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15. Kapitel

Eine Reise zu Pferd durch die schöneren Teile Englands bietet einem denkenden Menschen nicht viel Gelegenheit zur Langeweile dar, sollte er auch keinen höheren Zweck vor Augen haben, als durch die Abwechslung der Bilder derselben sich zu zerstreuen. Denn das lachende Grün der Felder und Wiesen, die mit uralten Bäumen und jungfräulichem Gebüsch bewachsenen Gründe, die sanft aufsteigenden wellenförmigen Hügel und die üppig fruchtbaren Täler, sodann die schattigen dunklen Wälder, bisweilen von düsteren, einförmigen Mooren unterbrochen, führen ein so heiteres, vielseitiges und reiches Bild der Betrachtung vor, daß man bei jeder Biegung des Weges in ein neues Land zu treten glaubt.

Aber auf mich wollten alle diese reizvollen Annehmlichkeiten diesmal keinen so freundlichen Eindruck hervorbringen, denn meine ganze Seele war von dem ersten Augenblicke an, wo ich mich allein fühlte, von dem Zweck meiner diesmaligen Reise dergestalt erfüllt, daß ich in der ersten Zeit beinahe unfähig war, auf irgendetwas Äußerliches zu achten, noch weniger aber es mit den Gedanken, die in meinem Kopfe durcheinander schwirrten, in Übereinstimmung zu bringen.

Obgleich ich mir die Schwierigkeiten der von mir aus freien Stücken übernommenen Aufgabe keinen Augenblick verhehlt und dieselben, schon ehe ich den Weg angetreten, nach allen Seiten in Überlegung gezogen hatte, so war doch gerade eine längere einsame Wanderung vollkommen geeignet, alle meine Gedanken, also den ganzen Trieb meiner geistigen Fähigkeiten in diese einzige Richtung zu werfen.

Aber wie genau ich mir auch alle Einzelheiten wiederholte und dadurch meinen Geist in ein lichteres, günstigeres Feld der Tätigkeit versetzte – mein Gemüt fühlte keine große Erleichterung dabei. Ich sah mich in ein Labyrinth menschlicher Leidenschaften gewaltsam verstrickt, in dessen unwirtbare Mitte hineingestoßen und zu eigener entschiedener Handlung gezwungen, so daß ich mich kaum kräftig und geschickt genug glaubte, das ersehnte Ende glücklich und zur Zufriedenheit aller dabei Beteiligten erreichen zu können.

Günstigerweise indessen trat diesem Übelstande nach einigen Tagen der Bewegung und des Nachdenkens mein glückliches Naturell und die individuelle Richtung meines Geistes siegreich gegenüber. Von frühester Jugend an durch Erziehung und lebhafte Neigung meines Herzens geleitet, war ich dem geheimen Schaffen und Wirken der Natur leidenschaftlich zugetan. In früheren Tagen Schwärmer, in späteren treuer Beobachter, war ich durch fleißiges Studium mit den erheiternden Stimmen der Natur vertraut, und einmal in ihre Wunder eingeweiht, hatte ich mich längst gewöhnt, den geheimnisvollen Zauber ihres göttlichen Atems auf mich einwirken zu lassen, mir eine Erklärung, wo sie möglich war, zu verschaffen, und ihr dagegen aus Erkenntlichkeit alles das aufzubürden, was ich selbst und allein zu tragen für zu schwer oder gar unmöglich hielt. Alles in ihr, was mich umgab: ihre Bäume, ihre Berge, ihre Täler, ihr Regen und ihr Sonnenschein, ihre Winde und ihr lautloses, feierliches Schweigen, hatten tausend Ohren für mich geöffnet, wie sie selbst aus tausend Lippen zu mir zu sprechen schienen, und ich verstand diese liebliche, wunderbare, ewig redende Sprache, und es war kein Wunder, daß ich mich so gern stundenlang, ohne etwas Anderes zu wollen oder zu denken, in dieses an Schätzen so reiche Meer zu vertiefen und immer näher an die Quelle von dem zu dringen strebte, was auf ewig das Ziel alles Ringens einer menschlichen Brust, aber auch für ewig der Stein des Sisyphus sein wird, der nie den Berg hinaufzuwälzen ist.

