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6. Kapitel

In der Konferenz, welche dem Konzerte gefolgt war, hatte man beschlossen, diejenigen Irren, welche man für die Darstellung des Schauspiels auserwählt hatte, am nächsten Morgen zu versammeln, um ihnen ihre Rollen zuzuteilen, die der Oberarzt längst zu dem Zwecke hatte ausschreiben lassen.

Man hatte ein allgemein bekanntes und ergreifendes Stück ausgewählt, Shakespeares »König Lear«, da dieses Trauerspiel durchaus der Absicht entsprach, welche die Unternehmer vor Augen hatten. Denn sie brauchten ein Schauspiel, welches alle menschlichen Leidenschaften in Anspruch nimmt, voll von Gemütsaffekten ist, den Geist spornt und dennoch wegen der darin befindlichen Gegensätze des Guten und Schlechten beruhigt und zur Lehre dienen kann.

Hauptsächlich hatte man sein Augenmerk auf den Kontrast gerichtet, denn dieser ist ein vorzügliches Heilmittel in der Hand eines erfahrenen Irrenarztes.

Betrachtet man nun »König Lear« von diesem Gesichtspunkte, so findet man nicht allein die ungeheuersten Kontraste darin, sondern in dem kurzen Zeitraum einiger Stunden entwickeln sich dieselben auf die anschaulichste und gemessenste Weise.

Shakespeare selbst läßt den Gloster in seinem Trauerspiel von den Zuständen, in welchen sich dasselbe bewegt, sagen:

»Liebe erkaltet, Freundschaft fällt ab, Brüder entzweien sich; Bande zwischen Vater und Sohn zerreißen, Sohn gegen Vater, Vater gegen Kind, die Natur selbst aus dem Geleise.«

Das sind alles vortreffliche Dinge, um einen Geist, der von seiner regelmäßigen Bahn abgewichen ist, auf seine Pflicht und sein Verhältnis aufmerksam zu machen.

Der Oberarzt, schon in ähnlichen Arbeiten geübt, hatte längst dieses Trauerspiel, seinem Zwecke gemäß, gesäubert, gekürzt und gewissermaßen, ohne seinem Werte, den es als Kunstwerk besaß, etwas Bedeutendes zu nehmen, künstlich zugeschnitten. Er legte mir seine Arbeit vor und ich hatte mit ihm ein langes Gespräch zu Ende geführt.

Bei genauerer Prüfung seines »König Lear« fand ich nicht ein einziges Wort zugesetzt, wie sich das von selbst versteht, nur das Ganze war in eine etwas gefälligere Form gebracht, die der Zeit und den Umständen angemessener war; und da ich den alten, unübertrefflichen Shakespeare, nur in verständlicherer Gestalt, wiederfand, so war ich natürlich mit ihm einverstanden.

»Wie wollen Sie aber dieses schwierige Stück besetzen?« fragte ich am Schlüsse unserer Unterredung.

»O, das ist sehr leicht«, war seine Antwort. »Ich kenne meine Leute und habe ihnen schon längst im Stillen ihre Rollen zugeteilt, ohne daß sie die geringste Ahnung davon haben. Nun ist es nur noch unsere Sache, daß jeder der Mitspielenden aus freiem Antriebe seine gerade für ihn ausgesuchte und passende Rolle wähle. Einige schöne, zur rechten Zeit angebrachte Redensarten, eine vorteilhafte Darstellung des Umfanges, des tiefen Sinnes und Inhaltes der Rolle, und wie natürlich der Beifall sein muß, den man damit ernten kann, das allein wird schon dazu beitragen, den von uns auserlesenen Darsteller zur Übernahme seiner Rolle geneigt zu machen. Freilich muß man sich gefaßt machen, alle kleinlichen, egoistischen Rücksichten und Spiegelfechtereien, wie wir sie auf den Brettern der Welt und der Schaubühne haben, auch hier in unserem Irrenhause wiederzufinden, denn diese Menschen sind wie alle Menschen und haben ihre starken und schwachen Seiten so gewiß wie jene. Natürlich aber sind nur diejenigen zur Rollenverteilung eingeladen, die wir zum Spielen tauglich befunden haben, denn wenn alle oder der größte Teil nur zugegen wäre, so würden wir so viele Schauspieler haben, als Verrückte da sind. Der verrückte wie der geistesgesunde Mensch spielt ungeheuer gern Komödie, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet.«

»Aber wie? Erwacht kein Neid, keine Eifersucht unter den nicht Gewählten gegen die, welche glücklicher sind als sie?«

