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28. Kapitel

Ungefähr zehn Tage nach den soeben erzählten Ereignissen zu Codrington-Hall – die Leiche Sir Mortimers war schon längst in dem Familienbegräbnis beigesetzt – sah man einen bequemen Reisewagen mit vier Postpferden bespannt auf dem Wege von London her vor die große Eingangspforte des Schlosses fahren. Ein Blick von mir reichte hin, das Wappen an dem schon haltenden Wagen zu erkennen, es war das Sir Johns ..., des berühmten Arztes am Bethlehem-Hospitale zu London. Der alte Mann war auf Percys und auf meine Bitten gekommen, um sich selbst von dem Gemütszustande Seiner Herrlichkeit des Marquis von Seymour zu überzeugen, nachdem ich ihm durch einen Kurier die bedeutendere Erkrankung desselben und den dringenden Wunsch der Familie, ihn selbst zu Rate zu ziehen, mitgeteilt hatte.

Wir eilten ihm alle entgegen, als er, auf einen Diener gestützt, die steinernen Stufen zum Eingange heraufstieg. Als er uns sah und erkannte, blieb er stehen und nahm den Hut ab. Seine spärlichen weißen Haare flatterten im Winde und sein schnelles Auge überflog teilnahmsvoll und aufmerksam die Gesellschaft; denn er bemerkte sogleich, daß Percy und die Dienerschaft in Trauerkleidern war.

»So bin ich zu spät gekommen, Mylord?« war seine erste Frage. »Und ich muß, nachdem der Schlag geschehen, dennoch das traurige Geheimnis Ihrer Familie erfahren? – Guten Tag, kleiner Job!«

»O nein, Sir John«, erwiderte Percy und führte ihn am Arme ganz herauf, »Sie sind nicht zu spät gekommen. Sie finden uns vielmehr in doppelter Trauer über ein Geschick, das schon vollendet ist, und über ein anderes, welches seiner Vollendung entgegensieht. Ich bedauere den Tod meines Bruders und Sie sind der Krankheit meines Vaters wegen hierhergekommen.«

»So drücke ich Eurer Herrlichkeit mein zweifaches Beileid aus!« entgegnete Sir John mit würdevollem Tone und senkte sein ehrwürdiges Haupt.

Nach diesen kurzen Begrüßungen führten wir den willkommenen Gast in ein Zimmer, daß mit allem zu seiner Bequemlichkeit Notwendigen versehen war. Mir aber war es wiederum vorbehalten, meinem alten Freunde die Aufklärungen zu geben und ihm die Vorfälle, von denen ich Zeuge gewesen war, mitzuteilen, und ich tat es sogleich, nachdem der Viscount und Sir Robert das Zimmer verlassen hatten.

Sir John hörte aufmerksam der langen Erzählung zu, er sprach kein Wort dazwischen; nur als ich auf Mr. Sidney kam und erwähnte, daß der Viscount von Dunsdale derselbe sei, rief er:

»Ach, ist es möglich! Das habe ich nicht gedacht!«

Als ich mit meinem Berichte zu Ende war, blickte ich Sir John an. Er schwieg und schüttelte den Kopf.

»Ja! das ist ein Geheimnis«, sagte er endlich in einem so traurigen Tone und mit einer so niedergeschlagenen Miene, wie ich sie bei ihm noch nicht wahrgenommen hatte, »das ist ein Geheimnis, welches der Mühe wert ist, als solches bewahrt zu werden, und zugleich von einer Art, wie es wohl schwerlich oft in diesen Tagen vorkommen dürfte. Ich würde es kaum glauben, wenn Sie es mir nicht sagten und ich die Beweise nicht vor mir sähe. Aber dennoch ist mir Alles klar – ich erkenne den menschlichen Geist wieder, in seinen Tiefen und in seinen Höhen, und das ist einmal wieder ein Ausbruch, eine feuerspeiende Epoche dieses ewig ruhelosen, die ganze sittliche Welt untergrabenden Vulkans. Zwar wundere ich mich darüber nicht, denn wenn Sie so alt wären wie ich, mein junger Freund, so würden auch Sie sich über nichts mehr wundern, was dieser Engel oder Teufel von menschlichem Geist – denn eins von beiden ist er immer mehr oder weniger – zu Wege bringt, man kann von ihm Alles erwarten.«

Darauf begaben wir uns in das Zimmer des Marquis, bei dem zwei zuverlässige Diener Wache hielten, denn er hatte schon mehrere Male die Absicht verraten, sich selbst ein Leid anzutun, indem er sich in die Glut stürzen wollte, die in seinem Kamine glimmte.

