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3. Kapitel

Nach einer halben Stunde einsamen Umherwandelns näherte ich mich den Spielplätzen und wollte eben die Kegelbahn betreten, als ich durch einen lauten Wortwechsel, der mit Kreischen und Schreien einer heiseren Männerstimme untermischt war, in die offenstehende Reitbahn gelockt wurde, und in der Tat! hier stellte sich mir ein wahrhaft komisches, aber auch zugleich kindlich rührendes Schauspiel dar.

Innerhalb der vier Wände der großen Bahn lief eine Art Galerie herum, auf welcher sich viele Zuschauer, meist aus Kranken mit ihren Wärtern bestehend, eingefunden hatten. In dem weichen Sande, ungefähr in der Mitte der Bahn, stand der Reitlehrer der Anstalt, ein Pferd, es war ein Schimmel, ein gutmütiges, stilles Tier, an der Leine haltend. Um das Pferd herum, in neugierige Gruppen zusammengedrängt, stand ein ganzer Haufen von Männern und Jünglingen, die alle voll freudiger Erwartung und Lust schienen, das Pferd zu besteigen. Auf demselben aber saß ein Mann schon vorgerückten Alters, mit einem halb kahlen Scheitel und graugelockten Haaren, die in langen Ringeln über ein Gesicht herabfielen, das einst vielleicht schön und herrisch gewesen, jetzt aber von den deutlichen Zügen des Wahnsinns entstellt war.

Augenscheinlich hatte er seinen vorgeschriebenen Ritt beendigt und sollte nun herabsteigen, um seinem Nachfolger, der schon lange mit den Augen an dem Pferde gehangen hatte, Platz zu machen. Aber da es ihm auf dem Rücken seines geduldigen Schimmels behagte, weigerte er sich, dem Befehle zu folgen. Auf den Zuruf des Bereiters erschienen drei bis vier Aufseher, die dem Reiter anfangs mit Güte zuredeten, abzusteigen. Aber auch jetzt wollte sich der Mann nicht zum Gehorsam bequemen, und da er sah, daß es Ernst wurde, schrie er und widersetzte sich tätlich. Doch nun griff ihn die Übermacht mit starken Händen an. In seiner Angst, herabgerissen zu werden, und in seinem festen Willen, den bisherigen Platz zu behaupten, umklammerte er mit beiden Armen den Hals und mit seinen langen Beinen den Leib des Pferdes.

In diesem kritischen Augenblick erschien in der offenstehenden Tür der Reitbahn die hohe, würdevolle, aber anmutige Gestalt des Mr. Sidney. Sein Gesicht war durch irgendeine innerliche Bewegung schwach gerötet, aber er trug seinen schönen Kopf stolz aufgerichtet, und aus seinen Mienen leuchtete jene majestätische Ruhe und Selbstbeherrschung, die nur einem edlen und freien Geiste eigentümlich ist.

Kaum sah er, was inmitten der Reitbahn vorging, als er mit einer leidenschaftslosen und klaren Stimme, die die geistige Überlegenheit dieses wunderbaren Menschen, den übrigen Irren gegenüber, in das vollste Licht setzte, das eine Wort: »Willy!« rief.

Die Aufseher ließen bei dem Klange dieser Stimme von ihrem Opfer ab, und dieses erhob seinen auf den Hals des Pferdes niedergebeugten Kopf.

»Was hast du?« fragte Mr. Sidney ernsthaft, aber sanft.

»Willy«, war die Antwort, »will noch reiten, er hat noch lange nicht genug geritten – es ist so schön!« – Nach einer augenblicklichen Pause aber fuhr er eifriger fort: »Ich will reiten bis heute Abend, bis es finster wird, wenn ich auch kein Mittagbrot bekomme!«

Ein überlautes rohes Gelächter erscholl auf diesen sonderbaren Ausspruch, aber über das Antlitz des Irren von St. James flog nur ein Schimmer eines matten Lächelns. Er trat einen Schritt näher heran und sagte, indem ihm einer der Aufseher über den Vorfall Bericht abgestattet hatte, mit einem noch ruhigeren und festeren Tone:

»Steig herab, Willy! Ich will dir auch sagen warum.«

Sogleich stieg Willy vom Pferde, auf dem alsbald sein Nachfolger saß, näherte sich dem Sprechenden und neigte kindlich gehorsam sein Ohr zu ihm hin.

