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20. Kapitel

Ich fand keine wohltätige Ruhe auf meinem einsamen Zimmer; tausend neue Gedanken waren mir im Laufe des Tages, durch die unerwarteten Ereignisse hervorgerufen, in den Sinn gekommen und verwirrten einigermaßen die klare Anschauung, welche ich mir bisher bewahrt hatte, so daß ich einige Mühe hatte, zu einem durchgreifenden Entschlusse zu gelangen, wie ich mir anfangs es vorgestellt hatte.

»Doch es wird mir noch klar werden«, sagte ich zu meinem Troste mir selbst, »was ich zunächst zu tun haben werde; ob ich sogleich einschreiten oder von dem Laufe der Dinge das Beste erwarten soll – morgen ist auch noch ein Tag, und ich habe für heute genug gehört und gesehen, um wenigstens zu wissen, daß ich auf dem rechten Wege bin.«

Auf diese Weise mir selbst Mut einsprechend, legte ich mich nieder, aber es war mir anfangs unmöglich, einzuschlafen. Als ich endlich zu einiger Ruhe gelangt war, zogen die Traumbilder an meinem regen Geiste vorüber, so daß ich das bisher Erlebte noch einmal zu gewahren und das Kommende schon im Voraus zu erkennen glaubte.

Von allen Traumbildern aber stand keines so lebhaft vor meiner Phantasie, wie Percys hohe, gebieterische Gestalt. Flüchtig schwebte sie vor mir her und winkte stets mit der Hand, mich vorwärtstreibend, und schon als ich fest eingeschlafen war, kam es mir noch beständig vor, als würde ich im schnellsten Laufe vorwärtsgejagt und könnte mich mit aller Macht nicht zurückhalten, denn die mich gewaltsam treibende Kraft war wie eine höhere, gleich dem Sturm, der die Wolken jagt, unwiderstehliche Übergewalt.

Da faßte mich eine Hand an – ich fuhr empor und verfolgte meinen Traum im halb wachenden Zustande – welche Hand war es, die mich ergriff? Percys Hand allein, die mich im eiligen Dahinjagen aufhielt, konnte und mußte es sein, und wie es uns geschieht, wenn wir, auf die Spitze eines überwältigenden Traumes gelangt, nicht mehr wissen, wie wir widerstehen und was wir tun sollen, daß wir laut schreien und den Namen dessen rufen, der uns bedrängt oder dessen wir voll sind, so rief auch ich diesmal mit lauter Stimme:

»Percy! hier – hier – ich bin da!«

Erst mein eigener Schrei weckte mich vollends. Ich schlug die Augen auf und erblickte ein bleiches, voller Verwunderung und Entsetzen mich anstarrendes Gesicht.

Es war der alte Haushofmeister, der, ein Licht in der Hand haltend, vor meinem Bette stand.

»Was gibt's denn, Paul?« fragte ich, als ich mich von dem Schrecken erholt hatte, der mich ergriff, da ich aus meinem Traume gerissen wurde.

»Mein Gott, Sir – wen riefen Sie denn?«

»Wen ich rief?«

»Sagten Sie nicht Percy – Percy?«

»So? Sagte ich das – nun, warum sollte ich nicht? Ich habe geträumt –«

»Gut, gut! Sir, ich glaube es ja.«

»Aber was wollt Ihr von mir?«

Der alte Mann stand unbeweglich da und starrte mich noch immer verwundert an; er schien sich zu besinnen, was er mir hatte sagen wollen.

»Ja, was wollte ich? – Ach ja, Sir! Um Entschuldigung wollte ich Sie bitten, daß ich Sie störe. Aber kommen Sie doch hinauf zu dem armen gnädigen Herrn – er hat gerade seinen Anfall – vielleicht können Sie ihn beschwichtigen.«

»Hm! Und ist Mortimer bei ihm – Sir Mortimer?« verbesserte ich mich sogleich.

»Nein, Sir, er schläft. Seine Gäste sind seit einer halben Stunde fort und seine Diener haben ihn zu Bett gebracht, er schläft den festen Schlaf der Trunkenheit – heute ist er nicht mehr zu erwecken.«

»Und den Schlaf des guten Gewissens!« dachte ich und kleidete mich schnell an.

Ich war schon oft in meinem Leben in der Nacht geweckt worden, um einen Krankenbesuch zu machen, aber noch niemals war ich so freudig gegangen wie diesmal. Die Gewalt, die mich im Traume vorwärtsgetrieben, schien mich auch jetzt zu beseelen, und ich folgte ihr gern, voll von einer Hoffnung, der ich, wie man es so oft im Gefühle der Hoffnung nicht kann, keinen Namen zu geben vermochte. Percys Geschick war nie inniger mit meinen Empfindungen verbunden und meine Seele nie vollkommener von dem Wunsche erfüllt gewesen, seine Rechte zu vertreten, als in dieser Nacht, da ich, durch das leere Haus seiner Väter schreitend, mich zu dem Krankenlager dessen begab, der ihn, mit seinem Fluche zur Mitgift, von seiner Schwelle stieß und in die traurige, öde Welt jagte.

Wir traten in des Marquis Zimmer. Er lag wie gewöhnlich in seinem Sessel, den Kopf nach hinten geworfen und die Augen geöffnet, aber starr nach der Decke stierend. Bei unserem leisen Eintritt fuhr er zusammen – seine Sinne schienen außerordentlich scharf und leicht erweckbar.

»Wer ist da?« murmelte er zwischen den Zähnen.

»Ich bin es, Mylord!«

»Wer?«

»Ich, der Arzt – ihr Vertrauter!«

»Und wer bist du?« fragte er, den Haushofmeister anblickend.

»Ach! ich bin es ja, Eurer Herrlichkeit untertänigster Diener, Paul!«

»Ha! Das ist gut, daß ihr Beide da seid – ihr seid stark – ihr könnt mir helfen – ich bin so schwach gegen ihn – gegen ihn –«

»Was ist Ihnen, Mylord?« fragte ich teilnehmend und faßte seine kalte feuchte Hand, die sich sogleich an die meinige fest anklammerte, als wollte sie die eben gewonnene Stütze nicht gleich wieder verlieren.

»Gegen wen sollen wir Ihnen helfen?«

Er warf mir einen unvergeßlichen Blick zu, so klagend, so hilflos, so zerschmettert, daß ich, so fest ich war, unwillkürlich erbebte.

»Er will mich – umbringen!« preßte er mit Mühe hervor.

»Umbringen? Wer?«

»Percy!« schrie er laut auf, daß es durch das ganze Zimmer schallte und der alte Paul erschrocken zusammenfuhr. Denn es war das zweite Mal, daß er diesen Namen in dieser Nacht so unerwartet hören mußte.

»Percy?« fragte ich leise und innerlich erbebend, »wer ist das?«

»Ha! er weiß es nicht – Sie wissen es nicht, und ich dachte, Sie wüßten es –«

Der Haushofmeister schüttelte seinen grauen Kopf und warf mir einen jammervollen Blick zu. Ich war schon auf dem Sprunge, mich – Alles zu entdecken, aber ich zögerte noch, ich mußte noch mehr erfahren und den Zustand des mir Anvertrauten schonend berücksichtigen.

»Wer ist Percy?« fragte ich daher noch einmal.

Der Greis richtete sich plötzlich auf, sah mich durchdringend, aber milde an, als wollte er versuchen zu lächeln, und sagte:

»Ach, er ist mein Sohn – ja –«

»Und er wollte Sie umbringen? Warum das?«

»Weil er tot ist!« ächzte er.