Wie gewöhnlich fanden wir ihn auf seinem Sessel, aber er war kaum wiederzuerkennen. Bleich, mager und abgezehrt war sein Gesicht schon vorher gewesen, furchtsam und ängstlich hatte sein Auge stets geblickt; jetzt aber waren seine Mienen ganz unkenntlich, seine Züge zerrissen und der Ausdruck des ganzen Gesichtes der des vollkommensten Wahnsinns.

Wir traten ein und Sir John setzte sich auf einen Sessel, dem Marquis gegenüber, ungefähr zwei Schritte von ihm entfernt. Nichts gab uns an diesem zu erkennen, daß er an irgendetwas, was um ihn her vorging, Anteil nähme. Sir John winkte ihm zu – der Marquis beantwortete diesen Wink nicht.

»Guten Morgen, Mylord!« sagte Sir John mit einer so lauten und eindringlichen Stimme, wie er sie so gut und ergreifend dergleichen Kranken gegenüber hören lassen konnte, wenn es notwendig war.

Der Marquis wandte sein erloschenes Auge auf den Sprecher, aber nur einen Augenblick, solange die eben ausgesprochenen Worte noch in seinem Ohre tönten. Dann sank er wieder in seinen vorigen apathischen Zustand zurück.

»Ich muß ein kräftigeres Mittel anwenden, um seinen irrenden, schlaffen Geist zu erwecken«, sagte Sir John zu mir, »passen Sie auf! – Mortimer!« rief er in einem scharfen, so unnachahmlich durchdringenden Tone, daß mir das Wort gleichsam in die Seele schnitt.

Sogleich fuhr der Marquis in die Höhe – seine Unterlippe ließ ein kaum bemerkbares Beben gewahren und er wandte sein erschrocken blickendes Auge nicht mehr von dem Arzte ab, der noch näher an ihn herangerückt war.

»Ist – er – da?« stammelte der Marquis mit einem heiseren Geflüster.

»Er kommt!« antwortete Sir John wie oben.

»O, lassen Sie ihn nicht herein – er wird mich töten – Gift – Gift! – aber ich esse und trinke nichts mehr –«

»Aha!« sagte Sir John zu mir, »das ist eine neue fixe Idee. Nun werden wir Mühe haben, ihn nicht Hungers sterben zu lassen.«

Wir blieben ungefähr noch eine Stunde bei dem Kranken, während welcher Zeit Sir John sich von dem Zustande desselben hinreichend überzeugte. Dann standen wir auf und begaben uns zu Percy, den wir unruhig und erwartungsvoll unserer harrend fanden. Seine Blicke hingen forschend an Sir Johns Munde, als wir eintraten.

»Mein teurer Sir John!« sagte er. »Was für Hoffnungen?«

»Gerade herausgesagt, Mylord – keine!«

»Keine?«

»Gar keine! Sie sind ein Mann und deshalb spreche ich unumwunden die Wahrheit aus.«

»Und gibt es kein Mittel auf der Welt, ihn zu retten?«

»Ihn zu retten? Nein, Mylord, hoffen Sie nichts – ich kenne keines.«

Percy warf einen Blick gen Himmel, faltete die Hände und sagte:

»Großer Gott! ich kann nicht dafür!«

»Es kommt jetzt allein darauf an«, fuhr Sir John fort, »ihn vor allem möglichen Schaden zu bewahren, und da scheint es mir am besten zu sein, wenn Sie ihn unter eine fortwährende ärztliche Aufsicht brächten« – Percy sah ihn unruhig, ahnungsvoll an – »nach London nicht – das würde zu viel Aufsehen machen. Die Welt braucht nichts davon zu wissen –«

»Was meinen Sie, Sir – wohin wollen Sie ihn bringen?«

»Gerade herausgesagt, noch einmal – denn ich kenne keinen besseren, stilleren Ort – ich schlage vor – nach St. James –«

»Halten Sie ein, Sir, halten Sie ein! Nun und nimmermehr! Soll das eine Wiedervergeltung sein? Lieber will ich mich allein mit ihm in eine dunkle Kammer schließen und so lange seine Hände halten und ihm jeden Bissen selbst hineinzwingen, ehe ich das zugebe.«

Diese Worte wurden mit einem Ausdruck der Bestimmtheit und mit einer so ergreifenden Wahrheit in Blick und Gebärde gesprochen, daß ich erkannte, Percy habe seinen unabänderlichen Willen hiermit kundgetan.