»O nein! Sie hören davon wie von einer abgemachten Sache, ärgern sich vielleicht ein wenig und geben sich nachher desto mehr Mühe, durch vorzügliches Betragen in den vornehmen Rang der Spieler mit einzutreten. Deshalb beruhigen sie sich bald, denn sie hoffen von der Zukunft für sich ein Gleiches.«

»Aber«, fragte ich weiter, »fürchten Sie denn unter den Schauspielern verschiedenen Geschlechtes keine Vorfälle ernster Art, keine entstehende Neigung, keinen möglichen Abscheu, keinen Widerwillen?«

»Ganz und gar nicht!« erwiderte der Arzt. »Denn wir finden das ja auch in der Welt ebenso und oft noch viel deutlicher und schroffer ausgesprochen als hier. Betrachten Sie nur einmal den sogenannten künstlerischen Eigensinn und seine Laune, ob Sie da nicht manchmal an dem gesunden Verstande dieser liebenswürdigen, talentvollen Personen zweifeln möchten! Niemand aber hat von all dem Krieg und all der Feindseligkeit, mit der sie aufeinander losstürzen, einen entschiedenen Nachteil, man müßte denn die Verletzung der Eitelkeit dafür halten. Hierin ist Jeder sein eigenes Schicksal, und er hat sich zu hüten, daß er sich selbst kein Elend bereite Während wir nun diesen Vorteil mit den vernünftigen Menschen zugleich genießen, haben wir unsererseits noch einen anderen, und für uns einen viel wichtigeren, voraus, nämlich den, daß es uns schon oft gelungen ist, durch eine leidenschaftliche, unvorhergesehene Neigung, durch eine interessante nachhaltige Bekanntschaft, durch das Anspinnen eines unschuldigen Romans eine schnelle, glückliche Heilung zustandezubringen. Überhaupt gibt es ja nichts Heilsameres für unsere Pfleglinge, als wenn es uns gelingt, sie aus ihrem Insichversunkensein heraus und zu dem Sichhineindenken in eine andere Lage bringen zu können. Und was bewirkt dies mehr als die Liebe, diese am wenigsten egoistische Leidenschaft, deren Gegenstand eine fremde Individualität ist! Freilich haben Sie Recht, wenn Sie fürchten, es könne einmal ein Irrtum, ein Fehltritt, eine sogenannte Szene entstehen, das ist auch schon vorgekommen, aber, haha! dafür haben wir ja Mittel, dem Irren seine richtige Stellung in der Welt anzuweisen und ihn vor der Wiederholung seiner Torheit zu bewahren. Übrigens weiß hier auch ein Jeder, was sich für ihn ziemt, und da er es für einen Vorzug hält, mitzuspielen, so zeigt er sich von seiner besten Seite, um auf keine Weise sein einmal erlangtes Glück ein- für allemal zu verscherzen. Sie sehen, wir sind auf Alles gefaßt und vorbereitet.«

Ich sah die Vortrefflichkeit von dem, was er mir sagte, ein und wünschte ihm Glück, soviel Gutes durch soviel Angenehmes leisten zu können. Der Rollenverteilung, welche unmittelbar nach dem Gespräche stattfand, wohnte auch Mr. Sidney bei, obwohl er selbst nicht als Schauspieler mitwirkte.

Es vergingen hierauf mehrere Tage, an denen ich keine Gelegenheit hatte, mich mit Mr. Sidney ungestört zu unterhalten. Und selbst die kurzen Unterhaltungen, die wir den vielen Hindernissen, welche uns umgaben, abgewannen, wurden noch sehr oft unterbrochen. Es war ein Glück für ihn, daß keiner seiner Wärter vollständig Deutsch verstand und ihn somit wohl stören, aber nicht belauschen konnte; daher sprachen wir denn auch gewöhnlich Deutsch, sogar über Dinge, die Jeder hören konnte, damit nicht etwa unter den zufälligen Zuhörern der Verdacht entstände, er spräche nur das Gleichgültige englisch, das aber, was Niemand verstehen sollte, deutsch.

Hierbei bemerkte ich erst recht, unter wie strenger Aufsicht man diesen Kranken hielt, wenigstens fiel es mir bei ihm am meisten auf. Beständig machten sich einige Aufpasser um ihn zu schaffen, seine Zimmer wurden, wenn er darin war, beinahe stündlich von dem ihm gegenüber wohnenden Wärter besichtigt und jeder Besuch, der bei ihm eintrat, genau beobachtet und höheren Orts gemeldet.

Auch im Garten, im Park, in der Reitbahn, auf dem Turnplatz, im Billardzimmer, kurz überallhin folgten ihm scharf blickende Augen, die all sein Tun und Lassen mit der sorgsamsten Ausdauer bewachten. Die Klasse dieser Bediensteten war in St. James, wie sie nicht immer gefunden wird, ausgezeichnet an Aufmerksamkeit und Beharrlichkeit.