»Du tatest Unrecht«, fuhr der Irre fort, »denn das Pferd ist nicht allein für dich da; deine Kameraden hier wollen auch reiten.«

»Mr. Sidney hat Recht«, erwiderte der entthronte Reiter unterwürfig, obgleich mit weinerlicher Stimme, »Mr. Sidney schlägt und bindet mich nicht, nein! er gibt mir einen Schilling.«

Und als wäre er seiner Sache ganz gewiß, hielt er seine Rechte geöffnet dem vor ihm Stehenden hin.

Und er war auch seiner Sache ganz gewiß, denn der Irre von St. James griff in die Tasche und gab das Verlangte. Während die Menge sich verlief und das Reiten wieder seinen Anfang nahm, drehte er sich herum und wollte sich entfernen.

In diesem Augenblick aber gewahrte er mich, der ich etwas seitwärts gestanden hatte; sein Auge blieb einige Sekunden auf mir haften, dann aber leuchtete es mit unterdrückter Freude höher auf. Er grüßte, mit dem Kopfe nickend und mit der Hand winkend, als fordere er mich auf, mit ihm ins Freie zu kommen. Wir traten Beide hinaus in den Park, und jetzt war es mir zum ersten Male vergönnt, sein schönes Antlitz ungestört und bei vollem Tageslichte zu bewundern.

Es lag auf diesem Gesichte eine Ruhe und ein Frieden des Gemütes, als hätte nie der schneidende Griffel des Wahnsinns die Seele verstört, die ein solches Gesicht, im Widerspruch mit der unbezweifelten Tatsache, zur Schau tragen konnte.

Als wir einige Schritte von der Tür der Reitbahn entfernt waren, sah er sich mit einem gleichsam spähenden Blick um; doch als schäme er sich dieses Blickes, flog eine schnell wieder verschwindende Röte über seine bleichen Wangen. Dann aber, als er bemerkte, daß Niemand in unserer nächsten Nähe war, sagte er, und zu meinem größtem Erstaunen in deutscher Sprache, die er so rein und fließend sprach, daß ich ihr nicht den geringsten fremdartigen Akzent anmerken konnte:

»Guten Morgen, mein Herr! Ich bin Ihnen die Genugtuung schuldig, zu erklären, warum ich Ihre freundliche Anrede gestern unbeantwortet ließ; wenn Sie sich aber gestern, wo Sie mich noch nicht kannten, über mein Stillschweigen wunderten, so werden Sie es heute nicht mehr, da Sie ohne Zweifel jetzt wissen, wer und was ich hier bin!«

Die Freude, mich so unerwartet in meiner Muttersprache angeredet zu hören, war es nicht allein, die meine Antwort einen Augenblick verzögerte, nein! ich war erstaunt, das aussprechen und mit solcher Offenheit und Geradheit aussprechen zu hören, was ich am wenigsten von ihm erwartet hatte, denn offenbar lag in seinen Worten die Andeutung, daß ich gehört haben müsse, er gehöre zu den in St. James befindlichen Geisteskranken.

»Sie sind sehr gütig, daß Sie sich meiner noch von gestern her erinnern«, erwiderte ich ausweichend, »wenn Sie aber der Gegenstand, der uns dabei vor Augen lag, so interessiert wie mich, so hoffe ich, Gelegenheit zu haben, Ihre Meinungen darüber noch hinreichend zu vernehmen.«

»Sie kommen meinem eifrigsten Wunsche zuvor, mein Herr«, lautete die mit einer freundlichen Neigung des Kopfes gesprochene Antwort, »ich hoffe, man wird mir hier erlauben, mit Ihnen, einem Fremden, in eine freundschaftliche Unterhaltung zu treten, die ebenso meinem Geiste wie meinem Herzen ein längst gefühltes Bedürfnis ist.«

Diese Worte wurden mit einer eigentümlichen Betonung und mit einem Zuge um den Mund gesprochen, der an Ironie streifte.