Sir John heftete einen seiner geheimnisvollsten, durchdringendsten Blicke auf den Viscount von Dunsdale. Aber er sah Percy nicht nur an – es war, als ob er durch ihn hindurch schaute, in das innerste Reich der Natur hinein, und als wollte er mit diesem Blick einen Schluß ziehen aus den geheimnisvollen und ewig dunklen Problemen, welche der denkende Mensch der Natur stets abzulauschen bemüht ist, denen er aber Zeitlebens nachspüren wird, ohne sie zu erreichen.

»Es ist gut, Mylord!« sprach er endlich mit der größten Gelassenheit und Milde. »»Es ist gut, ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen. Ich sehe, es gibt eine Vergeltung – da oben über uns – aber es gibt auch noch Menschen, die edel, groß und dieser Vergeltung würdig sind. Ich danke Ihnen! Sie haben mir noch am Ende meines Lebens einen Aufschluß über dieses Leben selbst gegeben – es tut mir doch recht leid, daß ich bald davon scheiden muß. Lassen Sie meinen Wagen vorfahren!«

»Wie, Sir John? Sie wollen schon fort?«

»Ja! Ich kam Ihres Herrn Vaters wegen hierher – leider kann ich ihm nicht helfen! Ich glaubte, Ihnen nützlich sein zu können, Mylord, und ich allein habe nur Vorteil aus dieser meiner letzten Reise gezogen. Ich will fort!«

Und Sir Johns Wille war, wie immer, unbeugsam.

Zwei Stunden später fuhr er wieder dahin, wohin er gekommen war, nachdem er mit mir noch einiges über Mylord Seymour gesprochen hatte.

Als sein Wagen in den Schatten des Waldes verschwunden war, fuhr von der anderen Seite des Schlosses ein zweiter heran, ebenfalls von vier schäumenden Pferden gezogen. Erwartungsvoll blickten wir hin, da wir nicht ahnen konnten, wer es so eilig hatte, in das Haus der Trauer zu gelangen.

Aber wie erstaunt waren wir, als wir, nachdem ein Diener den Schlag geöffnet, Mr. Elliotson, den Direktor von St. James, aus dem Wagen steigen und rasch auf uns zukommen sahen. Seine Miene war zwar nicht von Verlegenheit frei, aber seine Haltung sicher und fest, als er sich gegen Percy tief und achtungsvoll verbeugte. Allein ehe er noch ein Wort gesprochen, ging ihm dieser schon entgegen und rief:

»Das ist ein vortrefflicher Gedanke von Ihnen, mein lieber Mr. Elliotson! Treten Sie näher, treten Sie näher!«

Und ihn unter den Arm fassend führte er ihn ohne weiters in das Zimmer, in welchem sich Sir Robert Graham und seine Tochter befanden.

Ich gestehe, der gute Mr. Elliotson befand sich in keiner beneidenswerten Lage, aber er verbesserte sie sogleich dadurch, daß er die Sache am rechten Ende ergriff.

»Gentlemen!« sagte er mit bescheidener, aber sicherer Stimme, »und besonders Ihnen, Mylord, bemerke ich, daß ich mich in einer peinlichen Lage vor Ihnen befinde – ich verhehle mir das selbst nicht; indessen, es kann nicht gut anders sein und ich ergebe mich darein. Mylord! Sie sandten mir einen Boten und luden mich freundschaftlich ein, nach Ihrem Landsitz in Dunsdale zu kommen. In welchen Betrachtungen und Entschließungen uns dieser Bote traf, will ich unerörtert lassen. Nur soviel erlaube ich mir zu bemerken, daß ich sogleich Postpferde nahm und Tag und Nacht nach Dunsdale unterwegs war. Allein ich traf Sie daselbst nicht mehr, vernahm aber mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit, daß Sie hier wären – und so komme ich auch hierher, Mylord! ich hoffe, nicht zu spät, Ihnen jede Genugtuung zu Füßen zu legen, die Sie von mir verlangen können. Wenn ich in Ihren Augen strafbar erscheine, so glaube ich Ihnen das gern und habe nichts dagegen vorzubringen. Indessen meine Ehre gebietet mir zugleich, Ihnen mein Bedauern über alles – alles Vergangene auszudrücken, aber zugleich auch Ihre großmütige Verzeihung für mich und die Meinigen in Anspruch zu nehmen.«