So kam mir der sogenannte Irre von St. James mehr wie ein Staatsgefangener als ein Kranker vor. Was mir hierbei am meisten auffiel, war, daß er selbst diese Aufpasserei kaum zu bemerken schien, entweder, weil er sich im Laufe der Zeit daran gewöhnt hatte, oder weil er von Natur zu stolz war, dergleichen Dinge zu beachten. Und wenn er es auch in Ausnahmefällen, in denen der Spion nicht zu verkennen war, bemerkte, so verriet doch kein Zeichen an ihm, daß er unangenehm dadurch berührt wurde. War dies jedoch wirklich der Fall, so bewies er durch seine Ruhe und sein durchaus gleichmäßiges Betragen, daß er wenigstens ebenso klug war wie diejenigen, die ihm diese Aufpasser zugesellt hatten.

Nur einigemale, als uns, auf einem Spaziergange oder auf einer Gartenbank beim Schachspiel sitzend, ein Wärter langsam und lauernd in immer engeren Kreisen umschlich und jedes seiner Worte und jeden seiner Blicke mit Augen und Ohren zu erhaschen bemüht war, sah er sich kaum lächelnd um und nickte demselben vertraulich zu, als wolle er gewissermaßen damit andeuten: ich bin da und befinde mich wohl! Geh' und sag's. Aber dergleichen Blicke waren im Ganzen überaus selten und konnten nur einem scharfen Beobachter wahrnehmbar sein.

Selbst das Vertrauen, welches er von Tag zu Tag mehr in mich zu setzen schien und vor Niemandem zu verbergen suchte, erregte allmählich ein leises Mißtrauen bei der Verwaltung und dem Oberarzt, der auf alle Kranken ein wachsames Augenmerk hatte. Eines Tages fragte mich der Direktor, obwohl mit der größten und zartesten Freundlichkeit, wie es komme, daß ich mich so viel mit dem einen und viel weniger mit den anderen Kranken beschäftige? Warum ich fast nur Deutsch mit ihm spreche, da mir das Englische doch geläufig genug sei, um über Alles und Jedes mich mit ihm unterhalten zu können, und ob ich auch meiner Überzeugung als Irrenarzt gemäß zu handeln gewiß wäre, wenn ich Mr. Sidney in seinen Lieblingsbeschäftigungen, seinem Sichgehenlassen usw. durch meine Teilnahme ermunterte?

Ich erwiderte ihm, daß mich der reine, erhabene Geist, der diesem liebenswürdigen jungen Mann innewohne, interessiere, daß ich Beobachtungen seltener und schwer zu erreichender Art über seinen sonderbaren Gemütszustand sammle, daß ich gewöhnlich Deutsch mit ihm rede, weil er sich darin üben wolle, und daß ich endlich nur nach meiner Überzeugung als Arzt handle, wenn ich mich bemühe, seine Ansichten zu berichtigen und ihn in seiner fortschreitenden Genesung zu befestigen und weiterzuführen.

Hiermit sprach ich die Wahrheit aus, und meine Worte waren ganz so eingerichtet, die Besorgnis des Fragenden aufzuheben und seine Wünsche in Bezug auf seinen Kranken zu befriedigen, aber dennoch konnte ich nicht umhin, wahrzunehmen, daß man in Kleinigkeiten anfing, ein gelindes Mißtrauen in mich zu setzen, oder wenigstens mein Kommen und Gehen mit mehr Aufmerksamkeit zu betrachten, und ich nahm mir daher vor, nur noch vorsichtiger in meinem eigenen Treiben zu werden.

So kam es denn, daß wir in unseren Gesprächen, die wir täglich zu führen geneigt waren, allmählich immer mehr beschränkt wurden, und zuletzt konnten wir uns fast nur im Billardsaal, wo wir unsere Partie spielten, wenn die Andern die ihrigen beendet hatten, einige abgebrochene Mitteilungen machen und uns über das, was wir gerade vorhatten, mit kurzen Worten verständigen. Denn auf den Spaziergängen, bei den gymnastischen Übungen, beim Reiten, woran ich in Gesellschaft der Ärzte und mehrerer anderer Beamten fast stets teilnahm, gesellten sich diese zu uns und schienen es darauf abgesehen zu haben, uns womöglich etwas fern voneinander zu halten. Auf seinem Zimmer ihn zu besuchen, unterließ ich fast ganz, denn jedesmal, wenn ich bei ihm gewesen war, geschah es, daß man ihn einer schärferen Aufsicht, wenn nicht strengeren Behandlung unterwarf, und diese Qualen ihm zu vermehren, der schon so viel erlitten hatte, konnte am wenigsten meine Absicht sein.

