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24. Kapitel

Daß ich von der Erlaubnis des Direktors und des Oberarztes, Mr. Sidney häufiger und länger besuchen zu können, hinlänglich Gebrauch machte und auch von dem geringeren Mißtrauen, welches man jetzt in den seiner vollkommenen Gesundheit entgegenschreitenden Patienten setzte, Vorteil zog, um ungestört mit ihm zu verkehren, brauche ich wohl nicht besonders zu erwähnen.

Schon am nächsten Tage war der Viscount von Dunsdale mit allen Ereignissen meiner Reise und deren Erfolgen ebenso vertraut wie ich. Ich hatte ihm nichts verschwiegen, selbst nicht den Grund des ehemaligen Hasses seines Vaters gegen ihn, so schwer und niederbeugend diese Entdeckung auch für ihn sein mochte. Aber es schien mir auf alle Fälle geratener, ihn die Wahrheit einsehen als glauben zu lassen, seines Vaters Abneigung gegen ihn sei mehr ein persönlicher Haß, als ein in seinen früheren Verhältnissen begründeter Unglücksfall, da dieser Umstand Percy seinen Vater mehr bedauern und ihn als ein Opfer seiner eigenen Leidenschaften betrachten ließ, als daß er ihn mit Abscheu und persönlichem Widerwillen erfüllt hätte.

Ebensowenig verschwieg ich ihm die freilich fruchtlosen Nachstellungen Mortimers und seine gegen Ellinor ausgesprochenen Drohungen; denn wer konnte in die Zukunft sehen und für Mortimers geläuterten Sinn bürgen, wenn Percy, nichts Böses argwöhnend, seinem guten, edlen Herzen freien Lauf ließ. Nein, es mußte mir daran liegen, Percy zu bewegen, auf seiner Hut zu sein, um Ellinor sowohl wie sich selbst gegen jedes fernere Mißgeschick sicherzustellen.

Freilich durfte ich mir nicht verhehlen, daß durch all diese traurigen Enthüllungen viele Bitterkeit in den süßen Becher seines Glückes gemischt wurde, indes, wer konnte es ändern! Die Verhältnisse und meine wahrhafte Freundschaft für ihn geboten mir Aufrichtigkeit und Offenheit, und dann war ja Percy der Mann dazu, auch diese letzten Schicksalsschläge würdig zu ertragen und ihnen männlich entgegenzutreten, zumal die unverhofft glückliche Wendung seines Geschickes, besonders die Auffindung Ellinors, seinem Geiste den höchsten Schwung und seinem Herzen die vollkommenste Freudigkeit wiedergegeben hatte. Nun wußte er Alles, nichts war ihm mehr verborgen und er konnte die geeignetsten Maßregeln für die Zukunft ergreifen.

Zunächst war denn alle unsere Aufmerksamkeit und unser ganzes Bestreben auf die Möglichkeit einer Flucht gerichtet, denn ich hatte ebenfalls nicht unterlassen, Percy mitzuteilen, wie sich das Urteil des Oberarztes über ihn zwar geändert habe, aber dadurch seine Entlassung aus St. James noch nicht nähergerückt sei, und so hatten wir denn, wie schon gesagt, die Nacht vom Freitag zu Sonnabend zu diesem Wagnis festgesetzt, vorausgesetzt, daß Phillipps bis dahin eintraf und der Haushofmeister von Dunsdale meinen Anordnungen nachgekommen war. Von diesem letzteren Umstande beschloß ich mich durch einen Spazierritt ins Freie vorher zu überzeugen. Nur ungefähr zwei Meilen von St. James entfernt sollten Wagen und Pferde eintreffen, und fand ich diese am Tage vorher schon vor, dann durfte uns selbst Phillipps' Abwesenheit, so sehr sie auch das Unternehmen erschwerte, von der einmal festgesetzten Entweichung nicht zurückhalten.

Die Art und Weise, wie wir dabei der Örtlichkeit und den Umständen gemäß verfahren mußten, war genau zwischen uns verabredet; wir hatten alle Wahrscheinlichkeiten, sogar alle Möglichkeiten wohl ins Auge gefaßt und für jeden etwaigen Unfall einen Ausweg offen gelassen. Die festliche Stimmung, in welcher sich alle Bewohner des Hauses in der Nacht vom Freitag zum Sonnabend befinden würden, ließ uns auf Gelegenheiten hoffen, die sonst unter keinen Umständen vorhanden gewesen wären und, einmal unbenutzt vorübergegangen, sobald nicht wiederkehren dürften; daher war es an uns, Alles, was uns günstig und zweckdienlich schien, auf das Genaueste zu erforschen und zu unserem Besten möglichst auszubeuten.