»Mein teurer Mr. Elliotson!« erwiderte der Viscount von Dunsdale freundlich, »es freut mich, daß Sie meine Bitte so bald erfüllt haben; ich habe es dringend gewünscht, aber nicht so bald erwartet. Da ich Sie aber nicht eingeladen habe, mit mir eine traurige Vergangenheit noch einmal zu durchleben, sondern uns vielmehr der Gegenwart hinzugeben, wie sie nun einmal ist, so erlauben Sie mir, daß ich Sie mit diesen meinen beiden teuren Verwandten bekannt mache – es ist meine Gattin und deren Vater, Sir Robert Graham – und dieser, meine Lieben, ist mein Freund, Mr. Elliotson!« fügte Percy, an beide Letztere sich wendend, hinzu, indem er auf den Direktor deutete.

Dieser verbeugte sich ehrfurchtsvoll vor Lady Dunsdale und ihrem Vater, fuhr aber sogleich, gegen Percy gewandt, wieder fort:

»Ich glaube es wohl, Mylord, daß die Gegenwart mehr Reize für Sie hat als die Vergangenheit und somit alles verschlingt, was hinter Ihnen liegt, mich aber rief die Vergangenheit hierher, und ehe ich diese nicht von meinem Herzen abgeschüttelt habe, darf ich kann ich es nicht wagen, mich der Gegenwart hinzugeben. Haben Eure Herrlichkeit die Gewogenheit und beantworten mir kurz nur eine Frage – von dieser Ihrer Antwort wird alles Übrige abhängen: Sprechen Sie Ihr Schuldig oder Unschuldig über mich aus?«

Percy lächelte, nahm mich bei der Hand und entgegnete:

»Wenn ich auch einst in einer bitteren Stunde versucht war, Ihnen eine gewisse Schuld aufzubürden – und wie konnte ich anders – dieser hier, mein teuerster Freund, hat sie von Ihnen genommen, indem er mich Ihre Bemühungen um mich in einem anderen und besseren Lichte erblicken ließ – und was mich betrifft, so bin ich jetzt so vollkommen von seiner Meinung überzeugt, daß ich Sie hier im Schlosse meines Vaters als meinen Freund willkommen heiße – ist Ihnen diese Genugtuung hinreichend oder wollen Sie mehr?«

»Mylord! ich bin still – ich kann nichts weiter tun, als Ihnen durch mein Schweigen meinen innigsten Dank abtragen. Es liegt etwas zwischen uns, was uns verbinden wird, solange wir beide leben – auf Ihrer Seite die großmütige Handlung des Vergebens, auf der meinigen ein nie ganz zu beseitigender Vorwurf – nein! wir werden uns, wir können uns nie ganz vergessen. Daß ich aber später, Ihrer jetzigen Versicherung nach, nur mit einem stillen, aber freundlichen Bedauern an Sie denken kann, ist mir die süßeste Beruhigung. Ich bin für mich fertig – hier aber habe ich noch einen Brief an Eure Herrlichkeit von unserem guten Mr. Lorenzen, dem Oberarzt – lesen Sie und antworten Sie mir auch für ihn, denn er zählt die Minuten, bis ich ihm Nachricht gebe, wie Sie von ihm denken.«

Das Wort Oberarzt schien Ellinor und ihren Vater vollständig aufzuklären, sie hatten bisher nur eine unvollkommene Ahnung von dem Verhältnisse gehabt, welches zwischen Percy und Mr. Elliotson obwaltete. Jetzt gewann der neuangekommene Besuch für sie ein größeres Interesse, sie wandten sich mit tausend Fragen an ihn, denn er war es ja, der mit Percy die vier traurigsten Jahre seines Lebens zusammen verlebt hatte.

Dieser hatte unterdessen den Brief des Oberarztes zu Ende gelesen und lächelte abermals.

