und der Arzt hatte schon mehrfach bedauert, daß er nicht die europäischen Bäder aufsuchen konnte. Er hoffte auf vollständige Herstellung, erklärte aber aufrichtig, daß die Genesung noch sehr langwierig sein würde.

Zu gleicher Zeit war der Missionskutter von Atiu zurückgekehrt, hatte aber nur einen der eingeborenen Missionare von einer anderen Insel mitgebracht. Auch kein Brief von Sadie war dabei. René konnte sich ihr Schweigen nicht erklären. Er sehnte schon die Zeit herbei, die ihn endlich der jetzigen Qual entheben würde und Ruhe bringen sollte.

In diesen Tagen wurde von Osten her ein Dampfer signalisiert und lief noch am gleichen Abend in den Hafen ein. Er brachte die Post von Frankreich – Briefe aus der Heimat. Diese Nachricht tut doch dem Herzen des fremden, wegemüden Wanderers richtig wohl. Briefe aus der Heimat – die lieben, so lang entbehrten Zeilen von lieber Hand... René saß schwermütig in seinem Zimmer und starrte aus dem Fenster. Vor ihm lag ein offener Brief.

»Daß die verdammte Kugel nicht einen Zoll tiefer traf, wie Adolphe sagt«, murmelte er dabei leise vor sich hin. »Jetzt wär's vorbei... im kühlen Grab läge ich still und friedlich, und Sadie würde um mich weinen und dann glücklich unter ihren Palmen weiterleben. Arme Sadie, der alte Osborne hatte recht, nur daß diese Warnung jetzt zu spät für uns beide kommt. Da stehe ich jetzt am Ziel von allem, was ich in früherer Zeit angestrebt habe, und bin ich glücklich? Elend bin ich, wie ein altes Rennpferd mit zerschnittenen Flechsen, das nur das Wiehern der Kameraden hört und nicht mehr mitlaufen kann.«

»Hallo, René, so trüb und traurig allein?« rief eine fröhliche Stimme, und Adolphe stand vor ihm. »Schlechte Nachrichten in dem Brief? Du machst ein Gesicht wie damals, als wir zusammen an der Reling des ›Delaware‹ standen. Willst du wieder desertieren?«

René wandte den Kopf halb ab und reichte ihm die linke Hand. Die Erinnerung an die damalige Zeit hatte ihm wieder einen Stich versetzt. Der Brief bot ihm Gelegenheit, das Gespräch in eine andere Richtung zu wenden.

»Unangenehme Geldangelegenheiten, Adolphe«, sagte er und reichte ihm den offenen Brief hin. »Da, lies selbst.« Adolphe nahm den Brief und überflog ihn. Dann sagte er achselzuckend:

»Das läßt sich denken. In der Heimat treiben sie jetzt mit deinem Geld, was sie wollen. Wäre ich an deiner Stelle, würde ich das nächste Schiff nehmen und zu Hause die Sache selbst regulieren. Von hier aus kannst du schreiben, soviel du willst. Eine einzige Woche an Ort und Stelle richtet mehr aus als eine jahrelange Korrespondenz. Du schlägst ja auch gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Ohne richtige Pflege kann es dir passieren, daß dein Arm lebenslang steif bleibt. Jetzt ist es vielleicht noch Zeit, mit warmen Bädern vorzubeugen. Du hättest auch Gelegenheit, mit dem gleichen Schiff zu fahren wie die Brouards.«

Von dem Gedanken getroffen, sprang René von seinem Sitz auf und ging mit raschen Schritten im Zimmer auf und ab. »Zurück nach Frankreich? Mit... nein, nein!« rief er dann hastig, als ob er befürchtete, der Versuchung nicht widerstehen zu können. »Zurück nach Frankreich? Nein, das geht nicht. Und wenn ich nur zu Besuch...? Sadie... Sadie!« murmelte er leise und wie beschwörend vor sich hin.