»Aha!« dachte ich, »ist es das? Vorwärts, Percy! – Weil er tot ist, will er Sie umbringen? O, bringen Tote einen Lebenden um? Das ist nicht möglich, Mylord, durchaus unmöglich!«

»Ja, aber er bringt mich um, weil ich – ich – ihn umgebracht habe.«

»Das ist nicht wahr, Mylord!« stammelte der Haushofmeister, »Euer Herrlichkeit haben ihn nicht umgebracht.«

»Nicht? Habe ich nicht? Ich dächte! Wo wäre er denn?«

Ich nahm mich zusammen – ich winkte dem alten Paul mit der Hand, daß er schweige, und sagte fest und feierlich:

»Nein, Mylord, das haben Sie nicht. Percy – Ihr Sohn Percy lebt!«

»Er lebt? Ha! woher wissen Sie das?«

»Ich lese es!«

»Schon wieder lesen! Und auf meinem Gesicht? Ha! sagt mein Gesicht auch, daß ich ihn nicht umgebracht habe – das ist ja ein vortreffliches Gesicht – hu! ich habe aber schreckliche Gesichter.«

Und er stierte in das wesenlose Reich des Nichts hinein. Ich faßte seine Hand fester, um ihn von seinen Träumen abzulenken, denn ich wollte ihn nur allmählich, ohne Sprung und Gewalt, in die Wirklichkeit hinüberführen.

»Hören Sie mich, Mylord, richten Sie Ihr Auge auf mich! Glauben Sie mir, Sie haben ihn in Wahrheit nicht umgebracht – er lebt.«

»Er lebt? Ach! Aber er haßt mich.«

»Auch das nicht – nein! Er liebt Sie – er betet für Sie.«

Jetzt schaute mich der alte Haushofmeister beinahe ebenso starr vor Verwunderung an wie der Marquis. Beide glichen Statuen von Stein, ihre Augen hingen an meinen Lippen, und die Stille, die diesen Augenblick um uns herrschte, war so tief, als wäre nichts Lebendiges im Zimmer gewesen.

»Er liebt mich – er betet für mich!« schrie der Greis plötzlich und rang die Hände; »dann werde ich verrückt, dann muß ich verrückt werden – Tat für Tat und Blut für Blut!«

Und er sank wie leblos in seinen Sessel zurück.

»Bringen Sie kaltes Wasser und einige Handtücher, Paul«, sagte ich zu diesem, der noch immer sprach- und bewegungslos dastand und nicht wußte, ob er meinen Worten trauen sollte oder nicht.

»Rasch, rasch, Paul! Wir dürfen jetzt nicht weiter fortfahren, es ist genug für heute.«

Der Mann holte schnell das Geforderte selbst herbei; wir machten dem Kranken kalte Umschläge über den Kopf und ich flößte dem widerstandslos Dasitzenden ein beruhigendes Mittel aus meiner Reiseapotheke ein.

Es wurde nichts weiter gesprochen; der, um den wir uns bemühten, litt ruhig Alles, was wir mit ihm vornahmen. Nur hielt er meine Hand fest, immer fester – die Nacht verstrich allmählich, schon brach der erste Schimmer des rosigen Morgens langsam herein – er hielt immer noch meine Hand. Endlich ließ er sie sanft los, die krampfhafte Spannung, die auf seinem Gesichte gelegen hatte, ließ nach – er war eingeschlafen.

Ich deutete auf ihn hin mit einem Blick auf den Haushofmeister.

»Kein Wort von dem, was wir gesprochen und Ihr von mir gehört habt«, sagte ich leise. »Niemand darf es wissen, er selbst nicht, wenn er erwacht – wir wollen sehen, ob es nachwirkt – Ihr versteht mich, Paul, nicht?«

»Ich weiß Alles, Sir, Alles – ach Gott! aber ich werde gehorchen!«

Und ich kehrte in mein Zimmer zurück, beinahe erschöpft von der Anspannung, in welcher ich meinen Geist hatte erhalten müssen.

»Es geht gut«, sagte ich zu mir, als ich allein war. »Aber handle ich hier? Oder handelt die Vorsehung? – Die Vorsehung ist es, die Vorsehung; sie, die allmächtige, hat mir in dieses Menschen Brust vorgearbeitet, und was ich noch daran zu tun habe, ist eitel Flickwerk!«

Jedoch fühlte ich an meinem Herzen, daß ich das schwache, aber willige Werkzeug in ihrer allmächtigen Hand war, – und ich war zufrieden damit.

»Percy!« sagte ich leise zu mir, als ich mich niederlegte, »Percy! jetzt können wir ruhig schlafen – deine Sache steht gut!«

 

In der Frühstunde des anderen Tages, noch bevor ich meinen ersten Morgenbesuch bei dem Marquis gemacht hatte, erschien Sir Mortimer, zur Jagd gerüstet, abermals in meinem Zimmer. Der erst halb verschlafene Rausch mit allen seinen Folgen lag noch scharf ausgeprägt auf seinen unschönen Gesichtszügen, er sah blässer aus als gewöhnlich und älter, seine Stimmung war grämlich, wie sie es gewöhnlich nach einer wüsten Nacht zu sein pflegt. Nachdem er mir frostig und eilfertig seinen Morgengruß geboten, redete er mich mit folgenden Worten an:

»Sie sehen mich gerüstet zur Jagd; ich komme Sie abzuholen. Kleiden Sie sich rasch an und folgen Sie mir.«

»Sir, es kann nicht Ihr Wille sein, mich meinen heiligsten Pflichten untreu zu machen, zumal ich mit den meinigen auch die Ihrigen erfülle. Wie ich schon gestern Ihre gefällige Einladung abgelehnt, so kann ich sie auch heute nicht annehmen – lassen Sie mich hier, ich bin jetzt notwendiger bei Seiner Herrlichkeit als je.«

»Gut denn, wenn Sie es so wollen. Ich habe es beinahe erwartet. Sie – Sie können mir auch hier dienen.«

»Gewiß, Sir, das ist auch meine Meinung.«

»Ja, Sir, ja – verstehen Sie mich recht! Doch kommen Sie, setzen wir uns traulich zueinander, ich habe mit Ihnen ein ernsthaftes Wort zu reden.«

Sir Mortimer sprach diese Worte, deren Inhalt mich verblenden sollte, offenbar, um mein Vertrauen zu gewinnen und mir das seinige anzudeuten, aber der Ton, mit dem er sie sprach, strafte seine Absicht Lügen; es lag nichts Trauliches darin, sie wurden kalt und so zuversichtlich, ich möchte sagen, befehlshaberisch ausgestoßen, daß der erfreulichere Sinn sogleich einen widerwärtigen Eindruck auf mich hervorbrachte.

»Sprechen Sie – ich höre!« erwiderte ich und setzte mich neben ihn auf das Sofa.

