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23. Kapitel

Kurz vor Tagesanbruch endlich trennten wir uns, nicht um zu ruhen, sondern um uns zu sammeln, zu fassen und für die nächsten Tage und Handlungen eine bestimmte Richtung zu gewinnen.

Ich warf mich halb angekleidet auf das mir zugewiesene Lager, denn ich hatte viel zu bedenken, zu ordnen, vorzubereiten. Das begonnene Stück war noch lange nicht zu Ende gespielt, erst der lange Vorakt war hinter uns; der Knoten war geschürzt, aber er mußte gelöst werden. Doch die Sonne der Zukunft ging im Halbschlafe strahlend vor mir auf, sie blendete mich zwar, aber sie kräftigte und erleuchtete mich auch. Ich fuhr empor – die wirkliche Tagessonne selbst schien mir warm ins Gesicht. Ich hatte einen Augenblick geträumt, also hatte ich auch geschlummert – ach! wie erquickend war mir diese Sonne, wie anders war ihr Glanz als an irgendeinem vorhergegangenen Morgen! Sie rief mich wach, um mich des gefundenen Schatzes bewußt, freudig bewußt werden zu lassen und mich von allen vorübergegangenen Sorgen und Zweifeln zu entlasten, sowie einem neu erwachten Glücke entgegenzuführen.

Ich war noch nicht ganz mit meinem Umkleiden fertig, als Sir Robert schon in mein Zimmer trat. Aber nicht mehr der duldende, traurige, gedrückte Pfarrer Graham kam zu mir, nein! er war ein anderer Mann geworden. Lebhaft verlangend, freudig stand er vor mir, und seine gestern noch eingefallenen Wangen waren heute von der unvergänglichen Jugend des aufgelebten Herzens frisch gerötet.

»Kommen Sie, Sir!« rief er jubelnd. »Kommen Sie an unsern Teetisch – Sie sollen meine Ellinor kennenlernen, wie sie früher war; sie ist mir wiedergegeben, wiedergeboren – ich habe mein Kind, meine Ellinor wieder!«

Sogleich gingen wir hinab in das Zimmer, wo wir am vergangenen Abend gewesen waren. Aber es war kein Krankenzimmer mehr, jede Spur des Leidens war daraus entfernt. Blumen, frische, duftende Blumen prangten auf den Tischen und von den Fenstern; es war ein Festtag, der uns entgegenlachte. Und da war Ellinor mit den Blumen beschäftigt, die sie lange nicht mehr gewartet hatte, selbst die schönste, frischeste Blume – wo war die krankhafte Blässe, die hinschmelzende Traurigkeit, der verödende Schmerz auf ihrem Antlitz geblieben? Wie eine Rose, die am heißen Mittag, des Taues entbehrend, ihr Haupt senkte, nun, vom Abend erfrischt, gelabt, ihren duftenden Kelch wieder geöffnet hat, stand sie da; die spielenden Locken umflossen glänzender ihre glatte Stirn, freudige Wallung hob ihren Busen, und wie die Morgenröte eines jungen Maitages funkelte das süße, nur ihr eigentümliche Lächeln auf ihre rosigen Wangen. Freudestrahlend streckte sie mir ihre beiden Hände entgegen.

»Nun?« fragte ich, »und wie nun? War ich ein guter und ein besserer Arzt, als der andere, den ich wider Ihr Wissen fortgeschickt?«

»Ach, mein teurer Freund!« erwiderte sie und preßte meine Hände in die ihrigen, »ja! Sie hatten den Tau, Sie hatten den Regen für dies welke Herz – sehen Sie, wie es mich gestärkt hat – alle Angst und Beklommenheit ist fort – ich fange wieder von Neuem an zu leben!«

Und nun ging es wieder an die noch übrigen Mitteilungen und Erklärungen, während wir unser Frühstück einnahmen und uns wechselweise einer an dem Andern ergötzten.

Die mir aber wiederholt von beiden Teilen vorgelegte Frage, wo Percy sei und was ihn verborgen gehalten habe, wies ich, mir selbst ein unverbrüchliches Stillschweigen auflegend, von mir ab, indem ich Ellinor und ihren Vater darauf aufmerksam machte, daß dies nicht mein, sondern allein Percys Geheimnis sei und daß, wenn ich auch von ihm befugt sei, ihnen Alles zu eröffnen, ich es doch der Wichtigkeit des Falles und der gegenwärtigen Sachlage gemäß ihm allein überlassen müsse, ob er irgendetwas davon mitteilen wolle oder nicht.

Zu diesem Rückhalte hatte ich mich aus doppelten Gründen entschieden. Einmal hatte der Marquis von Seymour seinen Willen in Bezug auf Percy geändert und den Weg der Milde eingeschlagen. Daher mußte ich dankbar gegen ihn sein und durfte sein früheres, in einem entsetzlichen Momente ausgeführtes und so innig bereutes Verbrechen nicht enthüllen. Sodann aber, wie konnte ich den reinen Glanz der Freude in Ellinors Herzen dadurch trüben, daß ich das Gehässigste, was es für Percy auf der Welt gab, diesen Schandfleck in seiner eigenen Familie, seine Einsperrung in ein Irrenhaus, denen aufdeckte, für die es auf ewig das außerordentlichste, fürchterlichste und abscheulichste Ereignis sein und bleiben mußte. Für sie war es viel besser, noch einige Tage in Unwissenheit und Unruhe über seinen Aufenthaltsort zu verharren, als durch einen neuen Kummer das Entzücken, endlich ihn wiederzuerhalten, weniger rein zu empfinden. Wußte ich doch nicht, ob Percy in seinem Edelmute nicht selbst Alles aufbieten würde, diesen bittersten Tropfen seines Lebens aus dem Kelche des Glückes seiner liebenswürdigen Gattin fern zu halten und sie über die letzten vier entschwundenen Jahre wie über einen düsteren, nebelgleichen Traum in Ungewißheit zu lassen. Wenigstens er nur allein konnte hierüber urteilen und beschließen, daher durfte ich durch eine voreilige Enthüllung ihm nicht zuvorkommen.

Es gelang mir auch, Beide zu überreden, daß Unwissenheit in diesem Punkte besser sei als Aufklärung, und sie begnügten sich vollkommen mit meinem Versprechen, Percy selbst in längerer oder kürzerer Zeit ihnen zuzuführen und von ihm alle näheren Aufschlüsse zu erwarten.

»Und wie lange wird seine Abwesenheit noch dauern?« fragte Ellinor leise erbebend.

»Das weiß ich nicht!« war meine Antwort. »Über vierzehn Tage aber, denke ich, dauert es gewiß nicht; doch hängt es von Zufällen ab, welche herbeizuführen keineswegs in unserer Macht steht.«

»Er ist also noch immer gebunden?«

»Ich kann es nicht leugnen, er ist es noch!«

»Und die Gewalt, die ihn von meiner Seite riß, schwebt sie noch immer über seinem Haupte?«

»Nein! – ja! wie Sie wollen –«

»Was heißt das?«

»Das heißt, daß die Gewalt wohl noch da ist, daß wir aber die Mittel bereits in Händen haben, über sie zu triumphieren.«

»Zu triumphieren? Ach! muß denn Gewalt mit Gewalt vertrieben werden und ist abermals Gefahr dabei?«

»Keine, Mylady, keine! Ich versichere es, und namentlich keine Lebensgefahr, das kann ich verbürgen. Sollte das Unternehmen nicht glücken, dann könnte höchstens eine Verzögerung von einigen Tagen die Folge davon sein; und das ist freilich für Sie schon schlimm genug«, setzte ich lächelnd hinzu.