»Was hindert dich, deine Frau mitzunehmen?« sägte Adolphe, der die geflüsterten Worte verstanden hatte. »Es wäre zugleich eine Prüfung für dich für spätere Zeiten.«

»Nein, Adolphe. Nie im Leben würde sich Sadie dort wohl fühlen, und auch ich nicht mit ihr. Sie würde verkümmern wie eine Treibhauspflanze, die man aus dem heimischen Boden gerissen hat. Und dann zugleich mit... Brouards!«

»Es wäre eine so schöne Gelegenheit, wie du sie dir nur wünschen könntest!«

»Ja, das stimmt, und doch – es geht nicht. Auch gäbe Sadie nie ihre Einwilligung dazu... und... die Reise mit dem Kind!«

»Ach, das sind Kleinigkeiten, wenn man sonst fest will. Aber das mach mit dir allein aus. Dabei bleibt dir noch nicht einmal viel Zeit, denn heute wurde schon ein Schiff signalisiert, das wahrscheinlich die ›Reine blanche‹ ist.«

»Jetzt schon?« rief René rasch.

»Du machst mir Spaß! Seit drei oder vier Wochen wird sie stündlich erwartet, und man munkelte schon, daß sie in einem Taifun schweren Schaden erlitten hätte. Du sagst da ›jetzt schon‹! Dir muß die Zeit sehr schnell verflogen sein. Aber ich muß los, René, der Gouverneur erwartet mich. Gegen Abend sehe ich dich wieder, überleg es dir bis dahin.«

René schüttelte langsam und ernst den Kopf, während Adolphe das Zimmer verließ. Gleich unten an der Tür traf er Leutnant Bertrand. Gemeinsam schlenderten sie die Straße hinunter.

Das signalisierte Schiff war tatsächlich die »Reine blanche«, die etwa zwei Stunden später in den Hafen einlief. Der Admiral kam an diesem Tag nicht an Land. Er empfing die Depeschen aus Frankreich an Bord und schrieb dann bis spät in die Nacht hinein. Am anderen Morgen hatte er eine lange Konferenz mit dem Gouverneur, und die »Jeanne d'Arc« bekam den Auftrag, sich für den nächsten Tag segelfertig zu machen. Zu seinem Erstaunen erhielt René eine Einladung, an Bord des Admiralsschiffes zu kommen, wo Du Petit Thouars ihn in einer wichtigen Angelegenheit zu sprechen wünschte. Er folgte der Einladung und traf dort außer dem Gouverneur Bruat die Herren Belard und Brouard sowie mehrere französische Offiziere, darunter Adolphe und Bertrand.

Bei seinem Eintritt sprach ihn der Admiral freundlich an.

»Lieber Hauptmann Delavigne, ich habe einen Auftrag für Sie, einen wichtigen Auftrag, an dessen geschickter und ehrlicher Ausführung mir sehr viel liegt und zu dem ich hier in Tahiti einen passenden Mann suchen wollte. Diese Herren hier haben alle einstimmig Sie vorgeschlagen. Auf diese ehrenvolle Empfehlung setze ich mein volles Vertrauen in Sie. Was sagen Sie dazu?«

»Ich erwarte Ihre Befehle zu hören«, sagte René, neugierig, auf was das hinauslaufen sollte.

»Ich habe Sie zu meinem Gesandten nach Paris ausersehen«, sagte der Admiral lächelnd. »Wollen Sie gehen ?«

»Herr Admiral!« sagte René überrascht, fast erschrocken.

»Ich will ganz aufrichtig mit Ihnen sein«, fuhr Du Petit Thouars fort, ohne ihn weiter zu Wort kommen zu lassen. »Ich habe mich schon gegen die Herren hier ausgesprochen. Nach den hiesigen Vorfällen werden nicht nur die Protestanten in Europa, sondern auch einige andere Leute, die mir nicht freundlich gesinnt sind, die Sache sehr zu unserem Nachteil auslegen. Wir werden den friedlichen Naturvölkern gegenüber als Barbaren hingestellt werden. Ich bezweifle auch nicht, daß die uns feindlich gesinnten Missionare alles unternehmen werden, um unsere Taten sehr schwarz und entsetzlich darzustellen. Um dem zu entgegnen, brauche ich einen Mann, der Zeuge der Ereignisse war und die Verhältnisse kennt. Er muß aber wie Sie unabhängig und unbeteiligt sein, bis die Selbsterhaltung ihn zum Kampf gezwungen hat. Ich verlange nichts weiter von Ihnen, als daß Sie der französischen Regierung meine Depeschen überbringen und dort alles so der Wahrheit gemäß schildern, wie Sie es hier gefunden haben.«