»Sie bleiben längere Zeit hier, wie ich höre?« fragte er dann mit einem, wie mich dünkte, etwas weniger zuversichtlichen, aber gespannt forschenden Blick, indem er sein großes blitzendes Auge unverwandt auf mir haften ließ.

»Es ist so meine Absicht! Vier Wochen denke ich wenigstens hier zu verweilen.«

Mr. Sidney nickte mit dem Kopfe, sein Auge schweifte eine Sekunde lang umher, dann den Blick desselben senkend, sagte er halblaut, wie zu sich selbst:

»Vier Wochen! hm! eine schöne Zeit!«

»Freilich wohl«, erwiderte ich laut, »aber doch kaum lang genug, alles das zu erfahren, weshalb ich hierhergekommen bin.«

Diese Worte, so unbefangen gesprochen, schienen einen ganz entgegengesetzten Eindruck auf ihn hervorzubringen; er richtete abermals sein Auge auf mich, aber mit dem Ausdruck der Verwunderung, beinahe des Erstaunens.

»Weshalb sind Sie hierhergekommen?« fragte er rasch.

»Erfahrungen zu sammeln«, war meine Antwort, doch sogleich setzte ich hinzu, da ich eine Wolke der Enttäuschung über seine Stirn fliegen sah, »aber auch um Anteil zu nehmen und, wenn es möglich ist, Anteil zu erwecken.«

»Ha! Anteil!« erwiderte er lächelnd, »welch schönes Wort! Ich habe längst gewünscht, einen Arzt kennenzulernen, der Anteil an – an seinen Kranken nimmt.«

»Wie? Sollte Ihnen der hier nicht geworden sein? Ich dächte, der Oberarzt, Mr. Lorenzen, meinte es sehr gut mit den seiner Obhut Untergebenen –«

»Er meint es gut, ja, ohne Zweifel, auf seine eigene Weise. Aber ist diese Weise gut, die nicht vor Irrtümern schützt, welche einst schwer auf seine Seele fallen könnten?«

Er stand still und sah mich fragend an. Jetzt fiel mir zum ersten Male wieder ein, daß ich mit Jemandem sprach, der an periodischem Wahnsinn litt, denn bis hierher war mir sein Benehmen wie seine Sprache so unbedenklich vernünftig, ruhig und unzweideutig vorgekommen, daß ich ganz vergessen hatte, daß es der Irre von St. James war, mit dem ich mich unterhielt. In seinen letzten Worten aber, wie in dem Sinne, den er aussprach, spiegelte sich eine innere Leidenschaftlichkeit, die er durch seine äußere Ruhe geschickt verdeckte, und eine gewisse Hastigkeit ab, die mich leider nur zu sehr an das erinnerte, was ich von ihm gehört hatte. Dennoch richtete er seine Frage und seine Blicke so fest und bestimmt an mich, daß ich eine ganz ausweichende Antwort zu geben nicht imstande war.

»Ein Arzt muß vorsichtig sein, mein Herr«, sagte ich, »vor Allen der Doktor Lorenzen, er hat schwere Pflichten zu erfüllen. Dennoch aber ist er nicht unfehlbar, wie kein Mensch es ist, und man muß den Maßstab der Milde nie vergessen, wenn man einen solchen Mann beurteilt.«

»Sie haben ganz Recht, wenn Sie diesen Maßstab anempfehlen, aber in diesem Augenblick tun Sie etwas, was er nie getan hat, gegen mich wenigstens nicht, und das ist es, was ich tadle.«

»Und was ist das, wenn ich bitten darf? Was tue ich?«

»Sie verraten einen Anteil, der Ihnen aus dem Herzen kommt, und haben Vertrauen, zu einem – ja, ja, sage ich es immer – zu einem Wahnsinnigen zu sprechen, wie man zu einem Menschen spricht, der nie von dem Wege der gesunden Vernunft abgewichen ist.«

Ich wurde etwas verlegen – dahin wollte ich das Gespräch nicht gebracht sehen. Ich verbeugte mich und erwiderte schnell:

»Warum sollte ich keinen Anteil an Ihnen nehmen und kein Vertrauen zu Ihnen haben? Ich habe tausend Gründe dazu.«

»Tausend?« unterbrach er mich.

»Ja, und darunter einen oder zwei, die mir Ihre Gesellschaft wünschenswert machen.«

»Und die wären?« fragte er gespannt.