»Ach! ich habe ihn so lange vergeblich erwartet, daß ich ihn jetzt mit der Hoffnung, ihn wiederzusehen, gern noch einige Tage länger erwarten will, wenn es mit weniger Gefahr verbunden ist. Werden Sie ihn hierherbringen?«

»Ohne Zweifel! So ist es wenigstens meine Absicht.«

»Oder sollen wir vielleicht«, fiel Sir Robert ein, »ihm entgegengehen?«

»Nein, nein! Sie bleiben Beide hier und erwarten, wenn nicht meine schnelle Rückkehr, doch meine Nachrichten.«

»Und Sie wollen uns auch nicht den geringsten Aufschluß über diejenigen geben, die Percy in die Lage seines Zwanges brachten?«

»Haben Sie keine Vermutungen?«

»Vermutungen wohl, aber keine einzige Gewißheit. Wie ich Ihnen schon sagte, damals, als Percy plötzlich ausblieb und wir atemlos, trostlos, verzweiflungsvoll ihn erwarteten und endlich die schreckliche Gewißheit erhielten, er sei durch irgendeine Gewalttat ergriffen und fortgeführt, glaubten wir jeden Augenblick, sein böser Dämon – mochte es sein, wer es wollte – würde auch uns erscheinen und seine schwere Hand auf uns legen – aber Niemand kam, wenigstens nicht unmittelbar bis zu uns.«

»Wohin richteten Sie Ihren Weg zunächst?«

»Unsere erste Absicht oder unser Entschluß – wenn wir überhaupt in dem verhängnisvollen Momente etwas beschließen konnten – war, unsere Reise nach Dunsdale fortzusetzen, indem wir immer noch die Hoffnung hegten, Percy werde Mittel und Wege finden, sich zu befreien und alsdann dahin kommen, wohin er uns auf dem Wege wußte.«

»Wohl! es wäre gut und schlimm gewesen, wenn Sie nach Dunsdale gegangen wären.«

»Warum gut, warum schlimm?«

»Gut, weil Sie dort vielleicht Percys Diener, Phillipps, gefunden hätten und, mit ihm in Verbindung bleibend, wahrscheinlich schon vor zwei Jahren Percys Aufenthaltsort erfahren hätten –«

»Ha!«

»Denn er erfuhr es zufällig zu dieser Zeit, weil er unausgesetzt Percy suchte, wie er auch Sie bereits seit vier Jahren sucht.«

»Der edle, edle Mensch!«

»Schlimm aber wäre es gewesen, weil Sie auf diesem Wege wahrscheinlich demjenigen in die Hände gefallen wären, der seinerseits bestimmt anzunehmen schien, daß Sie Dunsdale-Castle erreichen wollten –«

»Also wirklich – wir hätten eine und dieselbe Meinung?«

»Ich spreche nichts Bestimmtes aus, Mylady, ich nehme nur die größte Wahrscheinlichkeit an – sagen Sie mir lieber, wie kamen Sie von Ihrem Entschlüsse, nach Dunsdale zu gehen, ab?«

»Durch eine unzweifelhaft falsche Nachricht, Percy sei nach London gebracht, die uns derselbe Mann gab, der Percy das Pferd geborgt hatte und welcher unschuldig und unwissend gewesen zu sein schwur. Wir gingen oder flogen vielmehr nach London – aber kein Percy, wohin wir uns auch begaben – wir reisten in ganz England umher, aber immer noch kein Percy – ach, Sir! diese trostlosen, verzehrenden Reisen und unsere traurige, verzweifelnde Stimmung dabei – wie können wir sie Ihnen schildern?«

»Und gab Ihnen Ihr guter Bruder keinen Rat, Sir Robert Graham?«

»Wozu sollte er raten, Sir? Er sah als Gerichtsmann scharf und richtig genug, aber es fehlte uns an allen notwendigen Beweisen, vorzüglich an den Urhebern der entsetzlichen Tat. Wer waren unsere Widersacher? – Warum handelten Sie aber nicht öffentlich vor aller Welt? werden Sie fragen. Konnten wir es denn, konnten wir öffentliche Nachforschungen anstellen, solange wir nicht mit Bestimmtheit wußten, auf welche geheimnisvolle Weise, zu welchem verborgenen Zwecke Percy uns entrissen worden war, solange wir noch hoffen durften, unsere geheimen Unterhandlungen und Nachforschungen würden uns von Nutzen sein? Gestehen wir es ein, die ganze traurige Begebenheit war äußerst scharfsinnig eingeleitet und in so viele Rätsel und Dunkelheit gehüllt, daß wir, von dem Geschick niedergedrückt, an unserer eigenen Aufrechterhaltung arbeitend, nicht einmal wußten, wen wir anklagen sollten, da Percy gegen den das Verbrechen selbst verübt war, nicht persönlich als Kläger auftreten konnte. Und dann, Sir, bedenken Sie, eine verzweifelnde Tochter, ein trauerndes, duldendes Weib war meine Gefährtin! Und endlich, wenn wir auch die Überzeugung hatten, Niemand anders als Percys eigene Familie sei des Verbrechens schuldig, wegen dessen wir klagen wollten, durften wir daran denken, gerichtlich gegen seinen Vater und Bruder aufzutreten, die, in Unschuld sich hüllend, eine Unwissenheit zur Schau trugen, die uns nichts zu hoffen übrig ließ und gegen welche öffentlich einzuschreiten Percy selbst stets die größte Abneigung gezeigt hatte? Inwieweit waren sie überhaupt, oder nur einer von Beiden, in unser neues Verhängnis verwickelt?«

»Ich begreife es, leider! ich begreife es – und dann?«

»Nun, wir blieben bei meinem Bruder, teils in London, teils auf seinem Landsitze, wie es die Jahreszeit mit sich brachte. Ellinor schrieb an alle Welt, in der Hoffnung, eine ihrer Nachrichten werde irgendwo und irgendwie Percy erreichen – da starb vor kurzer Zeit mein edler Bruder und wir befanden uns in einer neuen Verlegenheit. Denn kurz nach Übernahme meiner Baronie erfuhren wir, was wir bis dahin nicht gewußt hatten, daß in der Nähe –«

»Still, Vater, still! Das weiß Percys Freund –«

»Ich ahne es eher, als ich es weiß«, sagte ich. »Und haben Sie keine ferneren Nachstellungen zu überstehen gehabt?«

»Nicht, daß wir es gemerkt hätten. Aber England ist groß und Gott deckt oft einen schützenden Schleier über die Unschuld, die er erhalten und einem besseren Geschicke aufbewahren will, und so haben wir denn mit seiner Hilfe diesen Tag erreicht.«