»Dieser ehrenvolle Auftrag...« stammelte René, und der Admiral fiel ihm ins Wort:

»Bietet Ihnen zugleich die Gelegenheit, sich von Ihrer Wunde vollständig zu erholen. Sie bleiben unter der Behandlung Ihres bisherigen Arztes, der natürlich mit seinem Schiff zurückfährt. Wenn ich recht unterrichtet bin, haben Sie ganz angenehme Gesellschaft unterwegs, die eine Seereise von vier Monaten schon ganz erträglich macht.«

»Lieber Delavigne, es wird Ihnen hier eine Auszeichnung geboten, zu der ich Ihnen gratulieren möchte. Sie werden von vielen darum beneidet!« sagte Monsieur Belard.

»Aber meine Frau!« rief René. »So ehrenvoll Ihr Vertrauen für mich ist, Herr Admiral, aber ich habe hier doch Pflichten zu erfüllen, die ich nicht vernachlässigen darf, wenn ich nicht in Ihrer eigenen Achtung sinken will.«

»Ich weiß, Sie haben ein einheimisches Mädchen geheiratet. Sie ist auf einer der Nachbarinseln? Machen Sie sich deshalb keine Sorgen. Die zehn oder zwölf Monate, die Sie abwesend sind, wenn Sie wirklich so rasch wieder zurückkommen wollen, soll sie unter unserem Schutz stehen.«

»Aber sie weiß kaum, daß ich verwundet bin, erwartet mich wahrscheinlich mit jedem Tag, und ich dürfte nicht eine solche Reise unternehmen, ohne sie vorher noch einmal gesprochen zu haben!«

»Auch das ließe sich vereinigen«, erwiderte der Admiral, dem daran gelegen schien, gerade den jungen Mann für seine Mission zu gewinnen. »Sagten Sie nicht, Atiu hieße diese Insel, Monsieur Belard?«

»Atiu ist der Name.«

»Gut, bei einer Reise von so vielen Monaten kommt es nicht auf einen einzelnen Tag und ein paar Seemeilen an. Die ›Jeanne d'Arc‹ soll Atiu anlaufen und kann dort vielleicht noch eine Ladung süße Kartoffeln und Brotfrucht an Bord nehmen, die hier nicht so leicht zu besorgen sind. Ist der Wind einigermaßen günstig, so behalten Sie da ein paar Stunden Zeit, sich von Ihrer Frau zu verabschieden. Hat das Ihre letzten Zweifel beseitigt?«

»Sie sind sehr gütig, Herr Admiral.«

»Schön, schön. Ich will Sie auch nicht drängen. Die Sache ist allerdings wichtig für Sie. Ich gebe Ihnen, ohne jetzt etwas von Ihnen zu verlangen, zwei Stunden Frist. Bis dahin muß ich aber eine entscheidende Antwort haben. In zwei Stunden also...« Er nahm seine Uhr heraus und sah nach der Zeit. »Etwa drei Viertel auf zwei Uhr – wir wollen zwei Uhr sagen, erwarte ich Sie wieder hier. Dann können Sie gleich mein Gast zum Essen sein. Bis dahin, auf Wiedersehen!« Damit winkte er René und den anderen freundlich zu und zog sich mit Kapitän Sinclair in seine Kajüte zurück.

»Mensch, René, das ist ein Triumph! Wenn du dir alles beim lieben Gott bestellt hättest, könnte es nicht besser ausfallen!« sagte Adolphe, als er mit René und Bertrand wieder im Boot saß. »Die zwei Stunden Bedenkzeit sind eine Ironie!«

»Was soll ich tun?« sagte René tief aufseufzend.