Nur eine einzige Bedenklichkeit war es, die mich abermals, wie sie es schon früher getan hatte, einen Augenblick länger überlegen ließ, doch auch diese überwand ich, und nun blieb nichts mehr zu beschließen übrig. Es betraf dies das Verhältnis der Dankbarkeit und Ergebenheit, in welches ich zur Anstalt überhaupt, insbesondere aber zum Direktor derselben getreten war, der mich mit Gastfreundschaft aufgenommen und alle Wünsche und Absichten, die mich nach St. James gerufen, bereitwillig gefördert hatte. Es war ganz natürlich, daß auf mich der nächste Verdacht fallen mußte, Mr. Sidney zur Flucht behilflich gewesen zu sein, wenn man in Betracht zog, wie häufig ich mit ihm zusammen gewesen, wie ich höchstwahrscheinlich sein Vertrauen genossen und nun der Flüchtling in derselben Nacht entwichen sei, in welcher ich selbst St. James verlassen hatte. Aber damit das Erniedrigende, welches für mich in einem solchen Verdachte lag, gehoben und mein Tun in ein freundlicheres Licht gesetzt würde, so hatte sowohl Percy wie ich jeder eine besondere Schrift aufgesetzt, die dem Direktor von unserem ersten Halteplatze sollte zugesandt werden und worin ihm, als einem Ehrenmanne, der das Unglück Anderer achten und verschweigen würde, sowohl Percys Verhältnisse als auch mein Anteil daran mitgeteilt und die Beweggründe, die uns Beide geleitet hatten, aufgedeckt wurden. Zugleich statteten wir darin nochmals unseren Dank für alle seine Gefälligkeiten ab und versprachen ihm, wenn ihm unsere Aufklärung noch nicht genügen sollte, Beweise in die Hände zu liefern, die unser zweideutig erscheinendes Benehmen vollkommen aufklären und rechtfertigen sollten. Indem wir uns so auf die Rechtlichkeit seines Charakters, seine Einsicht und Humanität stützten, hofften wir in gutem Einvernehmen mit ihm zu bleiben und späterhin auf die eine oder andere Weise wieder in ein näheres Verhältnis zueinander treten zu können, je nachdem der Erfolg unserer Pläne ein günstiger und sein eigenes Verhalten in diesem außerordentlichen Falle ein angemessenes sein würde.

In solche Beschäftigungen und Beschließungen vertieft, verfloß uns die Zeit schnell, und es war der Nachmittag des Donnerstag gekommen, als ich mir Bravour satteln ließ und langsam durch den Park, bei den Wärterhäusern vorbei, über die letzte Brücke ritt, die das freie Feld von dem Gebiete von St. James trennt.

Es war der erste September und die Witterung zwar noch leidlich angenehm und warm, aber doch verkündete schon ein leichter Morgen- und Abendnebel das allmähliche Herannahen des Herbstes. Ein zwar leiser, doch fühlbarer Wind entblätterte hier und da schon einzeln stehende Bäume, deren Sommerschmuck bereits eine fahlere Farbe anzunehmen anfing, und die in einen trüben Dunstkreis gehüllte Sonne sah aus, als treffe sie Anstalten, sich in ihren dichteren Wintermantel zu hüllen. Ja, der Herbst, mit seiner belebenden Frische, mit seinen neuen, das Gemüt des Menschen so gewaltig bewegenden Erscheinungen, zog mächtig heran, und der leise Schauer, der mich dann und wann durchrieselte, ließ mich gewahren, daß die Temperatur der Luft sich um ein Bedeutendes abgekühlt habe.

Ich weiß nicht, ob jeder Mensch so empfindlich gegen den Wechsel der Jahreszeiten ist wie ich; aber ich komme mir stets wie ein lebendiges Barometer vor, welches, den leisesten äußeren Eindrücken nachgebend, auch seine eigene innere Bewegung nicht unterdrücken kann. So habe ich meine eigentümlichen Frühlings-, Sommer-, Herbst- und Wintergefühle, von denen die des Frühlings und Herbstes die heftigsten, ich möchte sagen, die leidenschaftlichsten sind, denn die einen blicken in die Zukunft, die anderen in die Vergangenheit. Vor allen aber hatte ich den Herbst von jeher, als meinem Naturell am meisten zusagend, geliebt. Ich fühlte mich immer stärker während seiner Dauer; es war, als wenn eine warnende Stimme mich ermutigte, die mir verliehene Kraft zu benutzen und damit vorwärtszustreben. Darum war ich nie zum Wollen und Vollbringen geneigter als zu dieser Zeit; und besonders an diesem Tage, der so merkwürdig eine Periode in meinem Leben abschloß und eine neue ahnungsvoll heraufdämmern ließ, empfand ich eine so lebhafte Begierde zum Handeln und Wagen, daß ich beinahe Mühe hatte, meiner Meinung entgegen, langsam zu reiten, denn ich verband mit dieser langsamen Bewegung diesmal eine Absicht. Mit einem Worte, ich wollte von den Wärtern, bei denen ich vorüberkam, bemerkt sein, doch ich sah noch keinen; erst vor dem letzten Häuschen standen ihrer drei zusammen und unterhielten sich freundschaftlich. An sie heranreitend, hielt ich still und begrüßte sie.

»Wollen sie schon wieder auf die Reise, Sir?« fragte der Eine. »Sie sollten einen Mantel mitnehmen, die Nacht wird kühl.«

»Nein«, erwiderte ich, »heute will ich noch nicht fort, aber morgen –«

»Morgen, Sir? Wollen Sie denn nicht die Komödie sehen?«

»Erst nachdem diese vorüber ist, in der Nacht reise ich ab – und da soll euer Rat Gehör finden, ich werde mich vorsehen – ich glaube, wir bekommen nächstens einen starken Nebel.«

»Ganz gewiß, Sir, die Sonne sinkt so schwerfällig hinab – aber Sie wollen bei Nacht fort? Warum das?«

»Nicht um euch zu stören, liebe Leute«, sagte ich, »sondern um das ganze Fest morgen bis zu Ende mitfeiern zu können und doch schon Sonnabend früh drüben in L... zu sein, wo ich bestimmt erwartet werde. Überdies haben wir Mondschein, und meine Reise zu Pferd wird kurz sein.«

»Schon recht!« bemerkte einer von den Dreien. »Aber wann werden Sie morgen reisen?«

»Habt Ihr eine Absicht auf morgen Nacht?« fragte ich, denn es kam mir so vor, als ob der Mann mit dieser Frage etwas Besonderes sagen wolle.