»Die Instruktionen, die der Direktor der Anstalt über diesen Kranken erhalten hat, müssen sehr dringend sein«, dachte ich oftmals. »Man scheint entweder von ihm zu fürchten, daß er irgend eine Untat begehen oder fliehen wolle, oder gar, daß er mir eine unerwünschte Mitteilung verborgener Tatsachen zu machen habe, denn anders kann ich mir diese eigentümliche Beschränkung nicht gut deuten!«

Daß übrigens durch alle diese Hindernisse, die man mir in den Weg schob, meine Neigung erhöht und meine Begierde, etwas Näheres von ihm zu erfahren, gesteigert wurde, brauche ich wohl kaum zu bemerken; es war in der Natur der Sache begründet. Es mußte ein wichtiges, schweres Geheimnis auf diesem Manne lasten, und wenn man dieses letztere auch nicht kannte, was ich in der Tat auch nie geglaubt habe, so mußte man doch Grund genug haben, sein Verweilen in St. James für äußerst wichtig und notwendig zu erachten. Was für ein Geheimnis dies aber sei, wen es betreffe, und wieweit der Obere der Anstalt von demselben unterrichtet sei oder ob er blindlings den Befehlen derer gehorche, die über Mr. Sidney zu bestimmen hatten, das zu enthüllen war allein der Zukunft vorbehalten, und ich sah unter solchen Verhältnissen noch gar keine Möglichkeit, wie ich die Mitteilungen, die mir der Irre über sich selbst versprochen hatte, erfahren sollte.

Nichtsdestoweniger aber reichten die kurzen, oft wiederholten Unterhaltungen zwischen uns hin, mich über seinen edlen und erhabenen Charakter, seinen scharfen und klaren Geist, seine außergewöhnliche, über so viele Fächer der Erkenntnis verbreitete Bildung, vor Allem aber über die Innigkeit und Zartheit seines tiefen und doch so schwer verletzten Gemütes aufzuklären. Von Tag zu Tag wurde meine Neigung zu diesem außergewöhnlichen Menschen größer und größer, und in gleichem Maße, wie ich ihn lieber gewann, mußte ich ihn achten und ehren lernen.

Von mir ermutigt und beraten, ertrug er mit dem männlichsten Gleichmut alle oft so unangenehmen Proben, die man seiner Standhaftigkeit und seiner Geduld unablässig auferlegte. Die moralischen Ermahnungen, die der Prediger ihm bisweilen angedeihen ließ, ebenso wie die psychologischen Auseinandersetzungen, die der Oberarzt herbeizuführen sich berufen fühlte, um ihn von seinen Irrtümern zu überzeugen und wieder auf den geraden, logischen Weg des kalten, gesunden Verstandes zurückzuführen, den man in seinen Grundfesten erschüttert glaubte, hörte und beantwortete er nicht allein mit der größten Leutseligkeit und Geduld, sondern er entgegnete sie sogar oft mit weit schärferen Widerlegungen, und richtigeren Bemerkungen, als Mr. Lorenzen und Mr. Bromfield auszusprechen imstande waren. Nur bisweilen, jetzt viel seltener als früher, und dann war sein Gemüt auf der Oberfläche zwar stets spiegelklar und ruhig, doch in der Tiefe bewegt und in einer für uns Alle unerklärlichen Wallung, nur bisweilen, sage ich, verteidigte er sich mit stechender Ironie und dem beißendsten Sarkasmus, ja, er bewies dann gerade, als ob ihm der Widerspruch ein Vergnügen gewähre, das Gegenteil von dem, was man ihm aufnötigen wollte, ohne daß irgendjemand ihn zu widerlegen fähig gewesen wäre; und gerade dieser unglückselige Umstand war es, der seine Lehrer und Leiter in der Meinung bestärkte, daß er unverbesserlich und alle ihrerseits so eifrig angewandten Bemühungen vergeblich seien.