»So ist es!« erwiderte ich und mir fiel ein, was ich Mortimer beim Trinkgelage zu seinen Freunden hatte sagen hören. »Erlauben Sie mir aber noch eine Frage. Warum gingen Sie später nicht nach Dunsdale-Castle, welches Ihr Eigentum war?«

»Ach, Sir! Der, der es mir zum Eigentum machte, wo war er? Durfte ich es ohne ihn als dasselbe betrachten und zu den Seinigen sagen: hier bin ich – ich bin eure Herrin, aber euer Herr selbst ist nicht da?«

»Das waren zarte Rücksichten, freilich! und doch gingen Sie endlich hin?«

»Ja, aber nur, um nach ihm zu forschen und ihm zu melden, daß wir unser Obdach bei meinem Oheim mit dem vertauscht hatten, wo Sie uns gestern gefunden haben.«

»Das war es, ich weiß genug!«

»Und was werden Sie nun zunächst tun?« fragte mich Sir Robert.

»Das will ich Ihnen sagen. Ich habe drei Briefe zu schreiben.«

»An Percy! an Percy!« rief Ellinor jubelnd.

»Nicht eine Zeile –«

»Mein Gott! Und ich auch nicht?«

»Doch, doch! Sie können an ihn schreiben, aber den Brief geben Sie mir, nur ich allein kann ihn überbringen.«

»Schön, schön! Dann erhält er ihn gewiß – ach! es ist der erste, den er empfängt – und an wen werden Sie schreiben?«

»Einmal an Phillipps, der Sie in einer anderen Gegend sucht. Ich muß ihn benachrichtigen, daß seine Mühe fernerhin vergebens ist, daß er komme, um Percy hierher zu begleiten. Zweitens an den Haushofmeister in Dunsdale-Castle und drittens an eine Person, die in Percys Nähe ist und durch die er erfahren soll, daß ich glücklich in meinem Unternehmen gewesen bin.«

»Sie schreiben also in der Tat nicht an ihn selbst?«

»Kein Wort; wie die Sachen jetzt liegen, ist es unmöglich.«

Das Erstaunen, welches dieses Rätsel über Vater und Tochter verbreitete, war grenzenlos, und doch vermochte ich nicht, ihnen den geheimnisvollen Schleier desselben zu lüften. Ich setzte mich noch an demselben Morgen an den Schreibtisch und schrieb jene drei Briefe.

In dem ersten benachrichtigte ich Phillipps oberflächlich und ohne einen Namen zu nennen von den glücklichen Ereignissen dieser Tage und beschied ihn augenblicklich nach St. James, um dort in Gemeinschaft mit mir des Viscounts von Dunsdale Flucht zu bewerkstelligen.

Im zweiten, an den Haushofmeister zu Dunsdale-Castle gerichteten Schreiben befahl ich im Namen des Viscount selbst, den besten Reisewagen mit sechs Pferden bespannt und außerdem sechs wohlberittene und bewaffnete Diener an einen zunächst St. James gelegenen Ort, den ich genau beschrieb, auf der Stelle zu senden, dort auf mich oder meine weiteren Befehle zu warten und sich jeden Augenblick zum Aufbruch bereit zu halten.

Den dritten Brief schrieb ich an den Direktor zu St. James, teilte ihm die Beendigung der Geschäfte und meine in zwei oder drei Tagen erfolgende Rückkehr mit.

Dies war natürlich nicht notwendig, aber ich hatte die Absicht, Percy solle durch diese Nachricht von meiner baldigen Ankunft und dem Gelingen unserer Pläne in Kenntnis gesetzt werden, und damit dies gewiß geschehe, fügte ich folgende Nachricht bei:

»Was Mr. Sidneys Pferd anbetrifft, so sagen Sie in meinem Namen dem Besitzer desselben meinen aufrichtigsten Dank, den ich ihm noch mündlich wiederholen werde, für die außerordentlichen Dienste, die mir dasselbe geleistet hat. Sie hätten die Wette verloren, die Sie gegen ihn bei meiner Abreise eingehen wollten, denn ich habe nie ein dauerhafteres Pferd gesehen. Es hat mich schneller zu meinem Ziele getragen, als ich erwarten konnte, und so gebührt auch ihm der Dank für die glücklichen Erfolge, die ich dadurch in allen meinen Angelegenheiten erlangt habe. Ich liefere es gesund und kräftig, wie ich es erhalten habe, dem Eigentümer zurück und hoffe, er werde den Dank genehmigen, wie sie die Achtung, mit der ich die Ehre habe usw., usw.«

Diese drei Briefe wurden sogleich abgesendet, und nun erst hatte ich vollkommen das beruhigende Gefühl, eine mit Sorge und Eifer begonnene Sache nach Wunsch beendet zu haben.

Gegen Mittag kam der Arzt aus C ..., die Patientin zu sehen, die durch einen anderen Doktor schneller geheilt worden war, als es ihm bei dem besten Willen würde möglich gewesen sein. Voller Verwunderung über den überaus raschen Erfolg seines Kollegen, aber auch voller aufrichtiger Freude, daß sein eigener Besuch überflüssig geworden, speiste er mit uns und begab sich dann nach Tische wieder nach Hause zurück.

Gleich darauf wurde Bravour, nachdem Ellinor und ihr Vater den zärtlichsten Abschied von ihm genommen, vollständig gesattelt und gezäumt von einem berittenen Diener Sir Roberts nach einem nur zwanzig Meilen von St. James gelegenen Ort geführt, mit der Weisung, mich daselbst zu erwarten. Denn teils um einige Stunden länger bei Sir Robert verweilen zu können, teils aber auch, um schneller und mit frischeren Kräften in St. James anzukommen, hatten wir beschlossen, daß ich bis zu jenem Orte mit Sir Roberts Wagen fahren und erst von dort aus meine Reise zu Pferde fortsetzen solle.

Bob blieb, so gern er auch mit mir gereist wäre, zurück; jedoch versprach er mir, sich jeden Tag mit Othello, der sich sehr bald wieder an ihn gewöhnt hatte, einige Stunden auf die Lauer zu begeben, um meinem Eintreffen mit dem Viscount von Dunsdale entgegenzusehen.

Den übrigen Teil des Tages wie auch den folgenden brachten wir mit Unterhaltungen zu, wie sie in unseren, seit kurzem erst begonnenen, aber schnell gediehenen Verhältnissen natürlich waren. Wir fühlten uns zweifach glücklich: das größte und längste Leiden siegreich überstanden zu haben und das dauerhafteste neue Glück vor uns liegen zu sehen. Ach, es ist so wohltuend, eine lange Trauerzeit, die in Freude und Zufriedenheit übergeht, in allen ihren Einzelheiten noch einmal vor die Erinnerung zu rufen! Wir durchleben dann das Geschehene noch einmal, aber in dem bestimmten Bewußtsein, daß es vorüber ist und nie wiederkehren werde; wir freuen uns selbst, daß wir Kraft genug hatten, das Schwerste zu ertragen, und haben endlich die beseligende Genugtuung, einzusehen, daß die allgütige Vorsehung uns nicht aus den Augen gelassen und mit lindernder Hand die Wunden heilen will, welche das verhängnisvolle Geschick mit prüfender Gewalt uns geschlagen hat.