Ich suchte die Rührung, die mich allmählich überkam, hinter einer Miene von Gleichgültigkeit und künstlicher Ruhe zu verbergen; ob mir dies gelang, weiß ich nicht; soviel aber ist gewiß, daß ich die nächsten, unser Gespräch verändernden Worte zwar freundlich, aber mit berechneter Kälte sprach.

»Sie sprechen unter Anderm Deutsch und das so gut und rein, daß ich glauben muß, Sie haben die Sprache in Deutschland selbst gelernt?«

»Ah, ist es das? Nun, Sie könnten Recht haben, ich bin freilich in Deutschland gewesen, aber ich habe auch von früher Jugend an einen deutschen Erzieher gehabt«, setzte er mit einer so unverhohlenen Traurigkeit hinzu, daß sie mein tiefstes Mitleid erregte und mir augenblicklich die Wärme zurückgab, die ich vorher mit Gewalt zurückgedrängt hatte.

»Sie sind in Deutschland gewesen?« entgegnete ich freundlich, »das ist mir sehr lieb – kommen Sie, lassen Sie uns davon plaudern.«

Abermals sah er mich mit einem aufmerksam forschenden Blicke an. Es war augenscheinlich, ich hatte ihn mit meinem abspringenden Wesen zweifelhaft gemacht; jetzt tat es mir leid, und ich versuchte alles Mögliche, den dadurch entstandenen üblen Eindruck zu verwischen.

»Kommen Sie diesen Weg«, sagte er und ergriff mich am Arme, »nicht den da, hier ist es ruhiger, und nun, was wollen Sie von mir wissen?«

»Zuerst will ich Ihr Vertrauen wieder haben, das Sie halb aufgegeben haben«, erwiderte ich.

Er sah mich an und lächelte.

»Da haben Sie es!« sagte er und bot mir die Hand, »ich hatte es noch nicht verloren, aber Sie leiteten mich einen Augenblick irre, doch ich denke, ich verkenne Sie nicht.«

»Dieses Bekenntnis macht mir Freude und ehrt mich; ich verkenne Sie auch nicht.«

Bei diesen Worten begegnete ich einem so unschuldig freudigen, ich möchte sagen, kindlich dankenden Blick seines großen Auges, daß ich von Minute zu Minute meinen Anteil wachsen und meine Neigung sich vermehren fühlte.

»Also Sie waren in Deutschland?« lenkte ich wieder ein.

»Ja, mein Herr, drei Jahre, und die schönsten Jahre meines Lebens. Die schönsten sage ich, denn ich war stark, jung, glücklich, ich kannte des Lebens Nachtseite damals noch nicht.«

»Fahren Sie fort!« rief ich ihm zu, denn ich sah, daß beiden letzten Worten, die er etwas gedehnt sprach, ein Schatten der Betrübnis seine Augen verdunkelte.

»Ich habe das redliche Deutschland von frühester Jugend an in meinem Herzen getragen und deutsches Wissen, deutsche Sprache, vor allem aber den echten deutschen Mann kindlich und liebend verehrt. Aber daran war meine Erziehung schuld, denn, wie schon gesagt, mein erster und mein letzter Lehrer war ein Landsmann von Ihnen, und ich hatte Ursache, ihn mehr als Alles auf der Welt zu lieben. Ehe ich nach Deutschland kam, und ich trug den Wunsch dazu lange mit mir herum, hatte ich in Bezug auf meine Ausbildung große Hoffnungen auf Ihr Vaterland gesetzt, und ich sah mich auch nicht getäuscht; ich fand sogar noch mehr, als ich suchte. Es ist ein edles, ein denkendes Volk, Ihr Volk, und was ich etwa tadeln möchte, werden Sie mir vergeben, wenn Sie mir künftighin erlauben, meine Ansichten deutlicher zu entwickeln. Und ich wünsche mir Glück, durch Ihr längeres Verweilen bei uns Gelegenheit zu haben, auch meine Irrtümer durch Ihre geprüftere Anschauung und Ihr gereinigteres Wissen verbessern zu können.«

»Sie sind sehr gütig und ich freue mich auf diese Unterhaltungen, wenn ich auch nicht hoffen darf, mehr zu wissen und besser zu sichten als Sie. Drei ganze Jahre also waren Sie bei uns?«