»Nun, das nicht, Sir, aber man schläft gern, wenn man bis nach Mitternacht getanzt hat, und die Barrieren sind geschlossen, wenn wir schlafen.«

»Aha! Dann braucht Ihr mir ja nur zu sagen, wo der Schlüssel liegt, und ich werde mir selbst öffnen.«

»Ja, ja, Sir, das ginge wohl! Aber es geht doch nicht, denn es ist wider die Instruktion – ha, der Dienst ist streng!«

»Dann muß ich am Ende, um euch nicht im Schlafe zu stören, bis zum Morgen mit meiner Reise warten?« sagte ich lächelnd.

»O nein, nein, Sir! Darum nicht! Kommen Sie nur, ich werde schon munter sein – werden Sie allein reisen?«

»Wieso?« fragte ich, doch sogleich setzte ich hinzu: »Ganz gewiß, wenn ich nicht unter den Gästen Gesellschaft finde, die gleichfalls so früh aufbrechen werden.«

»Haha! Sie haben recht, es wird übermorgen manchem der Kopf weh tun – haha! Nun, kommen Sie nur. Adieu, adieu, Sir!«

Ich grüßte sie noch einmal und ritt dann freudig im Galopp weiter, die Straße, die den Hügel hinaufführte entlang, bis ich auf dem Gipfel desselben war. Dann bog ich rechts in den Wald ein und gelangte, einen Fußpfad verfolgend, zu einer kleineren Landstraße, wo ein Häuschen stand, hinter dem ich die Diener des Viscount von Dunsdale zu finden hoffte.

Und so verhielt es sich auch. Sie waren am Morgen dieses Tages eingetroffen, Diener, Pferde, Wagen, Alles, wie wir es gewünscht und erwartet hatten.

Die Freude der mir in Dunsdale-Castle bekanntgewordenen Leute, mich hier wiederzufinden und von mir zu hören, ihr längst ersehnter Herr werde bald auch zur Stelle sein, war groß; sie überbrachten mir die ehrerbietigsten Grüße des Haushofmeisters und zeigten mir, was ich sehen wollte, Pferde, Waffen und Wagen.

»Sind gute Läufer unter den Pferden – für den Notfall?« fragte ich.

»Ja, Sir, ja! Mr. Trallope hat aus Vorsicht zwei Vorreiter mit Rennern hinzugefügt, für den Fall, daß Sie mit Mylord etwa reiten wollten.«

»Das ist brav von ihm – wo ist der älteste Vorreiter?«

Ein bärtiger, handfester Mensch trat vor und nahm tief den Hut ab.

Ich gab ihm eine Rolle Papier, die den Weg verzeichnet enthielt, den ich mit Percy nehmen wollte, ermahnte ihn, alle Diener genau davon in Kenntnis zu setzen, und befahl, in der folgenden Nacht, Punkt zwölf Uhr, mitten auf der Landstraße mit angeschirrten Pferden zu halten und uns zu erwarten, empfahl endlich Aufmerksamkeit, Pünktlichkeit und Schweigen und ritt dann freudigen Herzens wieder zurück.

Als ich in St. James angekommen war und vor Mr. Sidneys Zimmer stand, hörte ich leise darin reden. Ich öffnete schnell die Tür und sah zu meiner großen Zufriedenheit Phillipps vor dem Viscount von Dunsdale stehen, der jedoch aus Vorsicht mehrere seiner Waren auf dem Tische ausgebreitet hatte. Percy hatte ihm soeben meine Reise und deren Erfolg bis zu Ende erzählt, und sobald er mich eintreten sah, sagte er:

»Sieh, da ist er, Phillipps – das alles hat er allein getan!«

Die immer treuherzige Miene des ehrlichen Dieners nahm hier so rührenden Ausdruck an, daß er nahe daran war, in Tränen auszubrechen. Sein starkgebräuntes, vom dichten schwarzen Barte eingefaßtes Gesicht zog sich in ein glückliches Lächeln zusammen, als ich ihm die Hand reichte und sagte:

»Nun, Phillipps, habe ich nach Eurem Willen und nach Eurer Absicht gehandelt?«

»Das weiß Gott, Sir!« antwortete er leise und feierlich. »Nun, es hat so sein sollen und ich bin ihm ebenso dankbar, als wenn er mir dies Glück beschieden hätte!«

»Jetzt aber die ehrerbietigsten Grüße von Ihren treuen Dienern – Pferde und Wagen sind seit heute Morgen da, Percy«, rief ich frohlockend aus.

Der Angeredete stand vor mir und blickte mich schweigend an, nur sein großes, freudestrahlendes Auge sprach die Gefühle aus, die in seinem Herzen auf- und niederwogten.

»Es ist gut, mein Freund, mein teurer Freund!« waren die einzigen Worte, die er sprach, und die Hände vor die Brust gekreuzt, schritt er gesenkten Hauptes einigemal vor uns auf und ab.

»Ich werde sie wiedersehen! ja, ich werde sie wiedersehen!« rief er dann und schlug vor Freude die Hände schallend gegeneinander.