Auf diese Art verstrich uns die Zeit schnell; denn wie sie dem Unglücklichen, der immer zu gewinnen hofft, langsam verschwindet, so verrinnt sie dem Glücklichen, der nur zu verlieren fürchten kann, allzu rasch, und der Augenblick war nicht mehr fern, wo ich das friedliche Haus und das gesegnete Tal verlassen und neuen Ereignissen entgegengehen sollte. Je näher dieser Augenblick kam, umso ernster wurde Sir Robert gestimmt, umso einsilbiger wurde unser Gespräch, und über Ellinors blühend schönes Antlitz legte sich wieder ein Schatten, der mir die Gewißheit gab, daß noch nicht aller Friede, noch nicht alle Ruhe in diese schöne Seele zurückgekehrt seien.

Endlich, am Morgen des dritten Tages, fuhr der mit vier tanzenden Schimmeln bespannte Reisewagen Sir Roberts vor die Tür, und ich selbst stand reisefertig vor meinem Wirte und seiner Tochter, um einen Abschied zu nehmen, der uns Allen gleich schwer zu werden schien.

»Lassen Sie mich kurz sein!« sagte ich zu Beiden, »ich kam, um Sie zu erheitern und zu beruhigen, und ich gehe, um Ihr Glück vollständig zu machen.«

»Und Gott wird Sie geleiten!« fügte Sir Robert hinzu. »Sie haben Ihre Reise zu uns mit größerer Besorgnis und geringerer Hoffnung angetreten als diese; jetzt gehen Sie einem gewissen Ziele entgegen und die Vollendung Ihrer edlen Aufgabe wird die allmächtige Hand auf sich nehmen, die über uns allen schwebt.«

»Ach, mein teurer Freund!« sagte Ellinor, und sie bemühte sich nicht, den sanften Tränen Einhalt zu tun, die einen nur umso milderen Schimmer über ihr seelenvolles Antlitz warfen, »es ist so kurze Zeit, daß wir Sie kennen, und dennoch haben Sie uns soviel Gutes zugefügt! Ich sollte Sie wohl mit Freuden von uns lassen, und dennoch liegt es schwer auf meinem Herzen, da Sie gehen wollen. Wenn ich nicht bedächte, daß die Morgenröte, die Sie uns brachten, dem Anbruch des Tages vorhergeht, den Sie uns jetzt heranführen wollen, so würde ich sogar Schmerz empfinden, von Ihnen scheiden zu müssen – ja! gehen Sie denn mit Gott und kommen Sie mit ihm wieder!«

»Mit Gott und mit ihm!« wiederholte ich und reichte Sir Robert die Hand, die er einen Augenblick schüttelte, dann aber seine Arme öffnete und mich an sein Herz schloß.

»Leben Sie wohl, Mylady!« sagte ich zu dieser und neigte mich auf ihre schöne Hand, »leben Sie wohl! Wenige Tage nur, und Sie werden keinen traurigen Abschied mehr zu bestehen haben, die Sonne wird hell und klar auf Ihrem Gesichte lächeln und Sie werden gleichfalls mit Lächeln dieser Sonne in das Auge sehen – leben Sie wohl!«

Sie geleiteten mich vor die Tür, wo ich die ganze Dienerschaft fand; denn die guten Leute wußten alle, daß ich zu erfreuen gekommen war und daß ich zu beglücken wieder ging. Noch einen Händedruck, noch einen freundlichen Blick mit auf die Reise – ich stieg ein und die unruhigen Pferde stoben davon, den Hügel hinauf und wieder hinab, und es dauerte keine halbe Stunde, so lag das friedliche Tal mit seinen ebenso friedlichen Bewohnern schon wieder hinter mir.

Ich fuhr ohne Aufenthalt bis Nachmittags drei Uhr, dann machte ich Halt, ruhte einige Stunden, und um sechs Uhr befand ich mich wieder unterwegs. Da der Weg uns günstig war, denn wir fuhren auf der geraden Landstraße, so kamen wir schnell vorwärts. Nachts elf Uhr gelangten wir in unser Nachtquartier und blieben bis Morgens zehn Uhr. Abermals ging es in raschem Tempo vorwärts und es war erst sieben Uhr Abends, als wir die Station erreichten, wo der vorausgeschickte Diener mit Bravour meiner harrte.

Obgleich ich mich sehnte, das Ziel meiner Reise bald zu erreichen, so war es doch unnütz, noch diesen Abend aufzubrechen, denn ich hätte erst mitten in der Nacht nach St. James gelangen können. Darum blieb ich bis zum anderen Morgen sieben Uhr.

Ich schrieb einige Zeilen an Sir Robert Graham und sandte seinen Wagen und seine Pferde mit dem herzlichsten Dank zurück. Dann bestieg ich mein Pferd, das lustig wieherte, als es mich wieder auf seinem Rücken fühlte, und nun flog ich im leichten Trabe dem nächsten Ende meiner Reisen zu.

Ich befand mich auf wohlbekannter Straße, aber die Empfindungen, die über mich kamen, als St. James mir immer näher rückte, waren mir bisher unbekannt geblieben. Länger als vier Wochen war ich unterwegs gewesen, mit Hoffnung zwar, aber mit einer umflorten Hoffnung; wie bei bedecktem Himmel war ich ausgezogen, im Bewußtsein, jene Hoffnungen erfüllt zu sehen, kehrte ich im hellen Sonnenschein zurück – und es war Mittag ein Uhr, als ich auf dem schon erwähnten Gipfel des Berges hielt und das große und mir ewig denkwürdige Gebäude von St. James wieder vor mir liegen sah.

Mir klopfte das Herz vor Erwartung, ihn zu sehen, um dessenwillen ich gegangen und nun wieder gekommen war – ob er eine Ahnung von meiner Rückkehr hatte? Ob er mich erwartete? Ich blickte lange hin. Ich hatte mit ihm verabredet, auf dem Gipfel des Berges, bei der Krümmung der Straße, die man von St. James aus mit den Augen erreichen konnte, zu halten und zum Zeichen meiner glücklichen Rückkehr ein weißes Tuch wehen zu lassen.

Ich hob meinen Arm empor und schwenkte das Tuch freudig in der Luft – aber Niemand erwiderte meinen Gruß, ja, Niemand vielleicht bemerkte ihn.

Ach! wir glauben, wenn wir nach langer Abwesenheit an einen uns teuren Ort zurückkehren, alle uns umgebenden Gegenstände müßten unsere Freuden und Gefühle teilen, und wie oft glauben wir dies vergebens! Die Gegenstände um uns sind, wie sie alle Tage sind, kalt und gleichgültig; sie empfinden nichts, sie fühlen nichts – nur in unserem ewig bewegten Herzen wog diese Empfindung und lebt dieses Gefühl, und durch das trübe und klare Glas unserer Stimmung sehen wir die Umgebung, die Menschen, die Welt. Alles weint, wenn wir weinen, Alles lacht, wenn wir lachen, und somit liegt in unserer eigenen Brust das Urteil, welches diese Welt, diese Menschen, rückwärts wirkend, über uns fällen, denn wir legen es ihr in den Mund durch unser eigenes Selbst.