»Was du tun sollst? Zugreifen, und Gott auf den Knien dafür danken!« sagte Bertrand. »Ich bin glücklich, daß wir die Fahrt wieder nach Hause antreten können, und du stehst noch da und sinnst nach. René, René, wenn du dir diese Gelegenheit entschlüpfen läßt, bereust du es bestimmt. Die kehrt nicht wieder!«

»Ich weiß nicht, ob ich es mit meinem Arm wagen darf, eine so lange Reise zu unternehmen! Ich muß doch wenigstens den Arzt fragen.«

»Gehst du jetzt nach Hause?«

»Zumindest bald.«

»Gut, dann schick ich ihn dir in etwa einer halben Stunde. Ich weiß, wo er sich im Augenblick aufhält, und komme vielleicht selbst, um dich abzuholen.«

Monsieur Belard war mit seinem eigenen Kanu an Land gerudert und schon zu Haus, als René langsam die Treppe hinaufstieg. Der Kopf wirbelte ihm, und er wollte einfach auf sein Zimmer gehen. Aber Monsieur Belard hatte ihn kommen gehört und ließ ihm keine Zeit zum ruhigen Überlegen.

»Sie wollen wirklich desertieren, Delavigne?« rief ihm die kleine Frau schon auf der Schwelle entgegen. »Susanne zu gleicher Zeit, Brouards, das wird in Papeete eine Einöde werden! Aber bis wann werden Sie denn zurück sein?«

»Ich weiß noch nicht einmal, ob ich überhaupt gehe – ob ich gehen darf!« sagte tief aufseufzend der junge Mann. »Noch habe ich zwei Stunden Zeit zur Entscheidung.«

»Die arme Sadie wäre freilich übel dran, das würde ihr einen Schnitt im Inneren geben... oh, ihr Männer seid doch grausame, rücksichtslose Menschen«, sagte sie traurig.

»Du lieber Gott«, sagte entschuldigend Belard. »Er bleibt ja keine Ewigkeit fort und Geschäftsreisen gehen nun einmal dem häuslichen Leben vor. Wenn René nicht selber nach Frankreich geht, dann hin ich davon überzeugt, daß er auch sein Geld dort wahrscheinlich ganz verliert. Außerdem ist es aber auch nicht ganz einerlei, ob er hier lebenslänglich mit einem steifen Arm herumläuft oder sich in der Heimat in einem Bad auskurieren läßt.«

»Ist die Gefahr wirklich vorhanden?« erkundigte sich Madame Belard besorgt.

René zuckte die Achseln. »Nur Gott weiß es, mir aber schnürt es das Herz zusammen. Ich kann nicht gehen. Soll mir der Arm auf Lebenszeit gelähmt bleiben, soll das Geld verlorengehen, aber ich darf Sadie und mein Kind nicht so verlassen. Wenn ihnen während meiner Abwesenheit etwas zustößt, könnte ich nie wieder des Lebens froh werden.«

»Sie haben wohl recht«, seufzte Madame Belard. Ihr Mann sagte aber:

»Unsinn! Verjagen Sie diese dummen Gedanken. Ihr Schiff legt auf Atiu an, und dann werde ich selbst im nächsten Monat nach den Gesellschafts- und Cookinseln gehen, um meine Einkäufe zu erledigen. Dann verspreche ich Ihnen, daß ich dort vorfahren will. Hat Sadie Lust, so bringe ich sie zu uns herüber, und sie kann bei uns bleiben, bis Sie zurückkehren. Meine Frau wird sich doch jetzt einsam genug fühlen, wenn alle fort sind.«

»Sie kommt nicht her zu uns«, sagte die kleine Frau. »Ihr ist nicht wohl bei fremden Leuten, und ich wäre die letzte, die Delavigne zureden wurde, einen solchen Schritt zu tun. Er muß es selbst am besten wissen – und so ganz ohne Abschied!«

»Nun mach ihm nicht auch noch das Herz schwer, ich will ihm auch nicht zureden, aber er soll sich die Sache ruhig überlegen.«

»Ruhig überlegen!« sagte René. »Ruhig überlegen, wo mir das Herz zerrissen ist! Ich kann, ich darf nicht fort... Aber ich störe Sie hier. Ich werde in mein Zimmer gehen, wenn der Arzt kommen sollte, schicken Sie ihn bitte wieder weg. Ich werde ihn heute abend selbst aufsuchen.«

Um seine Bewegung zu verbergen, drehte er sich schnell ab und betrat sein Zimmer. Eine Stunde hatte er in dumpfem Nachdenken auf seinem Stuhl gesessen, als er leichte Schritte hörte. Zu seinem freudigen Schreck trat Susanne ein. Er hatte sie noch nie so schön gesehen. Ihr volles, kastanienbraunes Haar konnte kaum von dem seidenen Netz gehalten werden. Der schlanke Körper war in ein einfaches, dunkles Seidenkleid gekleidet, das ihrem Teint einen noch höheren Reiz verlieh. Ihre dunklen Augen hatten heute einen eigenen, wunderbaren Schmelz, der ihn zusätzlich verwirrte.