»Vier ganze Jahre hat man sich nun schon vergebens abgemüht«, sagte eines Tages der Oberarzt zu mir, als eben eine solche kaustische Widerlegung stattgefunden hatte und der gute Mann erschöpft und unwillig von seinem Stuhle aufgestanden war, »vier ganze Jahre, und nichts Gewisses ist damit erreicht, nichts dauernd verbessert, nichts gänzlich vertilgt, da sehen Sie, welche Geduld derjenige haben muß, der sich berufen glaubt, das ungeheure Opfer zu bringen, dem Menschengeschlechte auf Kosten seiner eigenen Ruhe und Zufriedenheit seine Irrtümer, seinen geschmacklosen Unsinn, seine gemütlichen Verkehrtheiten logisch zu berichtigen. Man möchte manchmal des Teufels sein! Aber ich werde ihn schon einmal bändigen, diesen Mr. Sidney, meine Geduld ist länger als die seinige, und seine hartnäckige, verbissene Kraft wird meiner Ausdauer erliegen. Wenn es so fortgeht, kann er hier ein halbes Jahrhundert zubringen!«

Ich erschrak innerlich über diesen Ausspruch, aber was konnte ich Gründliches dagegen vorbringen? Hatte ich doch kein Recht dazu, meine noch unverbürgte Überzeugung auszusprechen, was wußte ich Bestimmtes, Gewisses über Mr. Sidney, was den Ärzten hier nicht auch bekannt war, und trotz jener inneren Stimme, die mir das Gegenteil zurief, mußte ich dem hellsehenden Arzte gegenüber, wenn auch nicht durch Worte, doch durch Schweigen meine Zustimmung zu erkennen geben.

Oft, ich gestehe es, quälte mich der Gedanke und machte mich vor mir selbst erröten, ich sei nicht fähig, die Richtigkeit der Einsicht des Arztes und die Unrichtigkeit der meinigen einzusehen. Ein andermal warf ich mir eine zu geringe Erfahrung, eine übereilte Neigung, eine durch dunkle, verworrene Gefühle hervorgebrachte irrtümliche Meinung vor. Wenn ich aber dann wieder auf den so ruhig einherwandelnden Mann, auf sein edles, durch nichts getrübtes, geistig gesundes Äußere hinsah, seine unnachahmlich gleichmäßige, überlegene und nur duldende Physiognomie betrachtete, und sein geistreiches, belehrendes und durch seine Anmut hinreißendes Gespräch anhörte, dann konnte ich, mochte man sagen, was man wollte, dann durfte ich nicht wider meine Überzeugung und gegen jene mächtige, innere Stimme, die nie lauter als jetzt sprach, seinen Ärzten eine richtige und mir eine falsche Ansicht seines Geisteszustandes eingestehen. Ach! und die Sache war, wie sie schwierig zu entscheiden blieb, ebenso wichtig in den Folgen, die dieser oder jener unwiderruflich festgesetzten Meinung auf dem Fuße nachkamen oder nachkommen mußten. Nichts auf der Welt ist schwerer, als über den gesunden oder nicht gesunden Geisteszustand irgendeines Menschen apodiktisch zu entscheiden. Beispiele dieser oder jener Art mit ihren entsetzlichen Folgen liegen mehrere vor. Ich brauche nur an einige wenige Fälle zu erinnern, wo Irre, namentlich Rasende, welche jahrelang vernünftig waren, plötzlich entsetzlich verrückt wurden und das größte Unheil zu stiften imstande waren, Fälle, wie sie, um nur einen zu nennen, der große Heim in Berlin, traurigen Angedenkens und glaublich genug, aufbewahrt hat.

Konnten wir hier nicht einen solchen Fall vor uns haben? Wer bürgte uns dafür, daß es nicht so war?

Doch ich tröstete mich wieder mit dem, freilich nichts für oder wider beweisenden Gedanken, daß diese Fälle sehr selten seien, und ich hatte ja selbst schon einen dieser Anfälle von scheinbarer Tobsucht an meinem Irren beobachtet und den Grund davon, wenn auch nicht vollkommen erfahren, doch ziemlich deutlich ahnen können, so daß ich mich durchaus nicht für überzeugt halten konnte, der vorliegende Fall sei unbedingt ein so seltenes und wirklich so gräßliches Spiel der Natur.

»Nein, nein!« sagte ich zu mir selbst nach solchen höchst widerwärtigen Momenten des Zweifels, »er ist nicht das, wofür sie ihn halten, er kann es nicht sein, es steckt hier irgendeine Schurkerei im Hintergrund, und die Ärzte sind nur getäuscht durch seltsame Verwicklungen in dem von einer schrecklichen Last bedrückten Gemüte dieses Menschen, und ich werde – ich will – ich muß diese Schurkerei erfahren und aufdecken, mag daraus entstehen, was will; aber klar muß ich sehen, denn diese Zweifel sind schrecklich für ihn und für mich, und Beide haben wir sie lange genug ertragen, um sie endlich unerträglich zu finden!«