Ich ritt über die kleinen Zugbrücken, an den Wärterhäusern vorbei, deren Bewohner mich freundlich willkommen hießen, denn sie kannten mich sehr gut; und so gelangte ich in den Park. Er war wenig besucht, denn es war die Stunde des Mittagessens. Ich näherte mich langsam den Stallgebäuden, die seitwärts lagen, und hier war es, wo ich einen der Knechte, der mir mein Pferd abnahm, fragte, ob Alles wohl sei? Das gutmütige Wort: Alles, das so Vielerlei bedeutet, wo man nur ein Einziges im Sinne hat, mußte auch hier wieder herhalten.

»Alles, Alles, Sir!« antwortete er. »Ah, da ist Bravour wieder nun, er sieht ganz niedlich rund aus.«

»Was macht sein Herr?«

»Mr. Sidney? Heute habe ich ihn noch nicht gesehen, gestern aber war er noch ganz munter!«

»Heute habe ich ihn noch nicht gesehen, gestern aber war er noch ganz munter!« wiederholte ich mir im Stillen und fühlte dabei eine kleine Beklemmung über Percys Gesundheitszustand. Wir sind argwöhnisch in Bezug auf das Wohl unserer Lieben, wenn man mit uns von gestern spricht, während wir nur das Heute vor Augen haben.

Von einem mir entgegenkommenden Diener erfuhr ich, daß der Direktor, zu dem ich mich anstandshalber sogleich begeben wollte, mit den übrigen Herren im Konferenzzimmer sei, und ich verfügte mich sogleich dahin.

Ich fand fast alle Beamten, den Prediger nicht ausgenommen, um den großen grünen Tisch versammelt und ward in der Tat höchst freundschaftlich bewillkommnet. Ermüdet und betäubt, wie ich war, setzte ich mich zu ihnen und beantwortete, so gut ich konnte, den ganzen Schwall von Fragen, der sich über mich ergoß. Nur der Oberarzt schien ausnahmsweise etwas still und zurückhaltend zu sein und es war mir, als beobachtete er mich bisweilen mit einem eigenen, erwartungsvollen Blick von der Seite.

»Sie haben doch meinen Brief erhalten?« fragte ich den Direktor, als mir vom Antworten so viel Zeit blieb, um auch eine Frage zu stellen.

»Sicher! Schon vorgestern, er kam ja mit der Post, und ich habe auch Mr. Sidney sogleich Ihren Dank abgestattet.«

Das war es, was ich wissen wollte, und ich verbeugte mich beifällig vor ihm.

»Er ist heute etwas unwohl, wie ich höre«, fuhr er fort, »und hütet sein Zimmer. Sie werden ihn gewiß erfreuen, wenn Sie nachher die Güte hätten, ihm Ihre Rückkehr durch Ihren persönlichen Besuch anzuzeigen.«

»Das ist noch besser!« dachte ich, und so ruhig, wie ich es nur sein konnte, erwiderte ich:

»Ich werde von Ihrer gütigen Erlaubnis Gebrauch machen – er ist aber doch nicht ernstlich krank?«

»Nichts, nichts Bedeutendes!« sagte der Oberarzt etwas hastig, indem er mit der Achsel zückte, »ein kleiner Katarrh, weiter nichts!«

Seine Miene schien mir aber ausnahmsweise viel Bedeutung auf das nichts Bedeutende der Krankheit Mr. Sidneys legen zu wollen.

»Sie kommen uns übrigens gerade erwünscht«, fuhr Mr. Elliotson fort, »wir beraten eben über die Aufführung unseres König Lear, die nächsten Freitag stattfinden soll. Es wird ein großer Festtag werden.«

»Das ist mir sehr lieb, mein lieber Mr. Elliotson! Am Freitag also?« fragte ich, und im Stillen rechnete ich schon, wieviel Zeit uns bis dahin bliebe, Vorbereitungen zu Percys Flucht zu treffen. Wir hatten Montag, mithin blieb uns vier und ein halber Tag, wenn Phillipps zu rechter Zeit eintraf.

»Freitag, Freitag und immer wieder ein Freitag!« rief Mr. Derby, der Unterarzt. »Es sollte lieber ein anderer Tag gewählt werden, Gentlemen, wir haben mit unseren Freitagen kein Glück – wissen Sie noch, Mr. Elliotson, daß alles Unglück im vorigen Jahre –«

»Ach, Sie sind ein Fatalist!« unterbrach ihn der Direktor lächelnd. »Aber meinetwegen kann es auch am Sonntag stattfinden!«

»Meine Herren!« rief der Prediger und hob salbungsvoll einen Finger in die Höhe, »der Sonntag ist mein Tag!«

»Ja so!« erwiderte schalkhaft der Unterarzt, »da führen Sie Ihre Komödie auf. Ich hatte gedacht, der Sonntag wäre Gottes Tag, und es wundert mich, daß auch Mr. Bromfield darauf Anspruch macht!«

Man lachte und sah den Prediger an, der seinerseits den Spaß ganz gut zu finden schien, denn er lachte mit und schlug in die Hand ein, die ihm Mr. Derby hinreichte. Beide kannten sich hinreichend, und man war es gewohnt, ähnliche Neckereien zwischen ihnen zu hören, die auch stets so friedlich endeten wie diesmal.

Man sprach noch einiges hin und her über das Fest, und es blieb bei dem Freitag, worauf die Sitzung ein Ende hatte, da die Glocke zum Mittagessen bereits läutete.

»Wenn Sie nicht zu ermüdet sind«, sagte der Direktor zu mir, »so speisen Sie bei mir; meine Frau wird Ihnen einige Fragen über London vorzulegen haben.«

»Die ich wahrscheinlich ex tempore werde beantworten müssen!« dachte ich, nahm aber dankend das freundliche Anerbieten an.

Wir waren schon aufgestanden und im Begriff auseinanderzugehen, als mich der Oberarzt beim Arm ergriff und leise sagte:

»Sie kleiden sich doch wahrscheinlich um, ehe Sie zu Tische gehen! Wenn Sie erlauben, so begleite ich Sie auf Ihr Zimmer.«

»Es wird mir ein Vergnügen sein, Mr. Lorenzen!«

»So kommen Sie denn!«

Und wir begaben uns in mein Zimmer, wo ich Alles fand, wie ich es verlassen hatte. Ich kleidete mich sogleich um, rasierte und wusch mich, wobei ich den Vorteil hatte, Mr. Lorenzen nicht immer ins Gesicht sehen zu müssen, der nicht ganz ohne Verlegenheit zu sein schien, denn ich ahnte schon, was er auf dem Herzen und worüber er mit mir zu sprechen hatte.