Und wie ich in meiner Jugend die Natur zu betrachten und zu erkennen gelehrt worden war, so wollte ich als Mann, ja, besonders in meinem Berufe als Arzt, in vorgerückten Jahren auch den Menschen erforschen und behandeln, der ja weiter nichts als die Natur im Kleinen ist, der, wie sie, seinen Sonnenschein und seine Stürme, sein Licht und seinen Schatten, seinen Frühling und seinen Winter hat. Wenn ich mit einem fremden Menschen in ein neues Verhältnis trat, so suchte ich sogleich seine Fähigkeiten, seine Neigungen und seine Bestrebungen kennenzulernen; ich übte mich, mich an seine Stelle, in seine Verhältnisse zu versetzen und aus ihm heraus, nach seinen Ideen zu denken und zu handeln, und durch diese fleißig fortgesetzte Übung war es mir oft geglückt, zu erkennen, wie und was der Mensch war und wie ich demnach mit ihm umgehen müsse.

Diese Erkenntnis, ich gestehe es ein, täuschte mich zwar bisweilen, denn manche Menschen umhüllen sich mit einem so dichten Schleier und Undurchdringbarkeit, daß alle Versuche dieser Art an ihnen scheitern; im Ganzen aber hatte ich doch die Freude, den Vorteil dieser geistigen Spekulation auf meiner Seite zu sehen, ich selbst war gefördert und gewann oft das Vertrauen derer, mit denen ich mich so sorgfältig beschäftigte.

Von jeher war es aber meine Lieblingsbeschäftigung gewesen (und ich glaube, ich habe dies schon früher einmal angedeutet), das Äußere des Menschen mit einem Blicke zu erfassen und daraus, wenn auch kein Urteil, doch eine Mutmaßung über seine intellektuellen, moralischen und gemütvollen Eigenschaften zu erzielen.

Nichts Interessanteres gibt es ja für einen Arzt, als dieses sonderbare, bewegte Mienenspiel der verschiedenen gesunden und kranken Menschen genau zu beobachten und treu mit ihrer inneren Begabung zu vergleichen. Es haben dieses sinnreiche Studium schon vor mir unendlich viele Ärzte getrieben, und daraus sind die sogenannten physiognomisch-diagnostischen Krankheitstabellen entstanden, indem man so weit ging, anzunehmen, daß jede Krankheit – wie jede Leidenschaft – einen bestimmten Gesichtsausdruck, einen gewissen eigentümlichen Blick hervorrufe. Dies will ich nun nicht behaupten, noch weniger verteidigen, denn der Schmerz drückt sich nicht allemal nach dem Sitze des Schmerzes und dem Teile des Leidens auf dem Gesichte verschieden aus, sondern er drückt sich einzig und allein der individuellen Reizempfänglichkeit des Leidenden und seiner moralischen Kraft und geistigen Bildung gemäß aus. Für mich waren nur die individuellen Mienen und Züge des Kranken interessant, und da ich diese Lieblingsbeschäftigung von den Kranken auf die Gesunden übertrug, so bewegte ich mich forschend, denkend und phantasierend in diesem ewigen Kreise – Natur und Mensch, in Beiden war ich zu Hause, Beide gaben mir von dem Ihrigen und ich ihnen von dem Meinigen.

Doch ich darf mich nicht in dieses Gewirr anthropologischmedizinischer Spekulation verlieren! Sehr viele Leser, nicht allein die, welche leicht gelangweilt werden, wollen überhaupt nichts Medizinisches, wie sie sagen, hören, und so kehre ich denn zu meiner stillen Reise, meinen stummen Betrachtungen und namentlich mit Freuden zu der Beruhigung zurück, welche ich empfand, als die schöne, frische, kräftige Natur anfing, auf mein gedrücktes Herz zu wirken und mich den Grübeleien zu entziehen, welche mein phantastisches Hirn ausgeworfen hatte.