Mit solchen oder wenigstens ähnlichen Gedanken und Entschlüssen beschäftigt, traf ich eines Nachmittags mit dem Irren von St. James im Parke zusammen, und ungeachtet der vielen Aufpasser, die sich wachsam im Bereiche ihrer Pflegebefohlenen umhertrieben, spazierten wir nach freundlicher Begrüßung in ziemlich ungezwungener Unterhaltung umher. Ich hatte schon seit länger als vierundzwanzig Stunden eine kleine Wolke, mehr der Besorgnis als des geistigen Leidens, auf der Stirn meines Begleiters wahrgenommen und war eben gesonnen, eine Frage deshalb an ihn zu richten, als er zu mir sagte:

»Kommen Sie auf jenen Hügel da; wir können von dem Gipfel desselben die Straße verfolgen, ich sehne mich heute mehr als je nach Freiheit und Bewegung, und wenn ich sie auch nicht genießen darf, dort oben wenigstens kann ich sie mir am besten denken.«

Ich folgte seinem Wunsche, und bald erreichten wir den Gipfel des kleinen mit niedrigem Gebüsch bepflanzten Hügels. Daselbst stand eine bequeme Bank, und wir ließen uns darauf nieder.

Jetzt war ich im Begriff zu sprechen, aber da fesselte mich wieder der Blick des Irren, der mit einer seltsamen Mischung von Erwartung und Besorgnis den Weg hin aufblickte, den ich selbst mit dem Krämer vor mehreren Wochen herabgekommen war. Die Straße schlängelte sich Anfangs ein wenig und verbarg sich hinter kleinen Erderhöhungen, obwohl die Pappeln, mit denen sie eingefaßt war, über dieselben hinwegragten, doch konnte man sie nachher noch beinahe eine ganze englische Meile weit ziemlich genau mit den Augen bestreichen.

Forschend hielt ich meine Blicke auf meinen Gefährten gerichtet; er bemerkte es selber und sagte dann:

»Bitte, sehen Sie nach dem Weg hinauf, es flimmert mir, seitdem ich in diesem Hause bin, alles vor den Augen, sobald ich in die Ferne schauen will; bemerken Sie nichts auf der Straße?«

»Nein!« erwiderte ich. »Erwarten Sie etwas?«

»Ja, sehr viel!« entgegnete er mit ungewöhnlichem Ernst. »Mein treuer Freund, der Krämer, ist nun schon über drei Wochen fort und diese Zeit ist für ihn lang genug, um das Eine oder das Andere ausgeführt zu haben, und da heute Posttag ist und die Post auf diesem Wege und um diese Stunde kommen muß, so werden Sie es natürlich finden, daß ich mich endlich nach einer Entscheidung meines Schicksals sehne.«

»Nach einer Entscheidung, Sir?« fragte ich etwas kleinlaut, denn ich hatte mir vorgenommen, mich auf keine Weise in sein Vertrauen zu drängen.

»Ja!« sagte er mit heller, kräftiger Stimme, und sein Auge blitzte in ungewöhnlichem Glanze, »Entscheidung, mein Freund! Denn es handelt sich hierbei um mehr als um ein Leben und um einen Tod, um zwei, um dreimal Leben und Tod, wenn Sie wollen entweder – oder; es ist dies das Letzte, was ich von dorther erwarte; schlägt auch das fehl, dann, wohlan! bin ich zu jedem Kampfe bereit–ich habe lange genug gezögert und gewartet–jetzt kann ich es nicht mehr, oder mein Herz weicht aus seinen Fugen!«

Die letzten Worte sprach er in einem so entschiedenen und festen Tone, halb mit Entrüstung und halb mit Schmerz, daß ich unwillkürlich erbebte; und aus seiner bewegten Miene und seinem glühenden Blicke sah ich, daß diese Entrüstung eine tödliche und daß dieser Schmerz ein fürchterlicher war.

Es folgte eine Pause, die mir unangenehm wurde, ich brauchte nicht mehr nach dem zu fragen, was ich vorher wissen wollte, ich hatte genug gehört. Um aber das peinvolle Schweigen zu brechen und seinen qualvollen Gedanken eine andere Richtung zu geben, fragte ich:

»Haben Sie volles Vertrauen zu dem Krämer, daß er Ihre Sache pünktlich und nach Ihrem Wunsche führt?«

»Vollkommenes, ich kenne ihn seit achtundzwanzig Jahren solange ich lebe – er war bei meiner Geburt.«

»Ah!« unterbrach ich ihn, »nun wird es mir klar – so waren Sie der Herr, mit dem er in Deutschland gewesen ist?«

Der Irre von St. James blickte mich von der Seite an und lächelte so ruhig, als ob er soeben aus den sanftesten Empfindungen erwacht wäre.