»Ist es denn möglich!« rief Phillipps, »der Marquis hat Eure Herrlichkeit wirklich zum Erben eingesetzt?«

»So ist es, Phillipps!«

»Wenn Sie es mir nicht sagten, Sir, ich glaubte es nicht. Das muß gewaltig gestürmt haben hier in seinem bösen Herzen, ehe die Wogen die Perle auswarfen – jawohl, jawohl, ich kenne ihn ja! Und kommende Nacht wollen Euer Herrlichkeit fort?«

»Ja, Phillipps, ja!« rief der Viscount. »Du bist doch fertig?«

»Gewiß, Mylord, gewiß! Wenn Sie heute hinten bei den Pferdeställen vorübergehen – in dem Schuppen, dicht neben Bravours Stall, können Sie das Reisegefährt einen Augenblick betrachten, in welchem ich Sie über die Brücken fahren werde. Haha! diesmal geht es mit der Hundepost fort und es soll mir Niemand Schnittwaren aus dem leeren Behälter abhandeln – aber was werden sie hier sagen?«

»Sie werden eine große Wunde empfangen, diese guten Leute!« sagte Percy lächelnd. »Aber nachher werden sie doch Gott danken, daß ich fort bin und daß sie so billigen Kaufes von mir losgekommen sind. Wie dann, wenn ich mit der ganzen Reihe meiner Zeugen im Gefolge gegen sie als Kläger auftreten wollte?«

»Lassen Sie das fallen, Percy«, sagte ich, »die größte Strafe wird ihnen ihr eigenes Bewußtsein zuerkennen, blind und taub gegen die Stimme der Vernunft gewesen zu sein – o, ich kenne das Gefühl, wenn sich ein Arzt in seiner Überzeugung getäuscht sieht, und nun auf solche Art – und ein Irrenarzt!«

»Ich bin auch ganz damit zufrieden; so soll denn das ihre Strafe und meine Rache sein!«

»Sie werden ihnen keine härtere auferlegen können, verlassen Sie sich darauf.«

Phillipps packte seine Sachen zusammen.

»Wo willst du hin?« fragte ihn der Viscount.

»Zum Herrn Direktor, Mylord, und ihn um Erlaubnis bitten, bis morgen Abend hierbleiben und das Schauspiel mit ansehen zu dürfen – das ist nötig.«

»Geh, geh, sprich mit ihm und sage auch, wann du abreisen willst, damit man es vorher weiß und keinen Verdacht hegt, wenn du so spät aufbrichst.«

»Ich werde Alles einleiten, wie es nötig ist – und nun guten Abend, Mylord, guten Abend, Sir!«

Er ging und bald nachher ging auch ich, denn ich hatte noch Verschiedenes zu meiner Abreise vorzubereiten.

Ich schlief die folgende Nacht keinen Augenblick und die Finsternis schien mir nie aufhören zu wollen. Endlich brach das Licht des Freitagmorgens an. Ich öffnete ein Fenster. Es wehte ein rauher und kalter Wind und ein dichter Nebel lag rings auf der ganzen Natur. Ich kleidete mich an, nahm mein Frühstück ein, das mir mein blödsinniger Knabe wie gewöhnlich brachte, und begab mich, sobald die Stunde es erlaubte, zu allen meinen Bekannten, um Abschied von ihnen zu nehmen, denn ich konnte nicht hoffen, im weiteren Verlaufe des Tages einen geeigneteren Augenblick dazu zu finden, da bei dem erwarteten zahlreichen Besuche die Tätigkeit eines Jeden in Anspruch genommen ward.

Den Prediger, die Ärzte, den Verwalter und einen Teil der übrigen mir näherstehenden Beamten hatte ich besucht und trat jetzt beim Direktor ein. Ich traf ihn beim Ankleiden, wobei er eilig sein Frühstück einnahm; er war allein und heiter, obwohl vielfach mit mannigfaltigen, den Tag betreffenden Anordnungen beschäftigt.

»Ich komme, Mr. Elliotson«, begann ich, »um von Ihnen Abschied zu nehmen, denn obgleich ich Sie noch den ganzen Tag sehe, so werden doch Ihre neuen Gäste Ihre Zeit vollständig in Anspruch nehmen, und wir möchten uns ferner nicht ungestört unterreden können.«

»Sie sind sehr gütig, Sir«, erwiderte er und bot mir die Hand, »also soll es wirklich und diesmal ohne Wiederkehr fortgehen?«

»Ohne Wiederkehr, Sir – und Sie haben mir so viele Beweise Ihres Vertrauens und Ihrer Freundschaft während meiner langen Anwesenheit gegeben, daß ich nicht anders als mit dem Gefühle der aufrichtigsten Dankbarkeit von Ihnen scheiden kann.«

»Ach, Sie sind sehr nachsichtig, Doktor; es freut mich, wenn Sie wenigstens unseren guten Willen erkannt haben und überzeugt sind, daß wir mit unseren besten Kräften nach dem vorgesteckten schweren Ziele streben – was mich betrifft, so habe ich nur meine Schuldigkeit gegen Sie getan. Ein Deutscher ist den Briten immer willkommen und ein deutscher Arzt uns doppelt. – Sie sind zufrieden mit der Anstalt?« fragte er dann mit einem gewissen Blicke stolzer und doch bescheidener Selbstgenügsamkeit.

»Ich habe mich oft genug darüber ausgesprochen – ich wollte, es wäre überall so, überall so gute Mittel und so treffliche Hände, diese Mittel anzuwenden – nicht allein in England, sondern auch bei uns.«

»Nun, vollkommen sein ist überall schwer – wir sind es noch lange nicht – und besonders in Erfüllung unseres Berufes – Sie gehen sogleich nach Deutschland, nicht?«

»Noch nicht, nein, noch nicht! Ich habe noch einiges zu besichtigen und nachzuholen, dann aber kehre ich zurück.«

»Aber Sie werden England wieder besuchen?«

»Ich weiß es nicht; ich könnte Sie zum letzten Male gesehen haben.«

Des Mannes aufrichtiges Auge wurzelte freundlich teilnehmend auf mir, er drückte meine Hand und sagte:

»Wie Gott es will! Wir finden uns Alle, um uns einmal wieder aus den Augen zu verlieren.«