Auf diese Weise ganz dem Reize der Gegenwart wieder hingegeben, wandte ich vor allen Dingen meine größte Sorgfalt auf das von der Freundschaft mir anvertraute Pfand, mein Pferd, das unter mir so leicht und munter tanzte, als hätte es nicht eine mehrwöchentliche Reise, sondern einen Spazierritt von einigen Stunden vor sich gehabt. Da ich stets selbst nach seiner Pflege und Wartung sah und mit ihm sprach und es liebkoste, wie ich es von Mr. Sidney gesehen, ihm auch nie die Kraft meiner Herrschaft zu fühlen gab, vielmehr es fast ganz seinem eigenen Triebe überließ, so verstanden wir uns gar bald und ich warf meine ganze Neigung auf das edle Tier, das so froh und heiter schien, wie ich es selbst geworden war.

Die ersten beiden Tagereisen hatte ich höchst mäßig eingerichtet; ich mußte mich erst selbst an diese Art zu reisen gewöhnen, daher machte ich nur ungefähr zwanzig Meilen, die Bravour kaum zu fühlen schien. Den dritten Tag aber machte ich fünfundzwanzig und den vierten mußte ich noch mehr eilen, um mein Nachtquartier in dem Hause des Landpfarrers zu erreichen, dem die Söhne des Krämers zum Unterricht anvertraut waren.

Es ging gegen Mittag dieses Tages, als ich in eine bewohntere und vom menschlichen Verkehr blühendere Gegend kam, die, von kleinen Flüßchen bewässert, von jeher die volkreichste und betriebsamste Englands gewesen war.

Rings um mich her sah ich die von Rauch geschwärzten Schornsteine der großen Fabriksgebäude, die Tag und Nacht ihre künstliche Arbeit verrichten, nie müde werden und nie schlafen, aber ewig stöhnen, als fühlten sie die Mühe, die es ihnen macht, in der erfindungsreichen Hand des Alles besiegenden menschlichen Geistes ihre unausgesetzte Tätigkeit zu unterhalten.

Zwischen ihnen, hier und da zerstreut, lagen belebte Meier- und Pachthöfe, auch wohl einmal das schöne Landhaus eines reichen Baronets, und überall waren die Bewohner in lebhafter Bewegung, das Brot zu verdienen, welches, durch eigener Hände Arbeit erworben, so süß schmeckt.

Nachdem ich in einem kleinen Weiler mein einfaches Mahl eingenommen, mein Pferd gesättigt und mich nach dem besten Wege erkundigt hatte, stieg ich wieder auf und trabte der mir genau bezeichneten Gegend zu.

Allmählich gewann das Land wieder einen mehr ländlichen Anstrich. Alle Felder, welche ich durchschnitt, wogten von der üppigen, seiner Reife entgegengehenden Saat, an manchen Orten sogar fand ich den emsigen Landbewohner schon mit Vorbereitungen zur Ernte beschäftigt, und endlich Nachmittags fünf Uhr erblickte ich von ferne das kleine Dörflein, in welchem der mir bezeichnete Pfarrer seinen Wohnsitz hatte.

Friedlich leuchtete der weiße Kirchturm, um den eine Schar zahmer Tauben flog, über die niederen, braunen Giebel der Häuser hervor, die von schattigen Linden umgeben und rings mit grünen wohlbeschnittenen Hecken geschmückt waren.

Ich näherte mich langsam, indem ich mich durch die neugierig versammelte Dorfjugend drängte, und befand mich bald inmitten des Dörfchens, wo ich dem Kirchhofe gegenüber das stille, harmlose Häuschen des Geistlichen erfragte, welches, aus Backsteinen erbaut, vor den übrigen Häusern durch einen grün gestrichenen Zaun vor der Tür sich auszeichnete.