»Ich hatte mich so gefreut«, sagte sie leise. Ihre Stimme klang nach einer Mischung aus Unmut und Schmerz, voller getäuschter Hoffnungen. »Ich hatte geglaubt, daß wir Reisegefährten auf einer langen und sonst langweiligen Reise würden. Aber wie mir Marie eben sagt, haben Sie sich anders besonnen und können sich nicht auf die paar Monate von Atiu trennen.«

»O Susanne, seien Sie nicht grausam, haben Sie Mitleid, wenn nicht mit mir, so doch mit Sadie!«

»Mitleid?« sagte das schöne Mädchen kalt. »Sie scherzen wohl, Herr Delavigne. In welcher Art sollte ich Mitleid mit der... Insulanerin haben? Mitleid ist das falsche Wort. Wer hat Mitleid mit... aber was stehe ich da und schwatze«, brach sie rasch, fast ängstlich ab. »Ich habe noch so viel zu tun und will aber auch nicht böse auf Sie sein«, setzte sie freundlicher hinzu. »Ich habe Ihnen schon früher versprochen, Ihre Briefe für Sie nach Frankreich zu schreiben. Sie sollen mir heute abend diktieren. Wie geht es Ihrem Arm?«

»Gut – sehr gut!«

»Sie werden mich doch wohl in den ersten Tagen manchmal vermissen, und das ist einigermaßen eine Genugtuung. Ich kann Sie leider nicht anders strafen«, sagte das schöne Mädchen halb von ihm abgewandt.

»Susanne!«

»Schon gut... es ist alles vorbei. Heute abend erwarte ich Sie drüben zu unserer Korrespondenz. Ich muß jetzt gehen.«

»Susanne!«

»Auf Wiedersehen, Monsieur Delavigne!« Sie winkte ihm leicht mit der Hand zu und verließ das Zimmer.

René blieb im Zimmer stehen, seine Hand hatte die Augen bedeckt. Seine Stirn glühte, seine Glieder zitterten im Fieberfrost. Mechanisch griff er seinen Hut und stürmte ins Freie, an den Strand hinunter. Dort lag ein Boot.

»Gerade rechtzeitig, Monsieur!« rief der Bootsmann der »Jeanne d'Arc«. »Mr. Bertrand befahl mir, Sie hier bis zwei Uhr zu erwarten. Es ist zwei Uhr vorbei, und ich wollte eben an Bord des Admiralsschiffes zurückkehren.«

René erwiderte kein Wort. Er sprang in das Boot und wurde an Bord gerudert.

»Na, Delavigne«, rief ihm Bertrand zu. »Das ist gut, daß du kommst. Der Admiral hat dich schon sehnsüchtig erwartet. Hast du dich für uns entschieden?«

»Ja!« sagte René leise, und den Jubelruf des Freundes beachtete er kaum, sondern drückte ihm nur die Hand fest. Dann verschwand er in der Kapitänskajüte.

 

Über die See heulte der Sturm. Mit dichtgerefften Segeln peitschte die »Jeanne d'Arc« gegen die zürnenden Wogen an, bis in den Kiel erzitternd von den gewaltigen Stößen, mit denen sich die See ihrem Bug entgegenwarf. Alle Luken waren fest verschlossen, und die von Papeete mitgenommenen Passagiere lagen halbtot vor Seekrankheit in ihren Kojen – mit Ausnahme eines einzigen.

Den linken, gesunden Arm hatte er um eine der Besanwanten geschlagen. Den stieren, glanzlosen Blick auf die zackigen Kuppen einer aus der Ferne schimmernden Insel geheftet, stand René Delavigne an der Luvseite des Quarterdecks. Neben ihm, mit dem Fernrohr in der Hand, stand Kapitän Sinclair.