»Was ich Sie fragen wollte«, begann er endlich, »sind Sie so gütig gewesen, meinen Brief an Sir John ... zu übergeben?«

»Gewiß! und ich habe auch eine Antwort für Sie!«

»O, warum gaben Sie mir die nicht sogleich?«

»Einfach darum, weil ich notwendig dazu mit Ihnen allein sein mußte, denn ich habe nichts Schriftliches –«

»Nichts Schriftliches?« rief Mr. Lorenzen verwundert und konnte eine leichte Röte nicht unterdrücken, die über seine Stirn und seine gewöhnlich blassen Wangen lief. »Also Sir John hat Ihnen meine Bedenklichkeiten hinsichtlich Mr. Sidneys mitgeteilt?«

»Das hat er!« sagte ich und sah im Spiegel, vor dem ich mich eben rasiert hatte, das ziemlich verlegene Gesicht des guten Oberarztes. »Sir John hat kein Geheimnis darüber vor mir gehabt, er hat mich sogar um meine Meinung gefragt –«

»Um Ihre Meinung? Doch das ist ganz natürlich, da Sie ihn auch gesehen haben –«

Hier schien es Mr. Lorenzen zum ersten Male einzufallen, daß er dieselbe niemals von mir zu hören verlangt habe.

»Die natürlich nur eine oberflächliche und unvorgreifliche sein konnte«, erwiderte ich, »denn Sie sahen ihn vier Jahre und ich nur sechs Wochen!«

»Und darf ich vielleicht wissen, welche Meinung Sie gegen Sir John ausgesprochen haben?«

»Dieselbe, die ich vom ersten Augenblick an hatte.«

»Wie, Sir – es sollte mir leid tun, wenn mein langes Schweigen über einen so wichtigen und interessanten Gegenstand in der Wissenschaft –«

»Auf Sie selbst zurückgefallen wäre – wollen Sie sagen.«

»Ganz und gar nicht, Sir! Doch wie Sie wollen – sprechen Sie sich vollständig aus, ich werde auf Alles mit meiner wahrhaftigen Überzeugung antworten – also die Meinung Sir Johns?«

»Hm! Ja! Er trug mir auf, Ihnen anzuzeigen, daß sie in spätestens vierzehn Tagen die bestimmte – merken Sie wohl – die bestimmte Überzeugung von Mr. Sidneys Gesundheitszustand in Händen haben würden.«

»In vierzehn Tagen? Die bestimmte Überzeugung in Händen haben?« wiederholte Mr. Lorenzen und wurde noch weit verlegener, als er vorher gewesen war. »Das verstehe ich nicht recht; kennt er ihn etwa?«

»Er muß doch wohl!« entgegnete ich und band mir die Schleife meines Halstuches fest.

»Hm! hm! Erlauben Sie, Sir, daß ich Ihnen jetzt auch meine Meinung über Mr. Sidney ausspreche, da Ihnen Sir John wahrscheinlich die seinige mitgeteilt hat. Sehen Sie, ich begreife den Menschen jetzt gar nicht, wie er sich so plötzlich hat verändern können. Namentlich seitdem Sie fort sind, hat er sich so ruhig, besonnen und gleichmäßig betragen, daß ich mich über ihn verwundern mußte.«

»Und konnten Sie es anders erwarten?« warf ich ihm ein, indem ich mir, um meine Bewegung zu verbergen, ein Glas Wasser eingoß.

»Wie? Wie erwarten, Sir? Ich verstehe Sie nicht!«

»Nun, nach so vielen Anstrengungen von Ihrer Seite, ihn auf den rechten Weg zu bringen –«

»Ach so, ach so! Sie sind sehr gütig! Doch das hilft nicht immer. Aber hören Sie weiter. Dieses vernünftige Betragen im Allgemeinen war es auch nicht allein. Sie kennen seine Widerspenstigkeit, seine Hartnäckigkeit, sein Beharren auf seinen Ideen, wenn er auf dem Konversationsstuhle sitzt –«

»Ich habe wenigstens davon gehört –«

»Nun ja, und seinen Wetteifer, seine sogenannten logischen, aber immer für ihn ungebührlichen Herausforderungen gegen uns – nichts mehr davon ist zu merken – er hörte Alles ruhig an und antwortete zuletzt: ich sehe es ein, Sie mögen Ihrerseits ganz Recht haben!«

Ich mußte wider meinen Willen lächeln, und antwortete:

»Er hat vielleicht gar nicht auf die Ermahnungen, die ihm eingetrichtert wurden, gehört.«

»Eingetrichtert? Sie brauchen ein sonderbares Wort – nun, meinetwegen! Und was das merkwürdigste dabei ist, mit dieser Ruhe, diesem gleichmäßigen besonnenen Betragen ist ein so feines, vornehmes Wesen über ihn gekommen, daß er in meinen Augen ein durchaus veränderter Mensch ist.«

»Wie, lieber Doktor, wäre ihnen dieses feine Wesen jemals entgangen?« fragte ich und konnte nicht unterlassen, ihm aufrichtig, aber etwas scharf in die Augen zu sehen. »Es sollte mir leid tun, wenn Sie in einem Irrenkranken, wie Mr. Sidney einer ist, nicht auch einen gebildeten, sogar einen hochgebildeten Geist und einen festen, fast erhabenen Charakter gewahren könnten.«

»Sie haben Recht, Sir, ich gebe es zu, es war immer so etwas an ihm – aber wer ist er denn? Ein simpler Mister, der Sohn eines reichen Mannes, vielleicht eines Kaufmannes, etwas verzogen und von frühester Jugend an die Gesellschaft und ihren Luxus gewöhnt – wir sind aber hier in St. James!«

»O, über die Kurzsichtigkeit!« dachte ich.

»Wenn das so fortgeht, so halte ich ihn für geheilt!«

Hier sah mir der gute Mann treuherzig in die Augen, und ich freute mich in seiner Seele über diesen seinen Ausspruch, obgleich ich bedauerte, daß es so vieler Zeit bedurft hatte, ihn hervorzubringen, und ich mich unwillkürlich an die Gewohnheit eines in meiner Vaterstadt bekannten Homöopathen erinnerte, der alle Welt für krank erklärte, nachdem er aber seine Besuche gemacht, seine Kügelchen gegeben, seine Diät verordnet und seinen Gang bezahlt bekommen hatte, beweisen wollte, seine Patienten seien vollkommen gesund und durch ihn allein hergestellt worden. Doch wollte ich mit dieser Erinnerung dem guten Oberarzte nicht zu nahe treten, er war gewiß in seinem Herzen von dem Vorhandensein einer früheren Krankheit Mr. Sidneys und seiner jetzt erst erfolgten Herstellung überzeugt, und es freute mich sehr, daß seine eigene Anschauung endlich das Dunkel, welches auf Percy lag, durchdrungen und das einem Unbefangenen so hell scheinende Licht seines gesunden Verstandes wahrgenommen hatte. Sogleich hielt ich seinen Ausspruch fest und fragte:

»Da entlassen Sie ihn ja wohl bald?«

»Entschuldigung, Sir! Sie wissen, daß mich das nichts angeht, daß die Entlassung vielmehr Sache der Direktion ist. Und soviel mir bekannt, steht in den Instruktionen, die über Mr. Sidney von seinen Verwandten eingelaufen sind, daß er nicht eher entlassen werden soll, als bis nach ganz vollendeter und einzig durch die Zeit geprüfter Heilung, und daß dann erst die Bestimmung seiner Verwandten, die wahrscheinlich durch ihn viel gelitten haben, einzuholen sei, was man mit ihm beginnen und wohin man ihn senden solle.«

»Hm! Also ist gar keine Aussicht vorhanden, daß Mr. Sidney bald entlassen werde?«

»Keine, vorerst gewiß gar keine.«

»Gehen wir denn zum Essen!« sagte ich und nahm meinen Hut.