Eben als ich abgestiegen und beschäftigt war, den Zügel meines Pferdes an das hölzerne Gehege zu binden, sprang ein rotwangiger, lockenköpfiger, stämmiger Bursche von etwa sechzehn Jahren lärmend aus der Tür, den ich sogleich als meinen alten Bob, den ältesten Sohn unseres guten Phillipps, begrüßte. Nicht ich, sondern die Ankunft eines schönen Pferdes hatte ihn herausgelockt; sobald er mich aber genauer betrachtete, erkannte er auch mich und rief:

»Ach, Sir! Sie sind's! Das habe ich nicht gedacht, und was für ein schönes Pferd! Gelt! es ist besser zu reiten, als zu gehen!«

»Das war auch meine Meinung«, sagte ich lächelnd, »und darum bin ich auch zu Pferd gekommen. Wie geht's dir, Bob, und dem kleinen Will, deinem Bruder?«

»Ei, ganz gut, Sir! Und haben Sie den Vater gesehen?«

»Jawohl, Bob, und eben seinetwegen komme ich zu dir und hoffe, du wirst dich freuen, etwas Angenehmes von ihm zu hören.«

»Nun, Sir, soll ich etwa wieder die Wagen ziehen?« sagte der Junge und sah mich fragend an.

»Keineswegs – doch vor allen Dingen, wo ist Mr. Smith, der Pfarrer?«

»Treten Sie herein, Sir, er ist noch nicht da, aber er wird gleich kommen, denn er ist schon vor zwei Stunden aufs Feld gegangen, die Saat zu besehen.«

Er öffnete mir die Tür und wir traten in ein reinliches, mit feinem weißen Sande bestreutes und mit eichenen Möbeln versehenes Zimmer. An einem Fenster saß ein bejahrtes Mütterchen, eifrig beschäftigt, ihr leise schnurrendes Spinnrad zu drehen, doch sobald wir eintraten, stand sie auf und kam mir entgegen.

»Guten Abend, Mütterchen!« redete ich sie an und reichte ihr die Hand. »Wie ich höre, ist Seine Ehrwürden, der Herr Pfarrer, nicht anwesend, ich hoffe aber, daß Sie mir erlauben werden, einen Augenblick auf ihn zu warten.«

»Mit Vergnügen, Sir!« erwiderte die Haushälterin des Geistlichen, denn das war sie, und rückte mir einen mit braunem Leder überzogenen Sessel an den Tisch.

»Erlauben Sie, Sir, daß ich das Pferd in den Stall bringe?« fragte Bob, der schon in Erwartung einer bejahenden Antwort die Türklinke in der Hand hielt. »Die Jungen da draußen sind so neugierig um den wackeren Bravour, der zwar gutmütig, aber doch ein Hengst ist.«

»Was!« fragte ich staunend, »kennst du das Pferd?«

»Ei Sir, ein Pferd wie dieses, was ich selbst oft gefüttert und gestriegelt habe, als ich noch jünger war, das kennt man immer wieder, und Mylord Percy hat mich sogar darauf reiten lassen, als ich noch kleiner war.«

»Geh und führe es in den Stall!« sagte ich zu dem Knaben, der mir immer verständiger, stärker und größer erschien, je länger ich ihn betrachtete, je mehr er sprach und mit seinen großen blauen Augen mich so treuherzig ansah, wie es sein Vater getan haben würde, wäre er an seiner Stelle gewesen.

Der Knabe sprang vor die Tür, warf dem Pferd eine Decke über und führte es, unter frohlockendem Jauchzen der die Tür umgebenden Dorfjugend, durch das große Tor in den Stall.

Nach zehn Minuten war er schon wieder im Zimmer.

»Nun, Bob, ist alles gehörig besorgt?«

»Ja, Sir, ja! Und ich glaube wahrhaftig, Bravour hat mich erkannt, denn er wieherte mich an, als ich ihn, wie ich es sonst tat, am Halse streichelte.«

»Da ist Bravour beinahe so verständig wie du – aber jetzt sage mir, womit beschäftigst du dich hier?«

»Ich lese, schreibe und höre die Predigten Seiner Ehrwürden; auch lerne ich Geschichte, Geographie und Arithmetik, Sir. Aber was die Arithmetik anbetrifft, die liebe ich nicht sehr!«

»Ganz wie bei uns!« dachte ich und lachte herzlich über den aufrichtigen Burschen.