»Der gute Mann«, sagte er, »tut mir Unrecht, wenn er glaubt, ich würde ihm nie verzeihen können. Freilich, hart muß für ihn die Lehre gewesen sein, wie er sagt, die er durch diesen Mr. Sidney empfangen hat. Indessen da ich nun einmal diesen bewußten Mr. Sidney sehr gut kenne, so werde ich für Mr. Lorenzen ein gutes Wort bei ihm einlegen, und ich hoffe, es wird nicht vergebens sein. Sagen Sie ihm das und grüßen Sie ihn von mir, wenn Sie zurückkehren, jetzt aber seien Sie mein Gast und kommen Sie zu Tische, denn ich höre bereits die Eßglocke läuten.«

Man ging zu Tische, von dem sich jedoch Percy mehrere Male erhob, um zu seinem Vater zu gehen und sich nach seinem Befinden zu erkundigen.

Noch oft kam im Laufe des Tages das Gespräch auf den Zustand des Marquis von Seymour und wie man am besten für seine Zukunft Sorge tragen könne. Was ich aber auch sprach, und wie vortreffliche Anerbietungen Mr. Elliotson dem Viscount von Dunsdale machte, dieser blieb bei seinem unwiderruflich gefaßten Entschlüsse, indem er zu dem Direktor sagte:

»Mr. Elliotson! Ich danke Ihnen für Ihre Güte; ich weiß, was Sie leisten können und was Sie unter diesen Umständen leisten würden. Aber es ist genug, daß Sie von der Vorsehung einen Irren von St. James erhalten haben – dieser, mein unglücklicher Vater, ist für mich, und dieses Haus soll eine Krankenanstalt und ich allein werde sein Arzt und sein Wärter zugleich sein.«

 

Wie edel, großmütig und echt kindlich dieser Entschluß auch war und wie würdig er ausgeführt worden sein würde – die Vorsehung hatte es anders beschlossen. Schon die sechste Abendstunde dieses Tages verkündete der Umgegend durch die im leisen Abendwinde flatternde große Trauerflagge auf der Zinne des Schloßturmes, daß der Besitzer desselben, der Marquis von Seymour, Graf von Codrington, nicht mehr am Leben sei.

Drei Wochen später befand ich mich, nachdem ich vorher in London von Sir John und meinen anderen Freunden Abschied genommen und alle meine Angelegenheiten in Ordnung gebracht hatte, in Dunsdale-Castle, wo wir denn nun endlich Alle, die an Percys Geschick näheren oder entfernteren Anteil genommen hatten, in innigster Freude und Eintracht versammelt waren: der gute Phillipps mit seinen Söhnen, der Wärter Chappert mit seiner Familie und alle die alten Diener aus Codrington-Hall und Seymour-Castle hatten sich hier um die drei Personen eingefunden, die auch unsere Aufmerksamkeit während des Laufes meiner Darstellungen am meisten in Anspruch genommen.

Es war aber auch nichts Schöneres und Befriedigenderes denkbar, als die von Glück strahlende Ellinor an der Seite ihres edlen Gatten zu sehen und zu beobachten, mit welchem stillen, ich möchte sagen heimlichen Entzücken Sir Robert Graham diese wunderbare Liebe Beider zu betrachten schien. Jetzt war seine ehemalige Prophezeiung ganz in Erfüllung gegangen, denn nun erst hatten sich alle Wolken über des Viscount von Dunsdale Schicksal zerteilt und er stand da wie der kühne Seemann, der, nachdem er den drohendsten Sturm bekämpft hat, stolz auf sein herrliches Schiff sieht, welches er an Klippen und Untiefen vorbei in das heimische, friedliche Gewässer sieg- und ruhmgekrönt zurückgeführt hat.

Es war an einem schönen Oktobermorgen, die Sonne schien so sanft und warm wie kaum im Mai, und die Luft hauchte so hell und klar, wie am lieblichsten Sommerabend; außer der bunteren Farbenpracht der Bäume verriet nichts im ganzen Umkreise der Natur, daß der Sommer vorüber und der Winter im Nahen begriffen sei.

Vor uns auf dem grünen Rasen trabten Bravour und die kleinen Ponies Sir Roberts mit Othello um die Wette herum, mit denen die Knaben Bob und Will mutwillig spielten; der alte Phillipps selbst aber stand, zu einer Reise gerüstet, unfern von uns vor dem Eingange des Schlosses und beobachtete uns, die wir in der großen marmornen Vorhalle standen und in ein ernsthaftes Gespräch vertieft waren.