»So ist es. Aber –«

»Aber? Wollen Sie mir noch etwas sagen? – sprechen Sie dreist – haben Sie ein Anliegen?«

»Ich habe eins und habe auch keins, wenigstens ist es ein höchst unbestimmtes. Ich für meinen Teil bin in Allem befriedigt, was Ihre Güte mir hat widerfahren lassen – darf ich die Überzeugung mit mir nehmen, daß Sie es auch mit mir sind?«

»Hoho! Das ist sonderbar, Sir! Was wollen Sie eigentlich damit sagen?«

»Ich will sagen, daß ich Ihr Schuldner bin und vielleicht noch Ihr größerer Schuldner werde – ich nehme von Ihnen viel mit mir –«

»Ah! ist es das! Wir geben und nehmen Alle, einer dem Andern und einer von dem Andern – ich besuche Sie vielleicht einst in ihrem Vaterlande, das kann kommen, und dann sind wir quitt.«

»Aber ich kann Ihnen das nicht bieten, was Sie mir geboten haben –«

»Ein guter Wille ist die beste Gabe, denke ich.«

»Das wohl, aber dennoch –«

»Nun, was noch? Kann ich mehr verlangen?«

»Doch! Sie dürften noch von mir hören, wenn ich fort bin!«

»Das sollte mir lieb sein – es kann nur Gutes sein!«

»Es ist auch nur Gutes – aber Sie nehmen es vielleicht anfangs nicht so auf –«

»Ah! Wollen Sie sich über uns lustig machen? Es scheint mir beinahe so. Indessen wissen Sie, John Bull versteht einen guten Spaß.«

»Das wohl, Mr. Elliotson, aber John Bull kann auch sehr ernsthaft sein.«

»Nun, nun, lieber Doktor, ich verstehe Sie nicht – lassen Sie es gut sein; machen Sie, was Sie wollen, denken Sie nur stets von uns das Beste!«

»Und Sie von mir auch –«

»Auf mein Wort! Das wollen wir.«

»So leben Sie wohl – ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen.«

»Und Sie wollen meinen Wagen nicht?«

»Ich danke! Mr. Sidney ist so gütig, mir sein Pferd bis L... zu geben, und Phillipps, der Krämer, der dieselbe Straße fährt, wird mein Gepäck auf seinen Wagen nehmen.«

»Des Menschen Wille ist sein Himmelreich! Sie machen es sich selber unbequem, doch tun Sie, was Sie nicht lassen können.«

»Guten Morgen!«

»Guten Morgen, Doktor, und einen recht fröhlichen Tag!«

Noch ein Händedruck und noch ein freundlicher Blick, und auch dieser Abschied war von meinem Herzen.

Jetzt ging ich noch einmal die verschiedenen Krankensäle durch und sagte auch ihnen Lebewohl.

Es ist dies für einen Arzt, der es redlich mit sich und Anderen meint und seinen Beruf mit Hingebung und Liebe erfüllt, ein schwerer, ja ihn oft überwältigender Moment. Ich hatte viele Krankenanstalten in meinem Leben besucht und war in mehreren selbst handelnd und tätig gewesen, aber jedesmal war mir der Abschied von meinen Kranken, die ich anderen Händen überlassen mußte, außerordentlich schwer geworden. Die leidenden und an unser Herz sprechenden Gesichtszüge dieser Unglücklichen, die, von ihrer Familie und ihrem Umgange getrennt, in einer neuen und nicht gerade schöneren Welt leben, die Art und Weise, wie sie unsere Bemühungen dankbar aufgenommen, wie auch der Umstand, daß wir ihr Leiden alle Tage gesehen und sie mit immer wachsender Teilnahme getröstet und aufgerichtet haben – ach! wir lieben so leicht, was wir wahrhaft trösten – daß wir sie haben dahinwelken oder gesunden sehen, alles das hat sie unglaublich innig und fest an uns gekettet, und wir müssen uns oft Gewalt antun, unsere Teilnahme von ihnen loszureißen und sie in ihren Schmerzen, die wir nicht lindern können, hinter uns zu lassen. Namentlich gibt es aber unter so vielen Kranken immer einige, die unseren vollkommensten Anteil in Anspruch genommen, ja, die unsere ganze Neigung gewonnen haben und von denen wir wirklich wie von alten Freunden nur mit Schmerz und Rührung scheiden können.

So ging es mir auch hier. Die Bekanntschaft mit Mr. Sidney sowie das besondere Interesse, welches mich so innig mit ihm und seinen Schicksalen verbunden, hatte mich meinem Berufe keineswegs untreu gemacht, obwohl ich – um es offen zu bekennen – wenn mein Geschick mich ihm nicht entgegengeführt hätte, gewiß mehr für das Allgemeinere gelebt haben würde.

Nach Beendigung dieser traurigen Abschiedsvisiten besuchte ich noch einmal die mir besonders lieb gewordenen Plätze und Stellen, deren es für uns an jedem Orte gibt, wo wir längere Zeit mit Neigung geweilt und gewirkt haben, und die letzten Stunden des Vormittags endlich widmete ich der Betrachtung der Vorbereitungen, die man zu dem bevorstehenden Festtage traf.

Das ganze Haus war in einer lebendigen und freudigen Bewegung. Man hatte frühzeitig Einladungen an die benachbarten Baronets und Gutsbesitzer wie auch an alle Gönner und Freunde der Anstalt gesendet und man erwartete sogar den Lord C..., den Schutzherrn und obersten Leiter der Anstalt, der dieselbe in der Regel alle Jahre einmal besuchte.