»Du bist überhaupt wohl lieber auf dem Felde, als am Schreibtisch?« fragte ich und sah ihn bedeutsam an.

Der Junge lächelte und warf der Alten einen Blick zu, die ihrerseits versetzte:

»Ja, Sir! Will lernt besser, und Bob ist nur schneller im Handeln und vorlauter im Reden als er.«

»Kannst du auch reiten?« fragte ich.

Jetzt aber wurde der Junge rot, stockte mit der Antwort und blinzelte mit einem Auge nach der Seite hin, wo die Haushälterin saß; diese aber nahm plötzlich ein ernsthafteres Aussehen an und sagte in einem weniger scherzhaften, aber immer noch gutmütigen Tone:

»Was das anbelangt, Sir, so tun Sie da eben eine Frage, die heute Abend, wenn Seine Ehrwürden zurückkehrt, noch ernstlich zur Sprache kommen wird.«

»Wieso?«

»Ei nun, ich habe Bob lieb, recht lieb, denn er ist ein guter Junge, wenn auch etwas zu wild, aber er hat dem Herrn Pfarrer während seiner Abwesenheit heute eine Verlegenheit bereitet, die ihm einen harten Verweis zuziehen wird, wenn gar nicht eine Strafe–«

»Nun, mein Gott!« rief Bob in einem sehr ergötzlichen, halb komischen, halb tragischen Tone, »mein Gott! was ist es denn weiter, ein Füllen zu reiten!«

»Ja, aber es halb tot und steif zu reiten, dächte ich, wäre mehr als genug!« entgegnete die Alte scheltend.

»Halb tot?« rief der Knabe und lachte laut auf, »da höre Einer die Geschichte! Ein halb totes Pferd läßt sich im Stall den Hafer vortrefflich schmecken; könnt' es das, Sir, wenn es halb tot wäre?« »Sei ruhig, Bob, ich sage, was ich gesagt habe –« »Hast du das wirklich getan, Bob?« fragte ich ernst. »Nein, Sir, nein, die Wahrheit zu sagen! Ich schlenderte hinten auf der Wiese herum, und da ging das Füllen, was eigentlich längst kein Füllen mehr ist, auf dem Klee, der uns gehört, nicht aber dem Nachbar, der das Pferd besitzt. Auf alle Fälle, dachte ich, ist es besser, daß ich ein bißchen auf dem Füllen des Nachbars reite, als daß es allen Klee Seiner Ehrwürden abfrißt, und da habe ich ihm einen Zaum angelegt, mich aufgesetzt und es ein wenig herumtraben lassen. Das ist die ganze Geschichte, wenn Sie es wissen wollen!«

»Traben!« rief die Alte, jetzt wirklich im Zorn, »du mein Herrgott, traben! Er hat es springen lassen, Sir, über die Deichselstange des Heuwagens, bis es nicht mehr konnte – ja – lache nicht, Bube und da – da kommt der Herr Pfarrer.«

Die Vortüre draußen knarrte, und gleich darauf trat der ehrwürdige Mr. Smith ein; ein grauköpfiger kleiner Mann von würdigem Aussehen, in schwarzem Frack mit breiten Schößen und großen Knöpfen, Hut und Stock in der einen und einen Büschel Feldblumen in der anderen Hand. Sein Gesicht war milde und freundlich und sein ganzes Wesen trug den Stempel eines echten britischen Landpriesters aus der guten alten Zeit. Ehe ich aber noch meinen Gruß hatte sprechen können, kam Will hinter ihm her, schüttelte mir die Hand und rief in einem frohlockenden Tone:

»Ei! da ist der Herr, Euer Ehrwürden, von dem ich Ihnen neulich erzählte, daß er uns einen Schilling gab und den Wagen mit fortschieben half.«

»Guten Abend, ehrwürdiger Herr!« sagte ich und drückte dem Geistlichen die Hand, der mich willkommen hieß.