»Sie wollten mich noch Ihre eigene Meinung über Mr. Sidney wissen lassen.«

»Nun, mit kurzen Worten gesagt, hege ich von Mr. Sidney Ihre Meinung, das heißt Ihre jetzige, und habe sie vom ersten Augenblicke an, wo ich, in den Garten tretend, zufällig Mr. Sidney zu Gesichte bekam, nicht anders gehegt.«

»Ah! bah!«

Ich tat, als merkte ich nicht im Geringsten das Erstaunen, welches sich handgreiflich in allen Zügen Mr. Lorenzens aussprach, und fuhr fort:

»Ein Längeres und Breiteres aber, mein lieber Doktor, werde ich Ihnen in derselben Nachricht mitteilen, die Sie, wie ich schon vorher gesagt habe, in spätestens vierzehn Tagen erhalten werden.«

»Aha, so wollen Sie also bald wieder von hier fort?«

»Ja, ich beabsichtige, Freitag Morgen zu reisen, da ich zum Sonnabend meine Ankunft an einem anderen Orte schon angesagt habe. Weil ich aber gern Ihrem Feste beiwohnen möchte, so bin ich genötigt, noch Freitag Nacht – so denke ich – meine Reise anzutreten, sobald König Lear gestorben sein wird.«

Und den Arm des Arztes nehmend, den er mir etwas verdutzt überließ, ging ich mit ihm über den Korridor, empfahl mich ihm und trat in das Zimmer des Direktors, dessen Familie mich ebenfalls herzlich willkommen hieß.

So kurz eine Stunde sonst ist, wenn man sie in freundlich teilnehmender Gesellschaft und an wohlbesetzter Tafel verbringt, so wurde mir diese eine Stunde jetzt doch unendlich lang und zuletzt peinlich. Indessen da ich den eigentlichen Grund meiner Unruhe nicht merken lassen durfte, so schützte ich, was mir natürlich auch geglaubt wurde, Ermüdung vor und sah mich dadurch früher beurlaubt, als es sonst geschehen wäre. Aber vorher hatte ich nicht unterlassen, meiner durch die Verhältnisse beschleunigten Abreise zu gedenken, nur hatte ich dem Direktor versprechen müssen, was denn auch ganz mit meiner Absicht übereinstimmte, den festlichen Freitag in St. James zu verleben.

Jetzt endlich war ich frei und konnte mich zu Percy begeben, zu dem alle meine Wünsche strebten; kaum konnte ich den Zeitpunkt erwarten, nur die Tür seines Zimmers zu sehen; ich flog die Treppen hinauf, ich stand vor der Tür und war so atemlos, daß ich einige Minuten zögern mußte, bis ich wenigstens meiner Sprache wieder mächtig war. Leise öffnete ich die Tür – da stand er vor mir: seine hohe, edle Gestalt gerade aufgerichtet – und welches Gesicht sah ich wieder! O, diese schönen, geistreichen und offenen Züge, sie waren alle dieselben, wie ich sie früher so oft mit Wohlgefallen betrachtet hatte, aber der geistige Reiz, der sie heute belebte, der freudige Glanz und die strahlende Erwartung, die mir von ihnen entgegenblitzte – alles das war mir neu, das hatte ich noch nicht an ihm gesehen, und ich stand eine Weile vor ihm, keines Wortes, nur der Bewunderung und innigsten Freude fähig.

Wie ein leuchtender Blitz fuhr ein Freudenstrahl über sein Gesicht, als er mich erblickte; er streckte seinen Arm hastig nach mir aus und sagte nur:

»Sie sind da – und ich weiß es, ich fühle es, was ich von Ihnen zu erwarten habe!«

»Und Sie sind nicht krank?« fragte ich schnell und besorgt.

»O, vergessen Sie die unwürdige List, aber wie konnte ich sonst zu der Freiheit gelangen, mit Ihnen nach Herzenslust verkehren zu können?«

»Aha!« sagte ich. Mehr vermochte ich nicht hervorzubringen, denn er hatte mich mit seinem starken Arme umfaßt und drückte mich innig und lange an seine Brust.

»Und was nun, Freund meiner Seele?« fragte er.

»So, Percy, so wie eben jetzt an Ihrem Herzen, habe ich an dem Ihres Vaters gelegen und an Sir Robert Grahams Herzen –«

»Ha!« jauchzte er auf. »Und Ellinor?« während eine dunkle Purpurröte über seine bleichen Wangen sich ergoß.

»Und Ellinor? – Hier spricht sie selbst!«

Damit ließ ich ihren Brief in seine Hände fallen, die schon geöffnet dem teuren Kleinod entgegeneilten und es nun mit dem sanftesten Drucke umschlungen hielten.

Wenn die Brust eines Menschen vor Freude zerspringen könnte, Percys Brust wäre gewiß zersprungen, während er die ihm von mir überbrachten Zeilen las. Er lachte, er weinte, er jauchzte, er klagte und küßte jede Zeile, jeden Ort, wo ihre teure Hand geruht und barg endlich den Brief, nachdem er ihn wenigstens dreimal gelesen, auf seiner Brust. Dann aber, keines Wortes mächtig, schritt er mit großen Schritten durch das Zimmer, hob die Hände empor und stammelte endlich:

»Dank, Dank dir, Vater da oben! Du hast meine Gebete erhört!«

Und wiederum zu mir tretend, umfaßte er mich abermals.

»Freund meiner Seele!« flüsterte er mehr als er sprach, »der Sie mir den Himmel auf Erden geöffnet haben – wie, wo, womit, durch welchen Zufall haben Sie sie gefunden?«

»So und so!« sagte ich und erzählte bald dies, bald das, wie es mir gerade vorschwebte und wie es uns gewöhnlich ergeht, wenn unser Herz zu voll ist und die Gefühle überströmten, und die Lippe, die Pforte des Herzens, nicht groß genug ist, alle Seligkeit auf einmal herauszulassen, und ich sprang von Ellinor auf Lord Seymour, von diesem auf Sir Robert Graham über, bis ich endlich, ruhiger geworden, soviel Fassung gewann, mich mit Percy zu setzen, der, seinen Arm auf meine Schulter stützend, neben mir saß und berauscht von Glück, wonnetrunken mir die Worte vom Munde ablas.