»Nun ja, mein lieber Doktor«, fing er an, »wenn Sie die Gesellschaft meines Vaters der meinigen vorziehen, so kann ich nichts dagegen haben.«

»Erlauben Sie, Sir, es ist hier nicht von der Gesellschaft, sondern von einer Pflicht die Rede.«

»Auch gut! Sie sehen, ich stimme Ihnen in Allem bei – wenn also Ihre Pflicht Sie hier zurückhält, womit ich zufrieden sein muß, da ich es nicht ändern kann, so können Sie mir, sage ich, auch hier sehr nützlich sein.«

»Von ganzem Herzen! Ich bin deshalb hierher gekommen.«

»Lassen Sie mich ausreden. Sie haben sich gestern hinreichend von dem Zustande meines Vaters überzeugt – hegen Sie noch große Hoffnungen?«

»Große nicht, aber einige doch, einige.«

»Nun gut, glauben Sie diesmal mir, es geht bergab mit ihm – die Visionen nehmen überhand und kommen sehr oft – er wird bald gar keine freie Zeit mehr haben – wie? Müssen wir das nicht erwarten?«

»Leider! wir müssen es erwarten!«

»Nun sehen Sie! Und also muß das, was geschehen soll und was ich wünsche, noch eher geschehen, als diese freien Zwischenräume aufhören.«

»Und was muß geschehen, wenn ich fragen darf? Was wünschen Sie?«

»Sie sollen es sogleich hören – hier haben Sie meine Hand, daß ich es ehrlich meine – denken Sie – ha! denken Sie, daß mein Vater – ohne Testament – die Welt verlassen wird?«

Ich erstaunte. Wie? Wäre es noch nicht geschlichtet? Doch ich verbarg mein Erstaunen hinter einer ungeteilten Aufmerksamkeit und erwiderte unbefangen:

»Ich dächte, das wäre nicht nötig, da Sie der einzige Erbe Seiner Herrlichkeit sind?«

Ich blickte ihn scharf bei diesen Worten ins Gesicht – aber der Mann, der neben mir saß, hatte ein eisernes Herz, er hielt unverrückt stand.

»Es ist so! Zweifeln Sie nicht!« erwiderte er. »Indessen sind einige Vettern aus einer nahen Linie da, die mehr oder weniger Anspruch auf meines Vaters Güter haben, und nur wegen dieser – Sie verstehen mich!«

»Wenn das ist, so wäre freilich ein Testament für diese Vettern wünschenswert, deren Wohl Ihnen so warm am Herzen liegt, obwohl ich noch nicht glaube, daß die letzte Zeit da ist –«

»Lassen wir das jetzt; wir sprechen vom Testament – und nun hören Sie, was ich Ihnen sagen will. Es ist allerdings eins vorhanden – schon vor Jahren von meinem Vater in Gemeinschaft mit einigen Gerichtsleuten entworfen und von diesen unterzeichnet, und darin stehen die Legate für alle Verwandte. Aber was die Hauptsache ist – mein Vater, sei es aus Laune oder Vorbehalt für diesen oder jenen Verwandten oder auch aus Furcht vor dem dadurch schneller herbeigeführten Tode, wie die alten Leute glauben – mein Vater, sage ich, hat sich nie entschließen können, dieses für uns Alle so wichtige Dokument früher zu unterzeichnen, als bis er selbst seinen letzten Augenblick gekommen fühlt. Falls er nun plötzlich stürbe, ohne es unterzeichnet zu haben, so würde eine allgemeine Verwirrung, ein Hin- und Herziehen, unaufhörliche Auseinandersetzungen und Gott weiß was! die Folge sein, und ich allein würde dabei die meiste Zeit und Mühe opfern müssen –« »Nun – und?«

»Sie sehen ein, daß daher mir, dem eigentlichen und Haupterben, Alles auf die Unterzeichnung ankommen muß, und da Sie vielleicht Gelegenheit finden und mein Vater vielleicht eine Frage an Sie richten könnte – so ist es mein Wunsch, daß Sie die Gelegenheit wahrnehmen und ihn zu dieser Unterzeichnung geneigt machen mögen. Daß ich Ihnen für diesen freundschaftlichen Dienst in der Folge erkenntlich sein werde, brauche ich wohl nicht noch hinzuzufügen.«

O! ich verstand die ganze, wunderschön ausgedachte List! Bereits fing ich an zu ahnen, warum der Marquis diese Schrift bis jetzt noch nicht unterzeichnet habe – er war mit sich noch nicht vollkommen einig – das Schwanken zwischen Recht und Unrecht verzehrte ihn und hielt ihn hin – so war es, so mußte, so konnte es nur sein.

Indem ich die Erkenntlichkeit Sir Mortimers in der Folge, die er mir anzudeuten die Güte hatte, nicht beachtete, sagte ich:

»Wenn er aber dennoch nicht unterzeichnen will?«

»Nun, dann ist es nicht Ihre Schuld! Doch wird einiges Zureden von Ihrer Seite helfen. Alter und Krankheit haben ihn zwar noch hartnäckiger, eigenwilliger gemacht, als er früher war, aber umso mehr müssen Sie ihm diesen gesetzlich rechtmäßigen Akt als notwendig und unaufschiebbar darstellen. Nehmen Sie also die Minuten wahr und – reden Sie ihm ins Gewissen. Sie verstehen mich!«

Ha! Das wagte mir der Unverschämte ins Gesicht zu sagen! Und mit einer solchen bedächtigen und überlegten Ruhe! Ich sollte seinem Vater zu seinen Gunsten ins Gewissen reden! »Ja, ja«, dachte ich, »das soll geschehen, nur weiter!«

»Und was dann?« fragte ich. »Ich sehe, Sie sind noch nicht zu Ende –«

»So ist es – noch eins bleibt uns übrig. Die Unterschrift meines Vaters nämlich muß von einem Arzte unterzeichnet werden, mit der ausdrücklichen Bemerkung, daß er sie aus freiem Willen und bei vollkommener Geistesklarheit geschrieben habe – Sie sehen also, wie nötig Eile ist.«

»Und wo steht dies geschrieben?«

»Geschrieben, Sir? Wie? Es ist für diesen besonderen Fall höchst wünschenswert – sehen Sie das nicht ein? Die Vettern könnten kommen und sagen: die Unterschrift ist zwar von heute, das Testament aber von gestern. Gestern war Seine Herrlichkeit bei Verstand – heute aber nicht – wir verlangen mehr! Wie? Ist Ihnen das nicht deutlich?«

»O! vollkommen – Sie haben Recht – und dann?«

»Dann unterzeichnen Sie!«

Und das wurde so bestimmt, so ganz in blindem Vertrauen auf mich gesprochen, daß ich meinen Unwillen kaum bezähmen konnte und mir Gewalt antun mußte, ihm nicht gerade ins Gesicht zu lachen. Wahrlich! eine schöne Zumutung für mich, dachte ich, mir, zu Gunsten Sir Mortimers, auf Kosten Percys, die Ablegung dieses Zeugnisses anzutragen!

»Ich werde keinen Finger breit von meiner Pflicht abweichen«, war meine Antwort; »ich werde alles so tun, wie ich es tun muß.«

»Das ist gut, Sir, sehr gut – ich sehe, Sie haben Einsicht in meine Sache – und eben das wünschte ich. Wir sind einverstanden.«

»Ja! ich kenne Ihre Absicht und Sie – meine Meinung!«

»Sie genügt mir – und nun, guten Morgen, Sir!«

»Eine glückliche Jagd, Sir!«

»Das sollen Sie mir nicht sagen – nun schieße ich nichts. Treffen Sie besser!«

»Ich fasse immer das richtige Ziel ins Auge!«

»Haha! Manchmal verfehlt man es doch!«

»Ich werde mir diesmal doppelte Mühe geben!«

»Das ist vortrefflich! Guten Morgen!«

»Guten Morgen, Sir!«

Hinaus ging er, mit dem Gedanken, einen Dummkopf hinter sich zu lassen; ich aber blieb zurück mit der Überzeugung, einen Schelm durchschaut zu haben!

Wollte er mich betrügen? Mich und noch mehr seinen Bruder? Ohne Zweifel! Wollte ich ihn betrügen? Heißt das betrügen, einem Bösewicht das nehmen, was nicht sein ist? – Gewiß nicht! Aber hatte ich ein Recht dazu? – Ja! Denn ich stand in diesem Augenblick als moralischer Anwalt für Percy hier, und auf seiner Seite war Alles, mein Gewissen, mein Gefühl, meine Überzeugung und – das Gesetz.