»Was verschafft mir die Ehre Ihres angenehmen Besuches?« fragte er ebenso bescheiden und sanft, wie er aussah.

»Wenn Sie erlauben, Sir, so habe ich einen Brief für Sie und eine Bitte von dem Vater dieser beiden Knaben – könnte ich nicht ein Wort mit Ihnen unter vier Augen reden?«

»Sehr gern, sehr gern – treten Sie näher!«

Und er öffnete mir die Tür eines anderen Zimmers, in welchem er seine Predigten zu studieren pflegte. Es war womöglich noch einfacher ausgestattet als das Wohnzimmer und sah gerade so aus, wie es für einen bescheidenen und gottesfürchtigen Landgeistlichen aussehen mußte und fast überall aussieht.

Ein großer Schreibtisch von Nußbaumholz und ein Sessel davor, an der Wand hinauflaufende, auf Brettern stehende Bücherreihen, über dem Schreibtisch ein schöner Kupferstich des heiligen Abendmahls und auf dem Kamin ein schwarzes Kreuz von Gußeisen – das war Alles, was in diesem kleinen Gemache zu bemerken war.

Die Zeit, während der Pfarrer den Brief las, reichte gerade hin, diese Betrachtungen anzustellen; als er fertig war, faltete er das Blatt zusammen und sagte:

»Also Sie wollen mir meinen guten Bob schon wieder nehmen, und zwar zu einer ernsthaften Reise – wohl! ich kann nichts dagegen haben, obgleich ich gewünscht hätte, ihn länger als sechs Wochen bei mir zu behalten. Doch es ist auch so gut und Gott segne Sie und ihn, wie das, was Sie mit ihm vollbringen wollen.«

»Ich danke von ganzem Herzen, Euer Ehrwürden – Bob ist doch konfirmiert?«

»O, schon vor einem halben Jahre, ehe er zu mir kam. Auch hat der Knabe Kopf, obwohl nicht so viel Ruhe und Ausdauer wie sein jüngerer Bruder Will – wollen Sie ihn nicht gleich sprechen und seine Einwilligung vernehmen?«

Auf meine Bejahung öffnete der Geistliche die Tür und rief Bob, der sogleich erschien, aber mit etwas trübem Gesichte, denn er mochte an das gejagte Füllen denken, und die Strafpredigten wurden immer in diesem ernsthaft aussehenden Zimmer gehalten.

»Höre, mein guter Bob«, redete ihn freundlich der Pfarrer an, »dieser Herr hier, den du schon kennst, bringt mir eine Nachricht von Mr. Phillipps, deinem Vater, und wünscht dich zu seinem Diener oder, wenn du lieber willst, zu seinem Begleiter auf der Reise, die er antritt. Wie ich weiß, warst du schon lange zu diesem Berufe bestimmt, ehe dieser Herr hierher kam, obgleich zu dem Dienste Seiner Herrlichkeit des Viscount von Dunsdale. Da aber dieser Herr in Angelegenheiten Seiner Herrlichkeit unterwegs und es ziemlich gleichgültig ist, ob du einige Monate früher oder später diesen Dienst antrittst, so frage ich dich: hast du Lust mitzureisen und wirst du, meinen häufigen Ermahnungen eingedenk, stets treu, fromm und zu jedem dir aufgetragenen Dienste bereit und willig sein?«

»Ja, Sir, ja!« sagte Bob rasch, »ich habe große Lust; ei was, und gleich soll ich mit auf diese Reise? Das wäre mir gerade recht!«

»Und noch dazu zu Pferd!« bemerkte ich, »denn wir müssen Beide beritten sein.«

»Hoho!« rief der Junge und sprang vor Freude in die Höhe, »Reiten, mit Ihnen? Und durch das lustige England? Das ist ja gerade, was ich mir immer gewünscht und worüber mich Will so oft ausgelacht hat. Das ist schön, das ist schön! Ja, ja, Euer Ehrwürden, ich will treu, fromm und fleißig sein, ich will Ihre guten Lehren nie vergessen, ich will an Sie denken und für Sie beten, wie ich für den Vater und den Viscount von Dunsdale, unseren Herrn, bete.«

»So ist es recht, mein Sohn!« erwiderte der Geistliche, und legte segnend seine Hand auf des Knaben Haupt.