Ohne irgendeine Unterbrechung von seiner Seite, als vielleicht einen Ausruf der Verwunderung, des Beifalls oder des Zweifels hier und da ausgenommen, war ich endlich, da ich nur das Wichtigste und Notwendigste heraushob, mit meinem Berichte fertig. Ich blickte auf Percy hin, der sich in die Ecke des Sofas gelehnt hatte, die Blicke starr nach oben gerichtet. Seine Brust hob sich – tausend freudige und qualvolle Empfindungen mochten sein starkes Herz durchwühlen – er schien in der Vergangenheit umherzuschweifen und suchte vielleicht auch die Dunkelheit der Zukunft zu ergründen.

Doch endlich schien das auf- und niederjagende Gewölk seines irrenden Geistes auf einen Punkt sich zusammenzuziehen; es zuckte, wie wenn ein Blitzstrahl aus den Wolken bricht, ein düsteres Leuchten über sein Antlitz, und wie aus der tiefsten Tiefe seiner Brust drang das eine Wort hervor:

»Mein Vater!«

Allmählich erst hob sich seine Stimme wieder, seine Rede wurde verständlicher, seine Mienen, die in krampfhafter Bewegung gewesen waren, beruhigten sich.

»Mein Vater!« fuhr er fort. »Also Furcht war es – und vor deinem Sohne! Ein Vater fürchtet den einen Sohn und flucht deshalb dem anderen! Kann es dahin kommen? Darf man's glauben? – Und die Strafe? – Ach, Ellinor!« Und seine Stimme wurde plötzlich weich, ein tiefer Seufzer erleichterte seine volle Brust. »Ellinor! Nein! ja! – Versöhnerin! Du Mittlerin zwischen meinem bösen Verhängnis und meinem eisernen Willen! Du willst es nicht, du willst es nicht – du beschwörst mich in deinem Briefe, zu vergessen – Ach! und das Testament verbrannt! – Und er soll nichts haben – arm sein, ganz arm, der sich schon so reich dünkte – nein, nein! Das soll er nicht – ich habe ja entsagt!«

»Was!« rief ich wider meinen Willen laut aus, »Sie wollen der Erbschaft entsagen?«

»Der Erbschaft gewiß, mein Freund, wenn auch nicht dem Namen, denn den darf ich nicht verschenken – mag er das Übrige nehmen, die Schlösser, die Ländereien, das schnöde Geld und Gut, mag er sich damit berauschen, mag er es mit seinen Gesellen vergeuden, in alle Weltgegenden zerstreuen – ich will es nicht, bei Gott! ich will es nicht!«

»Gott, Gott!« dachte ich, »welche Wunderwerke hast du in eine menschliche Brust niedergelegt! Einen Berg, einen ungeheuren Berg von Schmerz hast du auf dieses Herz gewälzt, und das Gefühl der Rache, das wollüstige Gefühl der Rache und der brennende Wunsch, sie zu kühlen, ist ebenso groß wie dieser Berg von Schmerz – und ein Gedanke an seine Liebe, ein einziger augenblicklicher Gedanke von dieser Liebe auf jenen Berg gerollt, und er fällt in sich selbst zusammen. Die Lust der Rache schmilzt, wie der weiche Schnee vor der gewaltigen Sonnenglut zerschmilzt! Ja, so ist der Mensch! Ein Titan in seiner Leidenschaft, wenn sie geweckt ist – ein Lamm in seiner Liebe, wenn sie die wirkliche, echte, wahre Liebe ist!«

»Und Sie haben nichts mit den Gerichten zu tun gehabt? Sie haben keinen Menschen in das unglückselige Geheimnis eingeweiht?«

»Keinen Schritt habe ich dazu getan!«

»So segne Sie Gott! Diese Gerichte, diese gerecht sprechenden Gerichte, Glocken mit Herzen von Metall und mit posaunenden Zungen, die die Ehre haufenweis fressen, wo sie die Gerechtigkeit pfennigweise von sich geben, mit ihren nimmersatten Bäuchen, in denen sie Hab und Gut der Armen, der Gerechtigkeit zu Liebe, verschlingen – wie hasse, wie verachte ich sie! Nein! Über meine Sache soll kein Gericht sitzen – Gott oder ich allein soll Richter sein zwischen ihm und mir, und lieber will ich mein Brot vor den Türen betteln gehen, als ihrer Gunst einen kurzen Glückstraum verdanken, nachdem sie meinen guten Namen und meine unangetastete Ehre verschlungen haben! Mortimer! Mortimer! danke du deinem Schöpfer, daß ich Ellinor gefunden – sie ist dein guter Engel geworden – denn hättest du ihr ein Haar gekrümmt, bei Gott! ich hätte vergessen, daß deine Mutter auch meine Mutter war – du wärest verloren gewesen!

»Er will mich also nicht auslösen!« fuhr er langsamer fort. »Er fürchtet sich vor Mortimer! Wieder Furcht vor Mortimer! O, dieser Mortimer, ist er denn wirklich so furchtbar – ich möchte ihn wohl in seinem Glanze sehen – ha! ihn sehen, und mit einem Blicke wollte ich diesen furchtbaren Mortimer zermalmen, der es gewagt hat, seinen alten gebeugten Vater vor Furcht zittern zu machen. Gut! nun soll er mich nicht lösen, ich werde mich selbst lösen, ich werde mich befreien! – Und Sie gehen mit mir?« fragte er plötzlich mit so weicher und besänftigender Stimme, daß ich ihn verwundert ansah, denn ich glaubte, ein anderer Mensch spräche aus ihm, »Sie gehen mit mir? Nicht wahr, und jeden Augenblick?«

»Sobald Sie wollen – doch ich denke, am Freitag wird es am besten gehen!«

»So denke ich auch. Chappert ist gewonnen, er hilft uns bei der Flucht und folgt mir nach. Phillipps wird kommen, und wie ich höre, haben Sie alles Übrige in Bereitschaft gesetzt?«

»Es ist Alles fertig, wir brauchen nur zu wollen!«

Hier unterbrach uns der Oberarzt, der sich nach Mr. Sidneys Befinden zu erkundigen gekommen war.

»Es geht mir leidlich!« erwiderte der Gefragte mit einer so wunderbaren Fassung und Geistesruhe, daß kein Mensch ihm hätte anmerken können, er habe noch vor wenigen Augenblicken wie ein Vulkan Blitze und Flammen ausgespieen.

»Das freut mich!« sagte der Oberarzt und warf mir einen triumphierenden Blick zu. »Trinken Sie Ihre Medizin weiter und bleiben Sie auf Ihrem Zimmer.«

»Ach, aber die Langeweile, Doktor –«

»Nun, ich komme ab und zu, und hier, unser Freund, kommt noch öfter, er hat ja nichts zu versäumen.«

»Das ist etwas, dürfen wir eine Partie Billard machen?« »Gewiß, und das sogleich, wenn ich mit dabei sein darf.« »So gehen wir!«

Und wir gingen; denn Percy wußte, daß dies die beste Art und Weise war, Mr. Lorenzen fortzubringen, der leidenschaftlich dem Billardspiel ergeben war.


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