»Ja! – drei Jahre – und wie schön waren diese! Wohl mir, wenn ich ewig hätte dort bleiben können! Aber wehe, wehe! daß ich scheiden mußte!«

»Und warum kehrten Sie in Ihr Vaterland zurück, wenn es Ihnen weniger teuer war als ein anderer Aufenthaltsort?«

»Hm! – doch warum soll ich Ihnen das nicht sagen, man hängt nicht immer von seinen Wünschen ab, wenn man auch sonst ziemlich selbständig ist; es gibt in der Welt ein Wort, das ich immer mehr gehaßt habe als die Sünde, und dies Wort heißt – Zwang! Ja, es waren, glaube ich, Familienangelegenheiten – ich mußte Deutschland verlassen – ach! wie schnell mußte ich – abschiedslos kehrte ich meinen Lieblingsgegenden den Rücken – es war das erste Mal, daß ich einen Zügel auf meinem Nacken fühlte – Ha! warum müssen wir müssen? Der erste Zwang ist auch der letzte Atemzug einer freien Seele – und ich – ich war von jeher so gern frei – frei! mein Herr, ich spreche hier von jener Freiheit, die das Gesetz der Ordnung des Guten und des Sittlichen in sich trägt. Und ich glaube, ich sage keine Lüge, ich spüre einen Anflug von dieser Freiheit in mir, wenigstens suchte ich ihrer bewußt und klar zu werden – und daß ich einen Teil von ihr besessen, fühlte ich, als ich sie verloren sah – denn kaum hatte ich meinen Fuß auf Englands felsigen Boden gesetzt – da, da«, und er seufzte tief auf, »doch was betrübe ich Sie mit diesen für mich so inhaltsschweren und für Sie doch nicht verständlichen Worten!«

»Fahren Sie fort, ich bitte Sie – Sie betrüben mich nicht und ich verstehe.«

»Nun, wenn Sie es wissen wollen – da lernte ich jene Nachtseite des Lebens kennen, die, wenn sie uns einmal mit ihrem verpestenden Blick angeschaut, auch unser ganzes ferneres Dasein auf ewig vergiftet hat.«

»Wie? Ihr ganzes ferneres Dasein wurde durch einen Nachtblick vergiftet, kann einem Manne das begegnen?«

»Sie fragen noch und Sie sehen mich hier – hier? Doch nein, Sie verstehen mich nicht, ich dachte es mir wohl – so hören Sie noch zwei Worte. Ja, ich war ein Mann und ich entsetzte mich vor des Schicksals strengem Walten nicht. Dennoch aber war dieser eine Nachtblick hinreichend, mir meine Mannheit zu nehmen – denn, mein Herr, es faßte mich an einer sehr empfindlichen Stelle – ich war sehr unglücklich. An einem Tage, wo ich so glücklich war ward ich – krank – sehr krank – und das Resultat dieser Krankheit das, das sehen Sie jetzt in mir, jetzt, hier!«