Darauf kehrten wir in das Wohnzimmer zurück, wo die alte Haushälterin das Abendbrot bereitet hatte, bestehend aus dicker Milch, Eiern, Käse, Schinken und Fisch, und wo sie erfuhr, daß ich für die nächste Nacht der Gast ihres Herrn sein würde.

»Höre, Will!« schrie Bob seinen Bruder an und legte ein ganzes Pack Bücher vor ihn auf den Tisch; »da hast du sie alle, und ich will nichts dafür haben, denn ich brauche sie nicht mehr.«

»Was denn, Bob, willst du wirklich fort?« Ja, Will, mit dem Herrn Doktor und Bravour und meinem eigenen Pferde fort, und heißa! durch das ganze lustige England hin –!«

Wir lachten und freuten uns des muntern Knabensinnes, der tüchtig zu werden versprach.

»Es kann nicht anders sein!« sagte der Geistliche, »er ist seines Vaters leiblicher Sohn!«

Während des Essens besprachen wir das für die Gegenwart Notwendige, und namentlich wurde der benachbarte Pächter zum Ankauf eines passenden Pferdes und der Dorfschneider behufs der Anfertigung der nötigsten Kleider für Bob zum Pfarrer beschieden.

Ersterer erschien, und da er vom Ankauf eines Pferdes hörte, vergaß er den ihm von Bob gespielten Streich, stellte seinen starken und ziemlich großen Fuchspony vor und erhielt für Pferd, Sattel und Zaum achtzehn Pfund und vier Schillinge, welchem ersteren Bob sogleich, wie ein echter Pferdekenner, nach dem Gebiß sah und dann seine Zufriedenheit äußerte.

Als der Schneider kam und ich Bob fragte, was für Kleidungsstücke er haben wollte, sagte er:

»Nichts weiter, Sir, als ein Paar Stulpenstiefel mit neusilbernen Sporen, eine rehlederne Hose mit Knöpfen besetzt und einen solchen hellgrauen Regenmantel, wie der Ihrige da ist – alles Übrige habe ich.«

»Teufelsjunge!« rief ich, »mit den Hosen und dem Mantel mag es meinetwegen gehen, aber wo sollen wir die Stulpenstiefel mit den Sporen hernehmen, wir sind in einem Dorfe!«

»Wenn's Geld da ist«, war die Antwort, »sollen auch die Stiefel da sein – drei Häuser von hier wohnt Mr. Touton, der Schuster, und der hat gerade solche am Fenster stehen.«

Wir mußten wiederum über den guten Kopf lachen, der sich zu helfen wußte, und bestellten die Kleider, die der Schneider zum Abend des nächsten Tages versprach.

Dieses Umstandes halber war ich genötigt, zwei Nächte bei dem Pfarrer zu bleiben, was mir meines Pferdes wegen nicht unlieb war.

Endlich aber war die Stunde des Abschieds gekommen; Bob war gestiefelt und gespornt und, mit den Rehledernen und dem Regenmantel versehen, bestieg er so geziemend sein Pferd, wie es der erste Reitknecht Ihrer Majestät nur hätte tun können.

Der Pfarrer und Will, dem die Tränen in den Augen standen, begleiteten uns vor die Tür, und von des ehrwürdigen Mannes besten Segenswünschen begleitet, ritten wir an einem schönen Julimorgen fort in das duftige Grün der von Bob so sehr geliebten Saatfelder und Wiesengründe.


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