Nun erst wußte ich, wie und was ich für Percy, den edlen, rechtschaffenen, betrogenen Percy, tun mußte und tun konnte. Alles kam darauf an, den Marquis verständig zu leiten. Forderte dieser von mir das Rechte, so tat ich es mit allen Wünschen und Hoffnungen meiner Seele. Forderte er es nicht, so mußte ich ihm sagen, was das Rechte sei. Und das war ich denn zu tun entschlossen, mochte kommen, was wollte! Bis dahin ohne Sorge! Nur zu, kleiner Job! Jetzt wirf dein Senkblei bis auf den tiefen Grund – Gott wird helfen!

Kaum hatte ich dieses Selbstgespräch beendet, welches meinen Entschlüssen einen neuen Schwung und meinen Wünschen eine neue Richtung gab, als an meine Tür geklopft wurde und der Haushofmeister erschien. Auf seinem faltenreichen Gesichte lag eine Art von Heiterkeit, die ich an ihm noch nicht bemerkt hatte, denn er erschien gewöhnlich traurig und wehmütig gestimmt.

»Er ist fort, Sir!« sagte er mit einem eigentümlich frohlockenden Tone.

»Wer ist fort?«

»Sir Mortimer! Nun kommen Sie rasch hinauf, Mylord kann die Zeit nicht erwarten, bis Sie da sind.«

»Wie lange hat er geschlafen?«

»Bis vor einer Stunde – und ist ganz munter – o, was Sie ihm aber auch gesagt haben!«

»Was habe ich ihm denn gesagt?«

»Was? Sir! Sie wissen es nicht mehr? O!« rief der alte treue Diener mit erhobenen Händen aus, und eine große Träne rollte über seine gefurchte Wange hinab, »gestehen Sie es – ja, ja – Sie wissen noch viel mehr – Sie wissen vielleicht Alles!«

»Was Alles, Alter, ich verstehe Euch nicht –.«

»Nein, Sir, nein! Vor mir brauchen Sie sich nicht zu verstellen! War es mir doch gleich, da Sie kamen, als wäre endlich einmal ein guter, versöhnender Geist in unser trauriges Haus eingezogen – ha! und diese Nacht und – erröten Sie nicht – Sie waren so bewegt wie er und ich, ja, ja – als Sie von Mylord Percy sprachen –«

»Ihr nehmt Anteil an ihm?«

»Wie, Sir? Haben ihn denn diese Arme nicht getragen, den kleinen, guten, braven Percy?«

»Aber diese Arme haben vielleicht auch Sir Mortimer getragen –«

»Ach! leider! Das haben sie, aber wer kann in die Zukunft sehen! Und Beide waren Söhne desselben Vaters! – O, kommen Sie, kommen Sie, er weiß Alles – Alles weiß er – es ist, als wenn er es geträumt hätte. Wenn Mortimer fort ist, sagt' er, ruf ihn dann und geh hinaus, mein Herz ist aus einem langen Schlafe erwacht, ich muß zu einem Menschen reden – er muß mir Alles sagen, und auch ich muß ihm viel – viel sagen.«

»Aber wie ist es möglich – diese plötzliche Umwandlung?«

»Ein Funke, ein einziger kleiner Funke, Sir, und eine ganze Tonne Pulvers brennt los! Ach, die vielen Jahre, die vielen einsamen, trostlosen Jahre, und das lange, stille, ungestörte Nachdenken – und hier, diese ewig schreiende Stimme in der Brust und das Andenken an vergangene Zeiten – das tut viel, das tut sehr viel. Und da kamen Sie! Sie waren der zündende Funke, denn Sie haben gesagt: er liebt Sie! Das hat er mir nie glauben wollen, und auch dem Pfarrer, Mr. Graham, hat er es nie glauben wollen –«

»Ha! kennt Ihr ihn? Wo ist er?«

»Ob ich ihn kenne! und wo er ist? Wissen Sie denn das nicht? Ich denke, Sie wüßten Alles –«

»Ich weiß nichts, Alter; gar nichts weiß ich – kommt, kommt, wir wollen gehen!«

Der Haushofmeister sah mich mit einem ungläubigen Blick von der Seite an, als wir die Treppe hinunterstiegen. Konnte ich dafür, daß er in meinem Herzen gelesen, da seine Augen so voller Liebe und die Schrift in meinem Herzen so deutlich und verständlich war?

Vor der Tür, die er mir öffnete, blieb er stehen, gab mir noch einmal einen ermutigenden Wink, und ich trat allein in das Krankenzimmer.

Der Marquis saß wie gewöhnlich auf seinem Sessel, den er weder bei Tag noch bei Nacht verließ.

»Treten Sie näher, rasch, näher, Sir!« rief er mir schon entgegen. »Ich kenne Ihren Schritt schon und erschrecke nicht mehr davor. Guten Morgen, Sir, guten Morgen!«

Und er reichte mir die Hand hin, die ich am Abend vorher, bebend und mit kaltem Angstschweiß bedeckt, in der meinigen gehalten hatte; heute aber war sie warm, und ich fühlte deutlich ihren fast herzlichen Druck, was ein seltenes Ereignis bei Seiner Herrlichkeit war.

»Sie befinden sich wohl, Mylord, nicht?«

»Wohl? Ach nein, noch nicht! Aber doch wohler als gestern – ich habe geschlafen und – geträumt – nicht wie sonst geträumt –«

»Und was haben Sie geträumt?«

»Daß Sie bei mir waren und mir eine Geschichte erzählten, daß Sie – ha! sehen Sie, wie lustig die Sonne hereinscheint – daß Sie – Percy kennten – ha! wie mir der Name jetzt leicht wird! – daß Sie ihn – ihn gesehen haben –«

»Nein, wahrhaftig! das habe ich Eurer Herrlichkeit gewiß nicht gesagt!« rief ich unwillkürlich aus.

»Nein! das sage ich auch nicht – ich habe es ja nur geträumt. Ach, Sir, aber dennoch! das war ein süßer – süßer Traum!«

Ich schwieg und blickte ihn mitleidig, aber freundlich an. Ich war einigermaßen verlegen – ich hatte mir einen anderen Plan ausgedacht, wie ich ihn auf Percy bringen wollte, der mir, in Bezug auf seinen Gesundheitszustand, weniger stürmisch vorkam. Jetzt gab er selbst die Richtung an, und ich sann einige Augenblicke nach, wie ich ihn wohl am besten in meine Ideen hinüberleiten könnte. Aber mein Gesicht mußte während dieses kurzen Nachsinnens etwas Unbestimmtes, Schwankendes verraten, denn der Greis, der mich aufmerksam betrachtete, nahm meinen Gesichtsausdruck anders auf, er wurde wieder traurig und sagte in einem wehmütigen Tone:

»Ach! es war ja nur ein Traum, und ich bin immer noch sehr unglücklich!«

Dahin wollte ich ihn haben. Ich tat schnell meine gewöhnlichen Fragen nach seinem Befinden, deren Beantwortung mich in der Tat sehr befriedigte. Aber während ich noch mit ihm sprach, verschwand plötzlich der helle Schein der Zuversicht und der Freude – und vielleicht der Hoffnung – der bei meinem Eintreten so sichtbar auf seiner Stirn geglänzt hatte, und an seine Stelle trat eine düstere und verderbenschwangere Wolke, die sich schnell über seine verfallenen Züge verbreitete und ihnen jenes traurig kummervolle und zugleich unheimliche Gepräge verlieh, welches dieses Antlitz einem Fremden beim ersten Anblick darbot. Er seufzte und blickte schweigend mit seinem gewöhnlich unruhigen Auge nach der Decke des Zimmers empor.