Diese letzten Worte sprach er mit einer leisen Stimme, und doch auf eine so ergreifende und nachdrückliche Art, daß ich auf eine Weise erschüttert wurde, die ich nicht mit Worten beschreiben kann. Wie immer, wenn mein Gemüt heftig bewegt ist, schwieg ich auch diesmal und ging, in dieses Schweigen versunken, neben ihm her. Ich wagte nicht, ihn anzusehen, denn ich dachte mir, sein Gesicht müsse eine Trostlosigkeit, eine Niedergeschlagenheit ausdrücken, die, ein schönes menschliches Antlitz entstellend und demütigend, mir von jeher Schmerz verursacht hat. Aber wie erstaunt war ich, als ich nach einer Weile des Schweigens meinen Blick langsam und besorgt zu ihm erhob und mit einem Male dem strahlendsten Glänze seiner Augen, die mit einem gewissen Triumph mich betrachteten, begegnete. Ich bebte vor Entsetzen, indem ich mir dachte, diesen sonderbaren Gegensatz in seiner Sprache und in seinem Äußeren habe der Wahnsinn hervorgerufen; aber dennoch sagte ich mir wieder, daß der Wahnsinn nicht so klar, so intellektuell aussieht, und nach einem zweiten Blick glaubte ich nicht zu irren, wenn ich in dem Auge, das so fest und sicher auf mir haftete, eine mit einer gewissen nicht unedlen Schlauheit und List gepaarte, in ein kühnes Gewand gehüllte Frage, eine Frage, eine Prüfung, eine Erwartung sah, die aus meinem Benehmen und aus meiner Antwort meine individuelle Überzeugung herauslesen wollte. Mit einem Wort, ich ward irre an dem Manne, ich wußte nicht recht, was ich von ihm denken sollte; verstellte er sich oder sprach er natürlich, wie es ihm sein sonderbarer Wahnsinn eingab? Ich schwankte zwischen Ja und Nein, zum ersten Mal in meinem Leben hatte mir ein Wahnsinniger ein Netz übergeworfen, das, aus List und Schlauheit gewebt, den klaren und unbefangenen Blick verdunkelte, der mich sonst immer so richtig geleitet hatte; ich will nicht aussprechen, was im Grunde meines Herzens, in der tiefsten Tiefe meiner Gedanken, einem Hauche ähnlich – soll ich es Vorgefühl, Ahnung oder Instinkt nennen? – wie an meinem inneren Gesichte vorüberflog, aber dieser bloße Hauch war so furchtbar und entsetzlich, daß es mich graute, ihn Boden gewinnen zu lassen, daher drängte ich ihn zurück – ich wollte nicht glauben. Nein! sagte ich zu mir selber, sei still und warte die Zeit ab; es wird sich Alles aufklären. Aber ich werde mit allen Kräften meiner Seele aufmerksam sein, ich werde beobachten, beobachten wie ein Spion, der die Witterung einer verlorenen Seele hat und sie nicht wieder verlieren will; denn diese Seele ist entweder auf ewig verloren oder sie ist rein und hell, wie das ewige Blau des Himmels, das nur durch den Nebel, der von der Erde aufsteigt, verdunkelt und verhüllt wird.

Wie dies nun aber auch sein mochte, nach den zuletzt gesprochenen Worten des Irren von St. James fühlte ich, daß unser Gespräch eine andere Wendung genommen und ein Ziel erreicht habe, über dessen Grenzen hinaus ich es nicht weiter verfolgen durfte. Mit Schmerz brach ich es ab, aber mein Pflichtgefühl beherrschte noch so sehr meine Neugierde und den Wunsch, die interessanten Mitteilungen des Irren zu Ende zu hören, daß selbst die etwas zurückhaltende Miene desselben, der vielleicht erwartete, ich würde in seine Ideen eingehen, mich von meinem Entschlüsse nicht zurückhielt. Für heute hatte ich genug gehört, meinte ich, ich bedurfte des ruhigen Nachdenkens, Alles, was ich von seinen Ärzten vernommen und was ich mir selbst über ihn dachte, in Einklang zu bringen, damit ich auf dem Wege der Erkenntnis seiner Krankheit und der Wahl meiner vorzuschlagenden Mittel nicht fehlginge. Denn dies zu tun, war ich in der Tat fest entschlossen, da mir der Oberarzt der Mann zu sein schien, mir diesen Wunsch zu gewähren.

Damit mein Stillschweigen dem still neben mir Wandelnden nicht allzusehr auffalle, sagte ich endlich:

»Ich habe mich vorhin gewundert, zu sehen, wie Sie so viel Gewalt über die – die –«

Aber hier stockte ich schon wieder, denn es war mir nicht möglich, ein Wort auszusprechen, das ihn an seinen eigenen Gemütszustand erinnerte. Aber zu meiner Verwunderung ergänzte er schnell den von mir unbeendigten Satz und sagte mit einem so unschuldigen Lächeln, daß auch nicht der geringste Triumph durchschimmerte, den Wahnsinnige so gern verraten, wenn sie über andere Wahnsinnige sprechen:

»Daß ich so viel Gewalt über die Wahnsinnigen habe, wollen Sie sagen. Ach ja – doch das ist nicht so schwer. Beherrschen wir doch die unbändigsten Tiere, in denen bloß die rohe Kraft vorherrscht, mit unserer geringen Kraft, unserem Willen und unserer Einsicht – warum sollten wir daher nicht Menschen, unser eigen Fleisch und Blut, ebensogut beherrschen können?«

Hier hätte ich ihm gern eingeworfen, daß diese Menschen als jenes göttlichen Ausflusses, der den Menschen von dem Tiere unterscheidet, beraubt, schwerer zu bändigen seien als Tiere, allein ich wagte nicht, gegen ihn von einem Geistesmangel oder dem Fehlen jenes göttlichen Ausflusses zu sprechen, was ihn doch vielleicht verletzt oder aufgeregt hätte.