»Der war ich«, sagte er, »ist Ihnen dies erst jetzt eingefallen? Seien Sie aufrichtig.«

»Gewiß will ich es sein – ich habe schon früher einmal daran gedacht, damals, als Sie mir sagten, daß Sie in Deutschland gewesen, was ich auch von ihm wußte; indessen hatte ich wieder meine Zweifel, wie es auch nicht anders –«

»Wie es auch nicht anders sein kann, wollen Sie sagen und Sie haben auch ein Recht dazu. Warten Sie noch eine kurze Zeit, eine sehr kurze Zeit – doch halt! sehen Sie da nichts?«

»Ja!« rief ich und stand auf, denn er war mir schon mit einem Sprunge vorangeeilt, um besser sehen zu können, und blickte scharf in die angedeutete Richtung.

Es war wirklich der Postwagen. Er kam schnell näher, denn der Weg führte bergab. Wir schritten wieder den Hügel hinunter und gingen den Brücken zu. Nach einer Viertelstunde ungefähr fuhr der Wagen in den Hof, und bald darauf wurden die Pakete ausgeteilt und die Briefe herumgetragen. Auch für mich fand sich einer dabei, obgleich ich gerade jetzt keinen erwartete, den mir sogleich der halb blödsinnige Knabe, der mich bediente, in den Park herabbrachte. Der Überbringer ging wieder davon, und ich hielt noch den Brief in der Hand, ohne ihn sogleich zu öffnen, da ich gesehen hatte, daß er von einer mir unbekannten Hand geschrieben war.

Der Gedanke, daß der Irre seinen so sehnsüchtig erwarteten Brief nicht empfangen hatte, schmerzte mich, doch schien es mir, als wenn er selbst darüber ungemein ruhig wäre.

»Und Sie haben wirklich keinen erhalten?« fragte ich.

»Wer kann das wissen!« erwiderte er, »direkt an mich kommt nie einer und darf keiner kommen. Einen erwarte ich nur durch den Direktor und den andern durch – Sie!«

»Durch mich?« fragte ich etwas erstaunt, indem ich meinen Blick auf sein ruhiges Antlitz heftete.

»Nun ja! Sobald jener Mann da vor uns sich um das große Gebüsch wendet, zeigen Sie mir die Aufschrift Ihres Briefes.«

Ich wartete, bis der Mann unseren Blicken entschwunden war, dann hob ich den Brief in die Höhe.

»Richtig«, rief er, beinahe zu laut für die Horcher, als er kaum einen flüchtigen Blick auf den Brief geworfen hatte, »er ist von Phillipps – öffnen Sie und lesen Sie geschwind, geschwind!«

Während ich den Brief erbrach, schaute ich den also Sprechenden verwundert an, denn seine Stimme bebte, trotz des Zwanges, den er sich antat, um ruhig zu bleiben, und drückte eine unbeschreibliche Beängstigung aus. Da sah ich sein sonst so gleichmäßig blasses Gesicht dunkelrot gefärbt bis an den Hals hinab und sein Blick hing, leuchtend vor Erwartung, an meinen Händen, die den Brief hielten.

Ich blickte auf denselben hin und las folgende wenige Worte:

»Einliegendes unserem Freunde, dem Irren von St. James – trösten Sie – helfen Sie – gehen Sie nicht eher fort, als bis ich wieder bei Ihnen gewesen bin. Adieu! ich komme bald!«

Ich gab das offen darin liegende Blättchen an den, der es empfangen sollte.

Das ist sonderbar, dachte ich, ich soll immer trösten und helfen und weiß nicht weshalb und womit. – Und dennoch war ich nie entschlossener gewesen, zu trösten und zu helfen, weshalb und womit es auch wäre!

»Da!« sagte der Irre mit einer schrecklichen Ruhe, die mit seiner vorigen Bewegung einen erschütternden Gegensatz bildete, und er sah plötzlich wieder ebenso blaß aus, wie er vorher rot gewesen. »Da – stecken Sie das Blatt ein, ich darf es nicht behalten, man könnte es bei mir finden oder erraten, was darin ist; denn alle Leute hier, die nicht weniger als ihre fünf gesunden Sinne haben, haben ihrer sechse – halt! lesen Sie, lesen Sie zuvor, und wenn Sie auch nicht dadurch erfahren, was ich abermals verloren habe, so erfahren Sie doch, daß ich auch nichts gewonnen habe.«

Ich nahm schweigend das Blatt, das ich schon eingesteckt hatte, und las:

»Die Spur war falsch – sie war es nicht; aber ich bin schon wieder auf einer anderen und hoffe, Ihnen in acht Tagen mündlich etwas darüber mitteilen zu können. Doch – was wichtig ist – ich habe auf meinem letzten Wege die Fährte eines andern Suchenden gefunden – Sie wissen, wen ich meine. Weiß der Doktor schon, was er wissen soll? Leben Sie wohl und Gott behüte Sie!«

»Meint der Schreiber mit diesem Doktor mich?« fragte ich.