»Hören Sie, Sir!« sagte er plötzlich halblaut und gab mir mit der Hand ein Zeichen, näher zu ihm heranzutreten, »kommen Sie einmal ganz nahe zu mir – so – ich will Ihnen im Vertrauen einmal eine närrische Frage vorlegen, die mich – ich weiß nicht warum – schon lange quält und mir soeben wieder einfiel. Kann ein Mensch, ein gesunder, kräftiger, junger Mensch«, lispelte er fast nur, »kann er, wenn man ihn unter Verrückte und Wahnsinnige einsperrt – den Verstand verlieren?«

Aha! Er ging also wieder seinen eigenen Weg und ich konnte ihm auf meine Art nicht beikommen; nun, wohlan! so will ich ihm auch auf diesem Wege entgegengehen. Dennoch war ich einen Augenblick unschlüssig, was ich ihm auf seine sonderbare Frage antworten sollte. Die Wahrheit durfte ich ihm nicht sagen, sie konnte schlimme Folgen haben. Ich sagte also dreist und laut:

»Nein, Mylord!«

»Still! nicht so laut, Sir, nicht so laut – es braucht Niemand weiter zu hören – also nein? wirklich nein? Das ist gut, das ist sehr gut – hören Sie weiter. Sind Sie schon mit Sir John im Bethlehem-Hospital gewesen?«

»Ja!« sagte ich, »sehr oft bin ich mit ihm dagewesen.«

»Es ist wohl schrecklich da?«

Und seine Augen starrten mich bei dieser Frage grinsend wie die eines verstandeslosen Menschen an, denn in meiner Antwort lag für ihn Leben oder Tod.

»Nein, Mylord, es ist nicht schrecklich. Unglückliche werden dort getröstet und Kranke geheilt – das ist nicht schrecklich.«

»So, so – sie werden getröstet – das ist schön. Ach!«

Und er schöpfte tief Luft; ich hatte ihn durch meine Antwort augenscheinlich etwas erleichtert, aber nur etwas, denn noch eine andere Frage schien auf seinem Herzen zu liegen; allein es mochte eine ungeheure und für ihn zu große Anstrengung kosten, sie auf die Lippen zu bringen. Daher fuhr ich fort:

»Auch habe ich noch andere Irrenanstalten in England gesehen, die mir noch besser gefallen als das Bethlehem-Hospital –«

»Welche – welche?« fragte er mit bebender Lippe.

Ich nannte ihm die mir bekannten, doch bemerkte ich keine Veränderung dabei in seinen Gesichtszügen, obwohl seine Augen mit der angestrengtesten Spannung an meinem Munde hingen. Da fügte ich schnell und leise hinzu:

»Auch in St. James bin ich gewesen!«

»Ha!« schrie er laut auf und fuhr zusammen, als wenn ihn ein Blitzstrahl getroffen hätte.

Schon bereute ich das gesprochene Wort – da schien er sich wieder zu erholen. Er faltete die Hände, drückte sie zusammen und preßte sie gegen seine Brust. Dabei murmelte er etwas, indem er den Kopf vornüber beugte, was ich aber nicht verstand.

»Sie sind dagewesen?« stotterte er endlich.

»Ja, Mylord! Sogar längere Zeit, kennen Sie es auch?«

»Nein, nein, nein! ich kenne es nicht!« schrie er beinahe. »Fragen Sie mich nicht – kennen Sie jemanden da?«

»Ich kenne Viele da, Mr. Elliotson, den Direktor –«

»Hm! Ja – hm!«

»Mr. Lorenzen, den Oberarzt«, und ich nannte ihm alle mir bekannten Namen der Beamten her.

»Es sind viele Kranke und Unglückliche da?«

»Sehr viele, Mylord!«

»Kennen Sie Jemanden davon?« keuchte er mit großer Anstrengung und kaum verständlich hervor. »Ich meine, Einen oder den Anderen dieser – dieser Unglücklichen?«

»Ach so – o ja! ich kenne Viele.«

Und um der peinlichen Szene ein Ende zu machen, fügte ich hinzu:

»Wenn Sie mir nur den Namen nennen wollten!«

»Ha! der Name! Kommen Sie her – näher! ganz nahe! – Kennen Sie nicht – sahen Sie nicht – still! Mortimer ist doch nicht da – Mr. – Mr. Sid –«

»Sidney!« rief ich. »Ja, den – den kenne ich sehr gut!«

Kaum aber war der Name meinen Lippen entflohen, so hörte ich laut aufschreien – er sank zurück – Leichenblässe bedeckte sein Gesicht, aber nur einen Augenblick – dann hörte ich einen seltsamen Ton – dann Schluchzen, lautes Schluchzen – seine Hände griffen nach mir, sie umschlangen mich – sie zogen mich an seine Brust ich stand über ihn hingebeugt und er drückte meinen Kopf an sich. Tränen rannen über sein Gesicht und er weinte laut.

Das dauerte einige Minuten; dann sich die Tränen abtrocknend, sagte er mit einem ganz veränderten Tone und einer durchaus anderen Stimme und sah mich friedlich lächelnd dabei an:

»O, warum haben Sie mir nicht früher gesagt, daß Sie meinen – Percy kennen?«

»Mylord! wie konnte ich wagen – wie konnte ich hoffen?«

»Warum nicht, warum nicht? Hat er Ihnen denn nichts von mir gesagt? – Keinen Gruß, gar keinen Gruß?«

»Ach, Mylord, ich habe es Ihnen schon gestern gesagt: er liebt Sie, er betet für Sie – war das nicht ein hinreichender, verständlicher Gruß?«

»Es ist gut, es ist gut, Sir – schweigen Sie. Ich sehe es, Sie wissen Alles, Sie kennen meine Tat, meine schreckliche Tat, doch nicht meinen unglücklichen Charakter und – wie ich dazu kam. Sie sollen es aber hören. Jetzt muß ich allein reden, ich ganz allein, und nicht eher unterbrechen Sie mich, als bis ich die traurige Geschichte zu Ende erzählt, denn ich habe auch eine zu erzählen, und aus meiner Aufrichtigkeit sollen Sie schließen, ob ich es ehrlich mit Ihnen, mit mir meine. Da – da, setzen Sie sich, aber behalten Sie meine Hand, und wenn Sie Abscheu gegen mich fühlen, ziehen Sie die Ihrige von mir fort – ha! ich bin ein großer Sünder gewesen; aber Gott wird mir noch vor meinem Ende die Gnade gewähren, zu beichten, und Sie – Sie sollen mein Beichtvater sein.«

Ich setzte mich dicht vor ihn hin und hörte folgendes merkwürdige, in abgebrochener Redeweise vorgetragene Selbstgericht:

»Ich war ein stolzer Mann – ein eigensinniger, ein leidenschaftlicher Mann! Ich habe niemals ein Weib geliebt, und das – das ist das Härteste, was ich von mir sagen kann. Vor etwa neunundzwanzig Jahren – ich war damals schon einundvierzig – sah ich ein achtzehnjähriges Mädchen – die Tochter des Viscount von Dunsdale – ha! und zum ersten Male in meinem Leben erfaßte mich eine brennende Leidenschaft, eine Leidenschaft, die meine Vernunft umnebelte und mich zum Tiere erniedrigte. Denn je später eine solche Leidenschaft kommt, um so unnatürlicher tritt sie auf. Was ich tat – ach! was ich tat, Sir, das erlassen Sie mir zu erzählen – es soll ewig begraben und vergessen sein. Aber ich war zu stolz, zu nichtswürdig stolz, sie zu meinem Weibe machen zu wollen – denn ich wollte in keiner Art Sklave sein – doch ward ich gezwungen dazu, gezwungen von ihren Verwandten, von meinen Verwandten, und von der ganzen Welt gezwungen. Es war der erste Zwang, den ich erlitt, und es war genug, in mir den glühenden Durst nach Rache zu entzünden – und ich rächte mich. Auf Percy, meinen ältesten Sohn – auf ihn warf ich von seiner Geburt an die größte Hälfte meiner Rache, die andere blieb mir für seine Mutter. Denn er war ja für mich der unauslöschliche, lebendige Vorwurf meiner unwürdigen Leidenschaft, in ihm haßte ich mich selbst, denn er war ja auch die alleinige Ursache meines gedemütigten Stolzes und meiner unfreiwilligen, durch nichts abzuschüttelnden Knechtschaft. Ich verabscheute ihn, wie ich die verabscheute, die ihm wider meinen Willen das Leben gegeben hatte. Darum konnte ich ihn niemals sehen, ohne diesen Abscheu, diesen Ekel vor mir selbst zu empfinden, und ich entfernte ihn, ich schleuderte ihn von mir, wie man einen Skorpion von sich schleudert, der uns verwundet und unser Herzblut vergiftet hat. Aber, aber – die Vorsehung ist gerecht, und mit denselben Mitteln, womit wir ihr Hohn sprechen, bestraft sie uns – verwundern Sie sich nicht, aber verachten Sie mich – trotz meines Abscheus wurde ich noch einmal der nichtswürdige Sklave meiner blinden Leidenschaft. Diesmal konnte man mich aber nicht zwingen, die Mutter meines zweiten Sohnes zum Weibe zu nehmen; denn sie war schon mein Weib, die meines zweiten Sohnes Mutter wurde. Darum aber war mir Mortimer auch nicht zuwider, seine Existenz hatte mich nicht erniedrigt, und in meinen Augen war er nur mein einziger Sohn. Ich wollte an ihm wieder gut machen, was die Natur und Percy, meiner blinden Zuversicht nach, an mir schlecht gemacht hatten, und darum liebte ich diesen Mortimer, so gut ich lieben konnte. Aber, Sir, was soll ich Ihnen noch weiter von mir sagen – ich bin beinahe zu Ende, denn Alles, was noch übrig ist, war die Frucht dieser gottlosen, durch Haß und Abscheu entstandenen Liebe. Denn dieser Mortimer war ein Bube – er schmeichelte mir, er heuchelte vor mir und er beherrschte und verdarb mich mit seiner Schmeichelei – und ich beschloß: er soll mein Erbe sein.

Da kam Percy zu mir, den ich haßte, Percy, den ich nicht sehen konnte, ohne unwohl zu werden und ohne mich selbst verdammen zu müssen – und ich war grausam gegen ihn, der unschuldig an meinem Hasse war: ich jagte ihn von meiner Tür.

Da kam aber auch Mortimer zu mir und sagte: Vater! Percy trotzt nicht allein deinem Willen und deiner Absicht auf mich, deinen Erben – Percy ist nicht allein ein ungehorsamer Sohn, nein! Percy will auch deinem stolzen, reinen Namen einen Flecken anhängen, er will ein armes, namenloses Mädchen zum Weibe nehmen und so dein Blut besudeln und deinen Stammbaum verunreinigen. Da siehst du, was Percy ist, da erkennst du deinen Sohn und wenn du es hindern willst, so hindere es bald, sonst wird er dich zwingen, zu tun, was ihm beliebt. Sieh! ich will dich unterstützen, ich weiß eine gute Schule für ihn, denn dein lieber Sohn Percy ist wahnsinnig geworden – Das ist er! rief ich in meinem Zorn, und er soll mir büßen – büßen für mich und für sich – und ich will das Andenken an ihn aus meinem Geiste verlöschen. Gehe und tu' mit ihm wie mit einem Wahnsinnigen. –

Und er tat mit ihm wie mit einem Wahnsinnigen; und ich litt es, daß er es tat, noch mehr, ich – ich, sein eigener Vater – trieb ihn dazu. Da, da ward es Nacht um mich – ach! Graham hat es mir wohl und oft gesagt: Gott würde mich strafen, denn obgleich ich ein reicher, vornehmer und gewaltiger Mann sei, Gott habe doch mehr Gewalt als ich. Ich verlachte ihn, denn ich glaube, ich war selbst wahnsinnig in meinem Zorn. Aber er ließ noch nicht von mir ab, dieser Graham. Wie er sich früher mit Paul dem Abschlusse meines Testamentes widersetzte, wogegen auch alle Gerichte waren, so widersetzte er sich jetzt noch – er ging sogar an einem Morgen soweit, mir zu drohen, dieser Graham. Da wies ich auch ihn von meiner Tür und beschimpfte ihn, wie ich Percy beschimpft hatte, er ging, und – ich habe ihn nicht wiedergesehen.«

»Und das Testament?« fragte ich bebend.

»Ja, das Testament! – Gott sei Dank! ich hatte einmal eine gute Stunde – und Graham hatte mir diese verschafft – und ich ließ zwei Testamente machen – eines für Mortimer und eines für Percy, denn die Gerichte wollten es so und ich sah ein, daß es gut war, eine Hintertür zu haben, durch die ich entschlüpfen konnte, wenn etwa Gott käme und stärker sein wollte als ich – und – Graham sei gesegnet! diese beiden Testamente habe ich noch – und keines ist unterzeichnet!«

Ich war stumm vor Erstaunen – vor Rührung – vor Entrüstung – tausend Gefühle strömten durch meine Brust – dieser edle Graham! dieser edle Vater! Da fuhr er fort:

»Jetzt aber, jetzt ist der Augenblick gekommen – Gott ist da und ist stärker als ich und er hat es mich empfinden lassen – ich will unterzeichnen und Sie – Sie sollen mein Zeuge sein! – Da, hier!« rief er fast atemlos, »schnell! wir sind allein – hier ist der Schlüssel.«

Und er riß einen Schlüssel von einer Schnur, die an seinem Halse hing.

Jener Schrank da – schließen Sie auf – so, so – das ist recht – in dem Fache links muß es liegen – recht, recht – geben Sie her!«

Ich gab ihm ein kleines Paket Papiere, unter denen sich, obenauf liegend, das Testament zu Gunsten Mortimers befand.

»Geben Sie mir die Feder da«, fuhr er hastig fort, »und schieben Sie den Tisch heran – so, so – es ist gut.«

Ich schob den Tisch heran und gab ihm die Feder – er schrieb mit raschem, bebendem Zuge seinen Namen und seinen Titel mit dem Datum des Tages unter das Papier.

»Was tun Sie, was tun Sie da?« rief ich entsetzt aus. »Es ist das Testament zu Gunsten Sir Mortimers!«

»Sir!« antwortete er ruhiger als zuvor. »Glauben Sie, daß ich nicht weiß, was ich tue? So viel Verstand habe ich noch und – Sie werden sehen! Und nun unterzeichnen auch Sie und bemerken Sie dabei, daß ich vollkommen gesund und meines Verstandes mächtig bin – denn so will es mein lieber Sohn Mortimer.«

»Nein!« rief ich. »Nun und nimmermehr! Das wäre ein schändlicher Betrug!«

Und ich begann daran zu zweifeln, daß er seines Verstandes mächtig sei.

Der Marquis sah mich mit einem sonderbar verwunderten Blick an – er schien in diesem furchtbaren Momente lächeln zu wollen – seine Hand zeigte gebieterisch auf das Papier, das ich in meiner Hand hielt, und zum ersten Male sah ich einen leuchtenden, triumphierenden Ausdruck in seinen sonst so erloschenen Augen glänzen. Frohlockend rief er:

»Schreiben Sie getrost! Gott sieht es, was ich tue und was Sie tun – denn Gott ist mir jetzt nahe!«

Ich verstand ihn, glaubte ihn wenigstens zu verstehen, und ich unterschrieb das Blatt, wie Mortimer und sein Vater es gewünscht hatte.