Jedoch, als hätte er meine Bedenklichkeiten wahrgenommen, setzte er sogleich ernst, aber freundlich hinzu:

»Sie könnten mir hier freilich einwenden, diesen Menschen fehle der Geist, ihre Einsichten seien geschwächt, ihr Urteil verkehrt, aber erlauben Sie mir zu sagen, mein Herr, obgleich Sie ein Arzt sind und alles dies weit besser wissen müssen als ich, daß alle diese Unglücklichen, die von der Welt entfernt in diesem Winkel der Erde leben, vielleicht nur mit wenigen Ausnahmen noch einen Funken jenes göttlichen Lichtes in sich tragen, und deshalb von den Tieren noch weit entfernt sind. Ach! tun Sie mir, der Menschheit zu Liebe, den Gefallen, wenn Sie jemals Ihre ganze Aufmerksamkeit diesen Unglücklichen widmen und so den erhabensten Beruf erfüllen, der einem Menschen auf Erden zugefallen sein kann, forschen Sie dann mit dem ganzen Eifer Ihres Gewissens und der ganzen heiligen Wärme Ihrer Menschenliebe, forschen Sie dann nach diesem kleinen göttlichen Funken! Haben Sie ihn aber entdeckt, o, dann beschwöre ich Sie, dann blasen Sie ihn an mit der unermüdlichsten Geduld Ihres strebsamen Geistes, und Sie werden sehen, wie endlich ein Licht und eine Flamme entsteht, die immer mehr und mehr an Glanz und Ausdehnung gewinnt und die jenen Irrtum, jene Finsternis besiegt, die früher unbesieglich und unaufklärbar erschien.«

Ich versicherte ihm, daß dies mein fester Wille sei, wie auch der aller besseren und einsichtsvolleren Irrenärzte, aber er ließ mich kaum aussprechen, er war augenscheinlich von seinem Gegenstande warm geworden, ja, es war vielleicht eine moralische Notwendigkeit bei ihm vorhanden, sich einmal das Herz zu erleichtern und weiter auszusprechen.

»Andere zu bemeistern! – nicht mit Gewalt, mit Stricken, kaltem Wasser oder glühendem Eisen – nein! mit Liebe, Einsicht und Geduld – wie leicht ist das! Aber freilich, ehe man dahin gelangt, ist eine heißere Arbeit zu vollbringen – und das ist die Überwindung seiner selbst. Glauben Sie mir«, fuhr er mit lebhafterem Glanze seiner Augen fort, und über seine blassen Wangen flog die schöne Röte eines edlen Selbstbewußtseins, »ich bin in Lagen des Lebens gewesen, die so außer allem Bereiche des Möglichen und Menschlichen liegen, daß eine weniger starke Natur dabei zu Grunde gegangen wäre; der Tod selber fraß an mir, aber trotz der Finsternis in mir und der Vernichtung um mich kam mir das Licht! Allmählich, langsam, aber sicher ward es größer und größer – ich sah ein, daß das Klagen vergeblich und die Wut nutzlos sei, daß nur eine gleichsam im Feuer der Leidenschaft gehärtete, männliche Seele imstande sei, ein solches Geschick, wie das meinige war, zu ertragen, und ich beschloß, diese Feuerprobe mit der meinigen vorzunehmen, ich riß mit eigener Hand alle Wurzeln des furchtbarsten, entsetzlichsten Schmerzes aus meiner Brust, verstehen Sie wohl, so oft ich es konnte, denn das Menschliche, das Irdische, Schwächliche und Vergängliche in uns läßt sich nie ganz aus einer menschlichen Brust ausrotten, und ich freue mich, Ihnen versichern zu können, daß ich – Sieger war!«