Um nun die ehrenwerte Gesellschaft mit gebührender Achtung zu empfangen und ihr den kurzen Aufenthalt in St. James so erfreulich wie möglich zu machen, war man bemüht, das Haus von außen und innen, die Speisesäle, die Krankenzimmer, die Korridore, sowie den Platz vor dem großen Eingangstore festlich und würdig auszuschmücken.

Schon vom frühen Morgen an waren die arbeitsfähigen Kranken beiderlei Geschlechts, die sich immer gern dergleichen feierlichen Arbeiten unterziehen, beschäftigt, aus Eichen- und anderem Laube, das sich genug im Parke vorfand, und aus den mannigfaltigsten Blumen Kränze und Gewinde zu flechten und sie gehörig und sinnreich aufzuhängen.

Vor der Tür selbst war eine Art Ehrenpforte errichtet, unter welcher der Direktor mit den versammelten Beamten die Gäste empfangen und begrüßen wollte.

Von Absatz zu Absatz auf den Treppen waren kleinere Wiederholungen derselben angebracht, die Geländer selbst mit grünem Laube umwunden, Kränze hingen an den Türen, große und kleine und von allen erdenkbaren Formen.

Am reichsten aber war der große Speisesaal ausgestattet, denn hier sollten die Ehrengäste mit den Beamten ihr festliches Mahl halten und die gebräuchlichen Reden gesprochen werden. In der Mitte desselben, dem Eingange gegenüber, hing das schöne Bildnis der Königin Victoria in einer reichen Fülle bunter Blumen und Blätter, und rings herum an den Wänden zogen sich duftende Girlanden, Porträts von allerlei Personen umgebend, die sich im Laufe der Zeiten um die Anstalt verdient gemacht hatten.

Ich ward beim Eintritt in denselben freudig überrascht, ihn so festlich geschmückt und doch zugleich so heiter zu finden. Auf der hohen Zinne des Gebäudes selbst aber entfaltete sich in dem leisen Winde, der die Morgennebel zerteilt hatte, das große schwere Banner des Hauses mit dem schönen alten Wappen Englands, welches ein bleicher Strahl der Septembersonne matt, aber freundlich beleuchtete.

Auch hatte man in Erwartung eines hinreichend schönen Abends an eine Erleuchtung des Gartens gedacht; farbige Lampen hingen in großer Menge und in sinnbildlichen Zusammenstellungen an Bäumen und eigens dazu aufgerichtetem Lattenwerk und vervollständigten so in den Augen der armen Unglücklichen, um derentwillen die Feier veranstaltet war, die Freude, mit der sie in bald ernster, bald kindischer Lust, wie es der Charakter ihrer Krankheit mit sich brachte, alle diese Vorrichtungen betrachteten und kaum die Stunde erwarten konnten, in der mit der Ankunft der Gäste die Feierlichkeit ihren Anfang nehmen sollte.

Diese Letzteren erwartete man um zwei Uhr Mittags. Um zwölf Uhr war indessen schon Alles geordnet; die Kranken befanden sich in ihren Sonntagskleidern innerhalb der Säle, die Aufseher und Wärter standen auf ihrem Posten, und alle die langen, mit schönen Blumen verzierten Speisetafeln, an denen heute fast sämtliche Kranke mit einem leckeren Gerichte bewirtet werden sollten, schienen nur des Augenblicks zu harren, wo die große Glocke läuten und die vollen Küchen sich ihres duftenden Inhalts entleeren sollten.

Um halb zwei Uhr trat der Direktor, von seinen Beamten begleitet, vor das große Eingangstor und stellte sich mit ihnen in geziemender Ordnung unter den grünen Bogen und Kränzen der Ehrenpforte auf. Die Sonne leuchtete matt über die Festlichkeit hin, als Punkt zwei Uhr die ersten Wagen durch die geöffneten Barrieren in den Vorderraum einrollten. Einer der Ersten, welche erschienen, war Lord C... in seiner prächtigen Karosse, die mit vier schwarzen Hengsten bespannt war und von zwei glänzenden Vorreitern begleitet wurde. Allmählich kamen auch die Wagen der anderen Teilnehmenden, mit ihren Familien, Frauen und Kindern, und um halb drei Uhr waren alle Gäste versammelt und es begann der erste Teil des Festes, der jedoch nur für einen kleineren Teil der Bewohner von St. James, nämlich für die Beamten allein, berechnet war.

Lord C... war ein alter, aber feurig blickender, ernster, aber freundlicher Herr; er liebte die Anstalt und setzte auf ihren Ruf und ihre Verschönerung seinen ganzen aristokratischen Stolz. Er besuchte zuerst, gefolgt von dem ganzen Dienstpersonale, alle Krankensäle, die Zimmer für den Unterricht und die Spiele, die Bäder und die sonst zur Anstalt gehörenden Räumlichkeiten, indem er sich von der Zweckmäßigkeit und den Fortschritten derselben persönlich überzeugte. Fast überall ließ er seine Bemerkungen hören, die mich sein gesundes Urteil und seine wahrhaft erstaunenswerte Sachkenntnis bewundern ließen, und meist sprach er sich lobend und ermunternd, selten tadelnd oder verwerfend aus.

Nachdem diese Wanderung beendigt war, begab man sich in den großen Konferenzsaal, und hier wurden Seiner Herrlichkeit die Ereignisse und Vorkommenheiten des letzten Jahres der Anstalt, ihre Ausgaben und Einnahmen, ihre Erweiterungen und Verbesserungen, ebenso ihre Hoffnungen und Wünsche vorgetragen, worauf Seine Lordschaft abermals verbindlich und zuvorkommend erwiderte und die huldvollsten Versprechungen gab.