In diesem Augenblick fuhr ein mit Vieren bespannter Reisewagen vor und hielt vor der Terrasse; ein Diener öffnete den Schlag und blieb davor stehen, den Reisenden zu erwarten, der sich hineinsetzen sollte. Phillipps trat einen Schritt näher an die Vorhalle heran, zog seinen Hut und verkündete, daß Alles bereit sei.

Ellinor brach bei diesem Zuruf in Tränen aus, Sir Robert Graham sah mich gerührt an, Percy aber hielt meine Hand fest und drückte sie wiederholt.

»Es hat Alles in der Welt sein Ende, meine Lieben«, sagte ich endlich, »das Glück wie das Unglück. Glauben Sie mir, ich scheide ungern, ja mit Schmerz; ich bliebe so gern, ach wie gern hier! Allein, ich kann es nicht ändern, auch ich habe ein Vaterland und Verwandte, die meiner mit Sehnsucht schon lange harren.«

»Wenn Letzteres nicht wäre«, nahm der Viscount das Wort, »dann kämest du auch von hier nicht fort, denn was das Vaterland betrifft, so würde es mein Stolz sein, dir ein neues unter uns zu schaffen und dir in uns selbst Verwandte zu geben, die einzig nur des schönen Vorrechtes entbehren, sich deine Blutsverwandten zu nennen, sonst aber in jeder Hinsicht sich als die deinigen betrachten. – So aber bist du nicht zu halten und kaum kann ich mir mein Leben fernerhin ohne dich denken. Und was bleibt von dir hier, um die Lücke auszufüllen, die dein Abschied in unsere Familie reißt?«

»Das Andenken an St. James, Percy!« erwiderte ich, »und die Hoffnung, bald, recht bald wieder beieinander zu sein.«

»Halten Sie Wort, mein teurer Freund«, sagte Ellinor und reichte mir ihre schöne Hand, »halten Sie Wort und denken Sie, wie ich gewohnt bin, mich nicht von Ihnen in meinen Erwartungen getäuscht zu sehen.«

Alle diese Worte machten mir das Herz schwer, ich blickte wehmutsvoll die liebenswürdige Gattin meines Freundes an, und Alles, was mir mit ihr begegnet war und was ich sonst von ihr erfahren hatte, kam lebendiger und vollkommener denn je in meine Erinnerung zurück. Unwillkürlich trat mir eine Träne ins Auge, die ich aber schon im Entstehen zerdrückte, denn ich wünschte als Mann von dieser Familie zu scheiden. Ich wollte eben etwas erwidern, als Sir Robert, der bis jetzt geschwiegen hatte, das Wort nahm.

»Mein lieber, guter Freund«, sagte er, »ich war bis jetzt still und habe die Anderen reden lassen, denn ich wußte, daß ich noch immer ein offenes Ohr und ein williges Herz bei Ihnen finden würde.«

»Sprechen Sie, mein lieber Graham, sprechen Sie!«

»Ach, mein junger Freund, was Sie auch an Percy und Ellinor getan haben, eigentlich bin doch ich derjenige, für den Sie das Meiste taten.«

»Das ist nicht wahr!« unterbrach ihn der Viscount von Dunsdale.

»Nein, Vater, nein!« rief Lady Ellinor.

»Unterbrecht mich nicht, Kinder! Ihr wißt es nicht, was es heißt, einen alten Mann mit grauen Haaren und fast erstorbenem Herzen, der schon das traurigste Ende seines Lebens vor sich sah, noch einmal dem Leben und einem schöneren Leben wiedergegeben zu haben.«

»Schweigen Sie, schweigen Sie!« rief ich. »Nun ist die Reihe, Sie zu unterbrechen, an mich gekommen.«

»Nein, nein, noch lange nicht – auch Sie dürfen mich nicht unterbrechen; ich bitte ernstlich, mich fortfahren zu lassen. Ja, Sir, Sie allein haben mich diesem schönen Leben wiedergegeben, indem Sie mir meine Tochter und meiner Tochter ihren Gatten zurückgaben.«

»Das habe ich nicht allein getan!« rief ich laut.

»Wohl weiß ich, daß Sie das nicht allein vollbracht haben. Kein Mensch tut etwas Gutes allein, er ist stets das Werkzeug einer höheren Hand – und wenn Sie es denn wollen, durch Sie hat er da oben es getan! Nun gut! Jetzt erlauben Sie mir noch eine Frage. Sie wollen zu den Ihrigen zurück – wer sind diese Ihrigen?«

»Ein Vater und eine Schwester!« antwortete ich erwartungsvoll, denn ich wußte nicht, was er sagen wollte.