Als ich fertig war, reichte ich ihm das Papier hin – er hielt es prüfend in seiner Hand, sein frohlockender Blick lief pfeilschnell darüber hin.

Da ging die Tür schnell auf und der Haushofmeister stürzte atemlos herein.

»Halten Sie ein, Mylord – Sir Mortimer kommt – soeben steigt er vom Pferde!«

Der greise Vater blickte in die Höhe – sein Lächeln wurde strahlend, würdevoll, als wäre es ihm von einer höheren Macht eingehaucht, und er sprach kein Wort als:

»Er kommt von Gott! Laß ihn herein – ich will ihn betrügen, wie er mich hundertfach betrogen hat!«

In diesem Augenblick trat Mortimer ein. Sein Gesicht ward, als er unser ansichtig wurde, unwillig gerötet – er überlief uns mit einem schnellen Blick – dann blieb er stehen und sagte:

»Nun, was ist denn geschehen? Was blickt Ihr mich so verwundert an?«

»Mortimer!« rief der Vater mit einem schrillenden Tone, der mir wie ein Messer durch das Herz fuhr, »Mortimer! Sieh da mein Testa – ment!«

Mehr konnte er nicht sagen – die geistige Aufregung, die ihn so lange kraftvoll erhalten, war vorüber – er brach wie ein geknicktes Rohr auf seinem Stuhle zusammen, seine frühere Furcht und Angst hatte ihn wieder ergriffen. Zitternd vor Schreck und Besorgnis, er könne in diesem entsetzlichen Augenblick sein Leben aushauchen, eilte ich zu ihm hin.

Mortimer aber, der glückliche Mortimer, das für ihn so verhängnisvolle Blatt in der Hand haltend und überfliegend, hatte nur eine Empfindung, und diese Empfindung trat, zum Lesen deutlich, auf sein wildes Gesicht. Es war die Empfindung des Frohlockens und des berauschenden Triumphes, endlich den Schritt vollendet zu sehen, um dessenwillen er alle seine schwarzen Taten verübt und dessen Beendigung er noch nicht so nahe geglaubt hatte.

Wie groß aber und wohlberechnet ist Gottes weise Allmacht! Wohl begabt er den Bösewicht mit Stärke und List, seine finsteren Taten zu erdenken und zu vollführen, aber er versagt ihm den gesunden geraden Blick des guten Menschen, der zur rechten Zeit den Wechsel seines Schicksals erkennt und anhält im Laufe, wenn er den Abgrund des Verderbens vor sich geöffnet sieht – er schlägt ihn mit Blindheit da, wo er den größten Scharfblick haben sollte im Erkennen seines Irrtums. Einmal von seiner Leidenschaft fortgerissen, hält er nicht eher an, als bis er an das Ziel alles Vergänglichen gekommen ist und einsieht: es ist zu spät, wieder umzukehren und von vorne anzufangen.

Hätte Mortimer in seiner blinden Zuversicht es verstanden, unsere entsetzten Gesichter zu entziffern, als er plötzlich und unerwartet in einem so bedeutungsvollen Augenblicke zu uns trat, er hätte etwas Anderes getan als frohlockt, und über seinen gewissen Sieg das Wichtigste vergessen: die Prüfung des Vertrauens seines mißhandelten Vaters und des Verdienstes seines eigenen Selbst – so aber sah er nur auf sein Testament, und er lächelte und glaubte sich selbst – und er war mit sich selbst zufrieden.

»Ich danke Ihnen, Sir!« sagte er eilfertig zu mir, indem er das inhaltsschwere Papier auf den Tisch legte, »ich danke Ihnen – bringen Sie ihn wieder zu sich. Nun kann ich ruhig zu meiner Jagd zurückkehren, denn ich weiß jetzt, was mich eigentlich hertrieb und warum ich kam. Ich habe es erreicht! Leben Sie wohl!«

Und hohnlächelnd grüßend, schritt er noch einmal so stolz zur Tür hinaus, als er hereingetreten war, ohne jedoch einen einzigen Blick auf seinen Vater zu werfen, der, wie es den Anschein hatte, sterbend in meinen Armen lag.

Aber die Szene war noch nicht vorüber – es war dies bloß der erste Akt eines Schauspiels, dem ein zweiter, wichtigerer, schönerer folgen sollte, wie man es so oft sieht, daß das Böse zuerst über das Gute triumphiert, zuletzt aber, dennoch bewältigt von der Allgewalt des Guten und Unvergänglichen, in den Staub getreten wird.

Ich stand noch erschüttert von den eben erlebten Ereignissen da – ich bebte noch vor Erwartung, denn obgleich ich dem äußeren Anblick nach wohl zweifeln konnte, so trug doch mein Herz kein Bedenken mehr, daß jetzt noch etwas Anderes vorgehen müsse.

Und es ging vor. Kaum war Mortimer hinaus – der Haushofmeister war, auf das Äußerste erschüttert, im Zimmer zurückgeblieben – da kam Mylord Seymour wieder zu sich und erhob sich in seinem Sessel.

»Ist er hinaus?« flüsterte er und blickte sich im Zimmer um.

»Ja, Mylord, ja – er ist hinaus.«

»Zu – geschwind die Tür zu – so – und nun – da, da«, fuhr er fort und riß mir das Blatt aus der Hand, welches ich wieder genommen hatte, und betrachtete, und gab es dem Haushofmeister hin, »fort – fort damit – da, in die Flammen – in den Kamin!«

Der Haushofmeister warf einen Blick auf seinen Herrn, einen Blick auf mich und noch einen auf das Testament – es war der wichtigste Augenblick in Mortimers Leben gekommen, aber er ging schnell vorüber wie alle Wendepunkte im menschlichen Dasein. Denn der Haushofmeister ging festen Schrittes, wie es das Bewußtsein einer guten Tat ihm erlaubte, nach dem Kamin; das Haupt zu seinem Herrn gewandt, den Arm mit dem Papier vor sich gestreckt, so näherte er sich dem Feuer, welches knisternd und prasselnd in dem alten Kamine aufloderte. Noch einen Blick, noch eine Pause und ein Wink von dem ihn anstierenden Auge seines Herrn, und er warf, wie man mit Abscheu etwas Befleckendes von sich wirft, das Papier auf die glimmenden Kohlen.

Ein Augenblick verging, ein einziger Augenblick, lautlos, aber schnell – da schlugen die Flammen um das Papier herum – sie verzehrten es – und noch ein kurzer Augenblick, und ein brenzlicher Rauch wälzte sich an die hohe Decke des Zimmers empor – das war das ganze Glück und die ganze Seligkeit des im Rausche seines Sieges davoneilenden Mortimer!

Wir standen sprachlos und ergriffen da – ein einziger erleichternder Seufzer entfloh unserer beklommenen Brust – er war das Sterbegeläute vieler glühender, soeben zu Grabe gegangener Hoffnungen – aber unsere starren Blicke waren noch immer auf die gierig leckenden Flammen gerichtet, die, nachdem sie ihre Schuldigkeit getan, sich ebenso schnell beruhigten und leise knisternd an den Kohlen herumnagten, als hätten sie nur ein gemeines Stück Papier verzehrt.

Der Marquis war der erste, der die Stille unterbrach.