»Ja, er meint Sie, und Sie wissen noch nicht, was Sie wissen sollen? Wie?«

»Nein!« entgegnete ich. »Wenigstens weiß ich noch nicht, was ich wissen möchte. Doch wie dem auch sei – Sie wissen gewiß, daß Sie in allen Dingen auf mich rechnen können?«

»O, mein Freund!« rief er, halb traurig, halb freudig, »das hätten Sie nicht nötig gehabt, mir zu sagen. Ihr Auge hat längst zu meinem Herzen gesprochen, und nun will dieses Herz auch noch ein Wort mit dem Ihrigen sprechen. Und Sie werden es verstehen?«

»Ich hoffe es, wie ich es wünsche. Wann aber wird es sprechen? Ich brenne vor Verlangen, es endlich zu hören.«

»Ich danke Ihnen, aber ich muß Ihnen die Antwort noch schuldig bleiben, denn da unten kommt der Direktor, und wenn ich nicht irre, so hat er ebenfalls einen Brief in der Hand – Ha! er lächelt, wie er mir gegenüber immer lächelt – das ist ein böses Zeichen – auch da habe ich verloren – das Unglück hat stets seinen Doppelgänger zur Seite.«

In diesem Augenblick winkte der Direktor dem Irren von Weitem zu; dieser ging ihm einige Schritte entgegen, während ich zurückblieb und mir auf der Stelle zu schaffen machte, wo ich gerade stand, denn ich wollte aus den Gebärden dieser beiden Personen erspähen, was zwischen ihnen vorging, da ich wußte, daß es mir kein Geheimnis bleiben würde und daß es kein Kinderspiel war, was sie verhandelten. Aber ich konnte nichts entnehmen, obgleich der Direktor, wenn auch ziemlich leise, doch sichtbar heftig sprach, denn er machte mit seinen Armen einige energische Bewegungen. Der Andere schien bloß Ohr zu sein, denn er stand wie ein Fels da, unbeweglich, als wären seine Füße in den Boden gewurzelt und sein Körper aus Marmor gehauen.

Nach einer Viertelstunde, so lange mochte das Gespräch zwischen ihnen gedauert haben, ging der Direktor langsam denselben Weg zurück, den er gekommen war, aber der Irre blieb sinnend stehen und blickte ihm nach. Dann drehte er sich halb nach mir herum und winkte, daß ich mich nähern sollte.

Ich trat heran und erschrak über den seltsamen Ausdruck, den seine Gesichtszüge angenommen hatten; es war nicht Wut, nicht Schrecken, nicht Angst, nicht Besorgnis, nein, es war die kalte, aber energische Verachtung einer stolzen Seele, die sich erhebt, wenn sie lange niedergetreten war, und einen Entschluß gefaßt hat, der Denjenigen zittern machen muß, der ihn hervorgerufen hat.

Er sah mich an und lächelte, aber es war ein Lächeln, welches, wenn es nicht das eines zürnenden Engels war, auch einem Dämon der Finsternis angehören konnte.

»Was ich Ihnen sagte«, flüsterte er, »o, mein Unglück weissagendes Herz hat mich auch diesmal nicht getäuscht. Alles, Alles, war umsonst. Aber jetzt sind wir quitt. Wenn ich morgen bei Tage keine Gelegenheit finde, Ihnen meine Geschichte zu erzählen, so stehle ich mich Nachts zu Ihnen, und sollte ich wie ein gemeiner Verbrecher meine Gitterstangen durchbrechen– das tue ich – so wahr mir Gott helfe!«

Und damit drückte er meinen Arm, den er erfaßt hatte, heftig und krampfhaft, winkte mit der anderen Hand, wie um Schweigen bittend, und ging dann rasch von mir fort. Ich folgte ihm bis zur Reitbahn. Hier rief er einem Stallknecht zu, ihm sein Pferd herauszuführen, und als der Mann es brachte, warf er sich mit Ungestüm auf das stolze, herrliche Tier und jagte im sausenden Galopp mehr als zwanzigmal in der großen Runde herum.

Ach, ich fühlte, daß diese schwindelnde Bewegung nötig war, um der größeren, gewalttätigeren Bewegung in seinem gepreßten Herzen einigermaßen das Gegengewicht zu halten.


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