»Ist Ihre Schwester verheiratet?«

»Nein, sie ist es nicht, Sir!«

»Gut! So kommen Sie mit ihr und Ihrem guten Vater hierher, und wenn Sie nicht mit ihnen bei uns, ich meine bei Percy und Ellinor, wohnen wollen, so wohnen Sie mit Ihrer Familie in jenem stillen Hause mit den grünen Fensterläden – in dem friedlichen Tale – Sie wissen.«

»O, Vater! woran mahnst du mich!« rief Percy und zog die Hand zurück, mit der er mich bis jetzt gehalten hatte.

»Still, Percy! Still, Ellinor! Noch spreche ich! Und wenn Sie darin wohnen und es Ihnen gefällt, dann ist es – Ihr Eigentum – ich, ich werde bei meinen Kindern einen Platz finden, denn von ihnen trenne ich mich nicht mehr.«

Percy wollte ihm abermals in das Wort fallen, Sir Robert aber hielt ihn zurück, indem er fortfuhr:

»Mein Sohn! Nur noch ein Weilchen schweige – jetzt spricht er – du kannst noch immer deine Bitte für dich behalten.«

»Sir Robert Graham!« erwiderte ich und faßte seine beiden Hände. »Ich fühle, ich begreife Alles, was Sie mir damit sagen wollen, indem Sie mir diese friedliche Wohnung antragen, und ich bin tief gerührt von ihrer Güte! Aber ach, was soll ich dort? Ja – wenn ich eine Ellinor hätte, die mit mir darin wohnen könnte – dann, dann möchte es sein – doch so – jeder Augenblick, jeder Raum daselbst würde mir sagen, daß ich keine habe –«

»O, Sir«, rief Lady Ellinor, »dann kommen Sie zu mir, zu uns – dann haben Sie eine!«

»Ich verstehe!« erwiderte ich. »Aber es geht nicht – später vielleicht, später –«

Und ich konnte nichts mehr sagen, denn meine Tränen erstickten meine Worte.

»Nein, nein!« sagte Percy mit Betonung, »wenn Jemand ihm etwas anzubieten wagen darf, dann ist es allein an mir, denn ich bin sein größter Schuldner – aber ich wußte es vorher, er nimmt es nicht an! Da du aber einmal diesen Punkt berührt hast, den ich am liebsten unberührt gelassen hätte, so zwingst du mich, das, was ich bis jetzt vor euch Allen verborgen gehalten habe, in diesem Augenblicke zu offenbaren – du verzeihst mir, mein Freund«, sagte er zu mir, indem er seine beiden Hände auf meine Schultern legte und mir unendlich liebevoll in die Augen sah, »du verzeihst mir, ich weiß es. Daß du hier bei uns eine Heimat findest, wenn du sie früher oder später suchen willst, brauche ich dir nicht zu sagen. Davon rede ich jetzt nicht. Das aber wisse, daß es mein tägliches Gebet zu dem göttlichen Wesen über uns sein wird, daß dir dort oben angerechnet werden möge, was du an mir getan hast. Alles Übrige, was wir tun können, ist eine Kleinigkeit und es verlohnt der Mühe nicht, noch davon besonders zu sprechen. Nun aber muß ich es tun. Und so noch einmal, verzeihe mir, wenn du, zu Hause angelangt, eine kleine Erinnerung von mir vorfindest – daß ich – daß ich –«

Auch er konnte nicht weiter sprechen – er fiel mir um den Hals und sein Herz klopfte an dem meinen.

»Was hast du, was willst du?« fragte ich. »Welche Erinnerung könnte mir schöner sein als die, die ich im Geiste mit mir trage?«

»Laß das, Robert! Es war meine Schuldigkeit, was ich tat. Mein Herz liebt dich nun einmal wie einen Bruder, und da mir das Schicksal wider meinen Willen so viel gegeben hat, so laß mich eben meinem Bruder eine Kleinigkeit davon mitteilen. Versprich mir also, den Brief, den du in deiner Heimat von mir vorfinden wirst, nur als einen Erguß dieser meiner brüderlichen Liebe aufzunehmen.«

Ich stand und sah in verwundert, aber tief ergriffen an. Der Abschied wurde mir immer schwerer.