»Nun, Paul – hier ist der Schlüssel!« Und er riß sich abermals einen Schlüssel vom Halse und gab ihn dem Diener, der ihn zitternd empfing. »Schließ auf – schließ auf, hinter mir – im Sessel – du weißt ja!«

Paul tat mit eiligen Händen, wie ihm befohlen war, und zog ein ähnliches Dokument, wie das soeben verbrannte, aus einem in dem Sessel verborgenen Kasten, worauf der Marquis Tag und Nacht, wie eine Henne brütend, gesessen, und reichte es ihm hin – es war das Testament zu Gunsten des erstgeborenen Sohnes.

»Die Feder!« rief er.

Er nahm die Feder und unterschrieb, dann reichte er mir das Blatt. Ich unterschrieb es mit denselben Worten, wie ich das vorige unterschrieben.

»Und nun, Paul, du auch – unterzeichne, du bist unser Zeuge.«

Paul nahm, vor Freude und Schrecken zitternd, das Blatt, die Feder und unterschrieb als Zeuge.

Da sahen wir alle Drei uns an und atmeten tief auf – das Werk war vollbracht. Percy war der unbestrittene Erbe des ehrenhaften Namens seiner Väter, wie er es nicht anders sein konnte und durfte.

 

Am Abend dieses ereignisreichen Tages saß ich wieder bei meinem Kranken, der kaum noch krank zu nennen war, denn die geistige Last, die von seinem Herzen genommen war, hatte seine körperlichen Leiden wie mit der verhängnisvollen Schere der Parze abgeschnitten. Ich hatte Muße genug, die einzelnen Begebenheiten mit ihm durchzusprechen, die uns Beiden kein Geheimnis mehr waren.

Mortimer, der allzuglückliche Mortimer, saß unterdessen wieder mit seinen Gästen an seiner schwelgerischen Tafel und berauschte sich in zweifachem Weine, in dem Weine der Keller seines Vaters und in dem ungleich duftigeren seines unzerstörbar gewähnten Glückes.

Für mich war noch eins zu tun übrig, ehe ich schied. Ich mußte die Art und Weise ins Reine bringen, wie Percy zu seinem Vater zurückkehren sollte, und sein Vater selbst mußte mir die Mittel dazu an die Hand geben.

Ich hielt die Erreichung dieser Absicht für leicht, nachdem das Wichtigste, die Versöhnung, vorhergegangen war.

»Und nun kann ich ihn wiedersehen – zum ersten Male will ich meinen Sohn sehen!« sagte der Marquis zu mir, »denn Sie beteuern mir, er habe mir vergeben!«

»Und wo wollen Sie ihn sehen, Mylord?« fragte ich.

»Hier nicht, hier gewiß nicht – ich bin nicht mehr krank und brauche also keinen Arzt mehr in meiner Nähe, auch gefällt es mir in diesem Hause nicht. Ich werde morgen nach Codrington-Hall gehen, ich bin stark genug dazu. In demselben Hause will ich ihn väterlich wieder aufnehmen, aus dem ich ihn so unväterlich gestoßen habe, in demselben Zimmer will ich ihn segnen, wo ich ihm geflucht habe.«

»So sei es!« sagte ich, »das wird auch das beste sein; er wird zum ersten Male nach Codrington gekommen zu sein glauben und wird zum ersten Male seinen Vater sehen, den er noch nicht kennengelernt hat.«

»Aber wie werden Sie ihn zu mir führen?« fragte mich Lord Seymour mit einer Miene, die mich überraschte, weil sie mir wieder ängstlich und geheimnisvoll vorkam.

»Auf Ihr Geheiß, Mylord«, sagte ich, »Sie geben mir Ihre Befehle dazu schriftlich – damit wird es leicht sein, ihn aus seinen Banden zu lösen.«

Der Greis schien in ein peinliches Nachdenken versunken zu sein, er schüttelte den Kopf, und sich ängstlich umschauend, sprach er leise:

»Nein, Sir! Das kann ich nicht!«

»Wie?« rief ich, »das können Sie nicht?«

»Still, still – Mortimer möchte uns hören – wissen Sie denn nicht, daß ich noch einen Sohn habe und daß dieser Sohn Mortimer ist?«

»Wie?« stammelte ich, denn ich ahnte schon den traurigen Grund seiner neu erwachten Furcht.

»Nein, nein! Darf ich das wagen, da Mortimer um mich ist? Wenn er es erführe – wenn er es später auf irgendeine Weise erführe, daß ich – ich selbst ihn ausgelöst habe – ohne seine Einstimmung – schriftlich? Nein, das darf ich nicht!«

Ich betrachtete den von neuer Qual gefolterten Greis mit dem größten Erstaunen und der heftigsten Aufregung. Diese Weigerung hatte ich nicht im Geringsten vermutet.

»Warum können Sie das nicht? Sind Sie nicht Ihr eigener Herr? Sind Sie nicht der Marquis von Seymour und haben Sie nicht selbst –«

»Ach, Sir! Sie vergessen, was Mortimer ist. Er würde mich umbringen – in der Nacht – im Schlafe – und wenn ich mich schon vor Percys Gesicht fürchtete – sein Gesicht würde mich vernichten.«

»Ha!« rief ich, »also Furcht vor Mortimer?«

»So ist es, ja, so ist es!«

»Aber«, fuhr ich fort, »wenn er nun von selbst käme, wie dann? Wenn er zu Ihnen flüchtete – zu Ihren Füßen an Ihre Brust sich stürzte – fürchten Sie auch dann noch?«

»Nein, nein! Wenn er von selbst käme, so wäre das etwas ganz Anderes, und wenn er erst bei mir ist, so wird Percy mich gegen Mortimer schützen. Aber wo sollte ich den Mut hernehmen, ihm die Wahrheit zu verbergen, wenn er mich fragte: Hast du ihn hierhergerufen? Ach, ich bin so schwach, wenn Mortimer mich ansieht!«

»Gut! So soll er selber und aus eigenem Antriebe kommen, und – Mylord, darf ich bei ihm sein?«

»O, Sir, kommen Sie mit ihm, ja, kommen Sie mit ihm – ich habe Ihnen zu danken – dann meinen Dank – aber eher nicht, Sie müssen Ihr schönes Werk vollenden – und ich – ich muß ihn erst sehen – haben – halten – erst muß er mich retten, vor Mortimer retten, dann meinen Dank – meinen väterlichen Dank –«

Und so war es beschlossen.

Am nächsten Morgen stand ich reisefertig vor dem Marquis von Seymour; Sir Mortimer war zugegen.

»Ich gehe«, sagte ich, »denn Eure Herrlichkeit bedürfen meiner nicht mehr.«

»Ich gehe auch!« sagte Mylord Seymour, »nach Codrington-Hall. Gehst du mit mir, Mortimer?«

»Ich gehe voraus!« erwiderte dieser sinnend, »ich habe noch einen kleinen Umweg zu machen – ein Geschäft, das ich selbst zuvor verrichten muß, doch denke ich vielleicht schon vor dir da zu sein und somit sage ich dir bis dahin Lebewohl.«

Damit drehte er sich herum und wollte gehen, denn von mir hatte er bereits Abschied genommen.

»Mortimer!« rief der greise Vater.

»Ja, was willst du noch?«

»Du gehst – du könntest deinen Vater nicht wiedersehen – da – meine Hand –«

Mortimer ergriff kalt die Hand seines Vaters – die arme Hand, sie konnte ihm ja Nichts mehr geben!

»Früher küßtest du die Hand –«

»Ich küsse sie noch!« rief Mortimer und beugte sich schnell auf die Hand seines Vaters, »Adieu!«

Und mit seinen gewöhnlichen lauten und derben Schritten ging er zur Tür hinaus.

»Geh!« dachte ich, »geh! Wenn du vor ihm in Codrington-Hall ankommst, empfängt dich das Gespenst von St. James!«


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