»Sie sehen, Delavigne, der Sturm will nicht nachlassen, und ich kann nicht die Insel anlaufen, so leid mir das auch tut. Ich würde es tun, aber in dieser See kann sich kein Boot halten. Außerdem bin ich hier in vollkommen fremdem und von verborgenen Klippen bedrohtem Fahrwasser. Sie wissen, wie wir gestern fast nur durch ein Wunder dem Korallenriff entgingen. Wir wären alle verloren, wenn wir darauflaufen.«

»Sie haben schon weit mehr getan, Kapitän Sinclair, als ich je von Ihnen erbeten hätte«, sagte René mit ruhiger, aber fast tonloser Stimme. »Ich sehe ein, daß es unmöglich ist, Atiu zu erreichen, und daß wir uns gefährden, wenn wir mit einbrechender Nacht noch hier kreuzen. Ich bitte Sie, tun Sie Ihre Pflicht.«

»Lieber Delavigne, ich fühle das Bittere Ihrer Lage, aber trösten Sie sich auch mit einer baldigen Rückkehr. Was sind die paar tausend Seemeilen herüber und hinüber!« sagte der Kapitän gerührt. »Wollen Sie nicht auch nach unten gehen? Wenn ich das Schiff vor dem Wind abfallen lasse, können wir wohl ein paar Sturzseen bekommen, ehe die Segel richtig gefaßt haben. Die See geht nicht so hoch, daß eine Gefahr dabei ist, aber es ist doch unangenehm.«

»Ich danke Ihnen. Wenn ich Ihnen hier nicht im Wege bin, möchte ich oben bleiben, bis wir – den anderen Kurs nehmen – es ist ja schon bald Abend.«

»Wie Sie wollen, Delavigne. Bleiben Sie nur stehen, wo Sie sind. Monsieur Roland! Wir wollen die Marssegel lösen. Lassen Sie dann Süd-Südost anliegen!«

»Zu Befehl, Monsieur!«

Der schrille Pfiff des Bootsmanns gellte über Deck. Wie die Katzen liefen die Leute die Wanten hinauf, um die Reffknoten der Marsrahen zu lösen und die Segel auszuschütteln. Gleich darauf stiegen die Rahen unter dem Chor der singenden Matrosen, die sich nach dem Takt mit dem ganzen Gewicht ihres Körpers in das Tau legten, empor. Der Bug des Schiffes fiel vor dem Wind ab, die Rahen wurden fast vierkant gebraßt, und der stolze Bau, der bis jetzt mühsam gegen die schweren Wogenmassen angekämpft hatte, flog jetzt, von den nachfolgenden Wellen gedrängt, dahin. Die Insel, die er den ganzen Tag vergeblich versucht hatte zu erreichen, ließ er bald weit hinter sich.

Düsterer wurde es jetzt auf dem Wasser, die Sonne neigte sich zum Horizont. Dichte Wolkenschatten sammelten sich mit der einbrechenden Nacht. René stand noch immer am Heck des stattlichen Schiffes, hinter dem die spritzenden, schäumenden Wogen einherstürmten. Seine Augen waren fest auf das immer mehr in düsterer Ferne verschwimmende Land gerichtet, das alles barg, was ihm einst diese Erde zum Paradies machte.

»Arme Sadie«, hauchte er leise. Mit der Gewißheit des Verlustes empfand er vielleicht jetzt zum erstenmal nach langer Zeit, was er mutwillig von sich geworfen hatte. Als er sich vorstellte, wie seine Frau mit dem Kind auf dem Arm an der gut vertrauten Stelle stand und nach ihm Ausschau hielt, brach ihm fast das Herz. Zum erstenmal füllten heiße, brennende Tränen der Reue seine Augen.

Noch ein dünner Streifen war es am Horizont, wie ein blauer, kaum erkennbarer Wolkensaum. Jetzt – das Auge fand ihn nicht mehr – Joranna! Joranna! hauchten seine Lippen, und der starke, trotzige Mann verbarg weinend sein Gesicht in den Händen.


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