Er schwieg und blickte fest und frei in mein Gesicht. Sein schönes Antlitz war immer noch von seiner inneren Aufregung gerötet, sein Auge, ein wahres Feuermeer, schwamm in Empfindungen, ich fühlte mich beklommen, aber nicht ängstlich beklommen, ich ahnte wohl in den phantastischen Sprüngen meiner Einbildung, aber ich wußte noch nicht, daß dieser seltene Mensch in diesem Augenblick, wo er so viel sprach, aber noch viel mehr verschwieg, als er sprach, den größten Triumph, die vollkommenste Überwindung seiner selbst gefeiert habe.

Es entstand wiederum eine Pause, in der ich nach Worten suchte, aber keine fand. Mein Inneres, wie von einem plötzlichen Blitzstrahl erleuchtet, war zu voll von einem Gedanken, und dieser Gedanke war: dieser Mensch soll wahnsinnig, rasend sein? Ist dies Wahnsinn, Raserei? Schon wollte ich mir diese Frage, vielleicht vorschnell, beantworten, aber noch hielt ich mich mit Gewalt zurück. Ich wollte, ich mußte noch mehr von ihm erfahren, ihn noch genauer prüfen, denn ich war ein Arzt, ach, und leider! was ich als Mensch so gern hoffte, so eifrig verlangte, wünschte und glaubte, als Arzt warf ich es zweifelnd, ungläubig, beinahe hoffnungslos wieder um.

Da läuteten die Glocken aus dem Hause zum Mittagessen, er schien es nicht zu hören, denn er ging, in Gedanken vertieft, schweigend neben mir her.

Um wieder an das Wirkliche, das ich in ihm erstorben wähnte, zu erinnern, fragte ich, fast ohne Grund, bloß um etwas zu sprechen: »Sie sagten mir vorher, ich bliebe länger hier, woher wissen Sie das?«

Da sah er mich ruhig, so ruhig, als wenn er durch nichts aufgeregt gewesen wäre, und fast herzlich lächelnd von der Seite an, indem er erwiderte:

»Freilich! Wer sagt mir das? Vielleicht die Herren Ärzte, die es so gut mit mir meinen und mir eine neue, längst ersehnte und lange nicht genossene Unterhaltung gönnen? Oder wohl gar der Herr Direktor? Nein, nein, die gewiß nicht! Doch ich habe ja keinen Grund, Ihnen auch das zu verheimlichen! Ein Mann sagte es mir, mit dem Sie gestern reisten, ein einfacher, ehrlicher Mann, den ich kenne und der mich kennt.«

»Darf ich hoffen«, fragte ich, ihm herzlich meine Hand bietend, »Sie auch kennenzulernen?«

»An mir soll es nicht liegen, gewiß nicht!« erwiderte er. »In Ihren Augen leuchtet ein Geist, der mir lange gefehlt hat, und aus Ihrem Herzen quellen Worte, wie ich sie seit vier Jahren nicht gehört habe. Gewiß! Sie sollen mich kennenlernen – glaube ich doch schon, Sie zu kennen. Doch, da läutet es zum zweiten Mal und wir müssen gehen. Speisen Sie allein?«

»Nein, ich bin heut beim Direktor zu Tisch geladen.«

»Gut, so gehen Sie. Wenn Sie aber nach Tisch eine halbe Stunde für mich übrig haben, so besuchen Sie mich auf meinem Zimmer. Ich wohne zwei Treppen hoch, im linken Flügel, genannt der Turm; man wird Ihnen hoffentlich nicht wehren, Ihnen, dem Arzt, dem Irren von St. James einige Augenblicke zu schenken!«

Ein Zug feiner Ironie spielte um seine Lippen, als er sich selbst den Irren von St. James nannte.

Er war schon hinter einer Baumgruppe verschwunden, und ich stand und sah immer nach der Stelle hin, wo ich ihn zuletzt gesehen. Ich erinnerte mich erst wieder, wo ich mich befand, als der halb blödsinnige Knabe, der mir am Morgen das Frühstück gebracht, meinen Rockschoß von hinten ergriff und leise flüsterte: »Sir! die Herrschaft wartet auf Sie!«


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