Nachdem auch dies beendet war und während man sich in den großen Speisesaal verfügte, ging ich einen Augenblick zu Mr. Sidney, der wegen seines noch immer scheinbar fortdauernden Katarrhs auf seinem Zimmer geblieben war und nur an dem die Feierlichkeit beschließenden Schauspiel am Abend teilnehmen wollte. Nachdem ich einige Minuten mit ihm geplaudert und ihn von dem Vorgehenden in Kenntnis gesetzt, redeten wir noch einmal die Zeit unseres Vorhabens ab und dann kehrte ich wieder in den Speisesaal zurück, wo ich bereits sämtliche Gäste versammelt fand.

Das Mahl begann, ernst, aber heiter, still, aber freundlich, und schloß, obwohl etwas lärmender als es angefangen, im Ganzen doch gemessen und in würdiger, entsprechender Haltung. Es wurden viele Reden dabei gehalten, wie das gewöhnlich ist, gute und schlechte, treffende und ungehörige, die beste aber und mir am meisten zusagende sprach Lord C... selbst. Ihrer charakteristischen Färbung wegen setze ich sie hierher; sie war kurz, aber dennoch erschütternd und schloß, wie alle englischen Reden, die bei Tische gehalten werden, mit einem Haufen von Toasten. Lord C... war ein bündiger, aber ausgezeichneter Redner, der, was und wo er auch sprach, seines Erfolges gewiß sein konnte. Er erhob sich mit Würde und begann mit weicher, leiser, allmählich sich aber hebender Stimme, die zuletzt zu einer solchen überzeugenden Gewalt anschwoll, daß alle Hörer fortgerissen und entzückt wurden und in den ungeteiltesten Beifall ausbrachen.

Die Worte aber, die er sprach, waren folgende:

»Geist und Licht zu verbreiten, ist von jeher die Aufgabe und das Bestreben ganzer Völker und einzelner erleuchtender Menschen gewesen! Wenn man das Licht hat, dann ist es leicht, einen dunklen Raum zu erhellen, aber das geistige und unsichtbare Licht durchläuft weniger schnell die Welt, als das sinnliche und sichtbare. Kräfte müssen dabei in Bewegung gesetzt und guter Wille herausgefordert werden, die oft tief, schwer und lange geschlummert haben! – Ihnen aber, meine teuren Freunde und Landsleute, ist die trübste, traurigste und verborgenste Dunkelheit übergeben worden, daher sollen Sie das heiligste, glänzendste und erhabenste Licht ausstreuen. Das aber kommt allein von oben! Gott segne und erleuchte Sie damit, und er wird Sie segnen und erleuchten. Denn wie den glühenden, verbrecherischen Fanatismus, der die Welt zerfleischt, der reine Glaube besiegt und überlebt, weil er ohne Leidenschaft ist, die sich selbst zerstört, so wird die gesunde Vernunft, weil sie göttlich ist, den geistigen Irrwahn überleben und besiegen, weil er irdisch ist.

Von unserem Vaterland aber hierhergestellt und Ihren Eifer anzuspornen berufen, spreche ich Ihnen das Vertrauen aus, welches dies Vaterland in Sie setzt. Sie werden Lehrer und Verbreiter der gesunden Vernunft sein, wie es von Ihnen erwartet wird. Gott erhalte die Königin! Gott erhalte England, Schottland und Irland! Gott erhalte unser ganzes, schönes, großes Vaterland!«

Bei jedem dieser Toaste wurde angehalten und ein volles Glas Wein geleert. Der Redner fuhr fort:

»Auch den Gemahl unserer teuren Königin möge Gott erhalten! Ein Hurrah dem Parlament und der Verfassung der Freiheit! Ein Hurrah dem guten Geist, und darum erschalle unser alter Spruch: Sankt Georg und das lustige England!«

Nach dem Essen begab man sich in den Park, um den Spielen der Irren, die gespeist und erfrischt waren, zuzuschauen. Es waren verschiedene Preise für verschiedene Übungen, namentlich im Turnen, ausgesetzt, und es ist kaum der Eifer zu schildern, mit welchem sich diese guten, armen Menschen, die so wenig gesunde Urteilskraft besaßen, dem Triebe ihrer Leidenschaft ergaben. Aber freilich, beides steht ja in geradem Gegensatz – Vernunft und Leidenschaft! Bei gesunden Menschen sogar, wieviel mehr nicht bei denen, die jenes göttlichen Funkens entbehren, der erst den Menschen zum Menschen macht.

Allmählich aber wurde es dunkler und kühler; die anwesenden Damen zogen sich in die Zimmer zurück, wo Tee verabreicht wurde, und ihnen folgten bald auch die Männer.

Um sieben Uhr endlich war der Zeitpunkt gekommen, wo der schönste Teil des ganzen Festes, das sehnlichst erwartete Schauspiel selbst, beginnen sollte. Die große Glocke gab dazu abermals das Zeichen.

Ich begab mich sogleich in den für das Schauspiel eingerichteten großen Konzertsaal. Die größere Hälfte desselben war für die Zuschauer wie gewöhnlich mit Stühlen und Bänken besetzt, den kleineren Teil nahm die Bühne ein; diese trennte ein ziemlich hoher Absatz mit dem kleinen Orchester davor und ein sehr wacker ausgeführter Vorhang von dem Zuschauerraume. Auf dem Vorhange selbst waren zwei riesige Gestalten, im Kampfe miteinander ringend, dargestellt; die eine mit leidenschaftlicher, finsterer, dämonischer Miene und angst- und hohnverzerrten Gesichtszügen unterlag der anderen, die mit Hoheit, Kühnheit und einem gewissen herausfordernden Triumphe auf die Niederlage ihres Gegners blickte.