»Leben Sie wohl! Leben Sie Alle wohl!« rief ich, mich schnell ermannend, und trat eine Stufe der Treppe hinunter, die zum Wagen führte.

»Halt!« riefen Alle und zogen mich wieder zurück.

»Mir fällt noch eins ein«, sprach Percy, und auch ihm waren die bittersüßen Tränen des Abschieds in die Augen getreten, »ich begleite dich bis nach Yarmouth, wo du dich einschiffen willst.«

»Und ich auch!« rief Ellinor.

»Und ich auch!« rief Sir Robert Graham.

»Nein!« sagte ich bestimmt, »Sie bleiben Alle zurück, und ich gehe allein, wie ich gekommen bin, Phillipps nur begleitet mich. Der Abschied würde, länger hinausgeschoben, nur umso schwerer werden, und er ist mir jetzt schon – zu schwer! Bleiben Sie also, wo Sie sind – ich kann nicht bestimmen, wann ich wiederkomme, Percy, denn ich weiß nicht, was mich erwartet, aber mir sagt es mein Herz, wir werden, wir müssen uns wiedersehen. Bis dahin wechseln wir getreulich Briefe und dann wollen wir hören und sehen, was die Zukunft uns vorbehalten hat.«

»Ach! daß es nicht immer Gegenwart sein kann!« rief Percy begeistert aus und umarmte mich stürmisch – kaum erkannte ich den sonst so ruhigen Mann in ihm wieder. Auch Ellinor umarmte mich und Sir Robert Graham – dann riß ich mich schnell los, stürzte mich, ohne daß sie es hindern konnten und ohne mich noch einmal umzuschauen, in den Wagen, gab Phillipps ein Zeichen, und im Galopp stoben die Pferde mit uns davon.

Jetzt, da ich gänzlich von ihnen gerissen war, fiel mir der Abschied erst wie Blei aufs Herz – ich lehnte mich zum Wagen hinaus, ich winkte noch einmal mit der Hand, sah sie noch einmal, mit Tüchern wehend, in der schönen, mir unvergeßlichen Gruppe beisammenstehen – da tanzten die wiehernden Pferde schon auf dem schönen Rasenteppiche hin, der durch den grünen Eichenwald nach Dunsdale-Castle führte, und bald, bald war das schöne Schloß mit seinen von der Morgensonne leuchtenden Zinnen, seinen Blumen, seinen Hecken und seinen mir so teuren, unvergeßlich teuren Menschen hinter mir verschwunden.

 

Jetzt, nachdem ich seit längerer Zeit Englands Boden verlassen, stehen noch alle jene Erinnerungen so lebendig vor meiner Seele, als wären sie erst vom gestrigen Tage her in meine Sinne gegraben. Nur noch soviel, daß ich, zu Hause angelangt, eine Erinnerung von Percy vorfand, die, seiner Aussage nach, nicht der Mühe verlohne, von ihr zu reden, die aber wahrhaft eine fürstliche Erkenntlichkeit in sich schloß.

Jetzt mit der Abfassung der Schilderungen zu Ende, erhalte ich soeben einen Brief aus Dunsdale-Castle.

Darin schreibt mir Percy, jetziger Marquis von Seymour, Viscount von Dunsdale und Codrington, er billige meinen Wunsch, diese Schrift zu veröffentlichen, wenn ich seinen wirklichen Namen verschwiege, was ich ohnehin schon getan habe, ja, er freue sich schon darauf, noch einmal, wie in einem Spiegel, jene dunkle Epoche aus seinem denkwürdigen Leben durchlaufen zu können. Er würde mit mir noch mehr darüber sprechen, wenn er auf seiner Reise nach Italien, zu der er mich abzuholen nach Berlin komme, in vier Wochen bei mir eintreffen würde. Er bringe Ellinor, die in immer neuen Reizen strahlende Ellinor, und einen kleinen Percy mit, der aber hoffentlich nicht bestimmt sei, ein zweiter Irrer von St. James zu werden. Auch begleite ihn Sir Robert Graham, Phillipps und dessen Söhne, wie auch der gute Chappert. Deutschland sei ihm nun noch einmal so wert wie früher, da er wisse, daß ich in diesem schönen Lande lebe, und er komme, um sich noch einmal mit mir von Mr. Sidney, dem Irren von St. James, zu unterhalten.


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