Die Wände des Saales waren ebenfalls mit Blumenkränzen behangen, die Fenster durch dunkelrote Vorhänge beschattet, und zahlreiche Kerzen und Lampen auf den großen Kronen- und Wandleuchtern erhellten vollkommen und angenehm das würdige Ganze.

Jetzt öffneten sich die Türen und es wurden, wie damals beim Konzert, zuerst die Frauen, dann die Männer hereingeführt. Die Vorder- und Seitenplätze blieben für die Gäste und die Beamten leer. Im Hintergrunde nahmen die einstweilen von ihren Dienstpflichten erlösten Wärter und Aufseher ihre Stellen ein, unter denen ich, an einem der Türpfosten im Hintergrunde des Saales lehnend, die große dunkle Gestalt des auf Alles aufmerksamen Phillipps bemerkte, dessen Haltung wie gewöhnlich ruhig war, in dessen umherschweifenden Blicken aber dennoch eine gewisse Unruhe lag, die seinem charakteristischen Gesichte einen eigenen Ausdruck der Spannung und Erwartung gab und mir, dem Eingeweihten, seine innersten Gedanken verriet.

Bevor Lord C... mit der übrigen Gesellschaft eintrat, hörte ich folgendes Gespräch, das dicht an meiner Seite von zwei Irren flüsternd geführt wurde, von denen der Eine schon längere Zeit einheimisch, der Andere aber erst vor einigen Monaten in die Anstalt gekommen war. Letzterer sah sich neugierig und etwas unruhig rings im Saale um, der unverhoffte Glanz mochte ihn blenden und verwirren, endlich aber blieben seine glitzernden Augen unverrückt auf dem Vorhange haften, denn die beiden kämpfenden Figuren mochten wohl seine ganze Einbildungskraft in Anspruch nehmen.

»Toms!« sagte er leise zu seinem Nachbar, der ruhig und gefaßt neben ihm saß, indem er mit zwei Fingern in die Luft nach dem Vorhange hin tippte. »Was sollen die Männer bedeuten, die da mit den bloßen Schwertern aufeinander loshauen? Sieh – der Eine wird den Andern tot machen, ich sehe es kommen. Au, au! ich möchte den Hieb da nicht haben.«

»Das will ich dir sagen, Sam«, erwiderte der Gefragte. »Sieh, der Eine da, der unten liegt, das ist die Lüge, die in dir steckt, und der Andere über ihm, das ist die Wahrheit, die sie dir noch predigen werden.«

»Ah!« stieß der Belehrte mit einer Miene der Verwunderung hervor. »Sind denn Lüge und Wahrheit Männer mit Schwertern?«

»Das verstehst du nicht, das verstehe ich kaum, denn mit dir ist es hier oben nicht recht richtig!« näselte der Andere. »Du wirst es aber noch hören, denn es wird uns hier immer gesagt.«

Und während er dies sprach, brach er in ein so grinsendes Lachen aus, daß seine ohnehin schon nicht angenehmen Gesichtszüge krampfhaft und abschreckend verzogen wurden.

»Ha!« rief der Sam Genannte etwas lauter, »Toms, du bist die Lüge! Sieh, wie dir der Mann, der unten liegt, ähnlich sieht!«

Der Lacher machte ein erstauntes Gesicht und schielte den Sprecher entsetzlich verwirrt an.

»Ruhig da!« rief der Aufseher, und in diesem Augenblicke trat Lord C... mit der ganzen Gesellschaft ein und nahm in der vordersten Reihe auf einem etwas erhöhten Sessel dicht hinter dem Orchester Platz. Seinem Beispiele folgten die übrigen Gäste, und auch die Beamten setzten sich zur Seite auf ihre gewöhnlichen Stühle. Mir gerade gegenüber bemerkte ich Mr. Sidney, der in der gewöhnlichen schwarzen Kleidung, die er im Irrenhause trug, ein ruhiger und gleichgültiger Zuschauer blieb.

Sobald sich alle Anwesenden niedergelassen hatten, herrschte einen Augenblick lang eine atemlose Stille, obwohl mehr als fünfhundert Personen in dem gedrängt vollen Saale versammelt waren. Da erhob sich Lord C..., wandte sich zur Versammlung um und sprach mit seiner schönen, durchdringenden und jedes Gemüt bewegenden Stimme folgende Worte:

»Ihr Männer und ihr Frauen! Ich grüße euch! Wie alle Jahre, so seid ihr auch heute hier versammelt, um an einem Vergnügen teilzunehmen, das wir euretwegen veranstaltet haben. Aber nicht allein um des Vergnügens willen seid ihr hier, sondern auch eine Lehre sollt ihr aus diesem Saale mit euch nehmen, die euren Geist zum Nachdenken und euer Herz zur Teilnahme stimmen wird. Sehet hier«, und der Redner zeigte mit seiner Hand auf die drohende, aber überwundene Gestalt auf dem Vorhang hin. »Das ist der böse Geist der Lüge, der in allen Menschen steckt, obwohl er in dem Einen größer, in dem Anderen kleiner ist. Er drängt sich still und ungesehen in unser Herz und will unsere heiligsten Gefühle und unsere reinsten Gedanken vergiften und besudeln. So stark er aber ist und so gewaltig er auch sein verheerendes Schwert führt – ihr seht ihn dennoch unterliegen. Denn das Böse darf, kann und soll nicht auf der Welt herrschen. Aber es ist die Wahrheit, die unsterbliche Wahrheit, die die Lüge besiegt, ihr Geist ist stärker als jener Geist, und wenn auch die Lüge lange triumphiert, endlich einmal wird sie doch von der kräftigen Hand der Wahrheit ergriffen und bestraft werden.

Warum aber sage ich das zu euch? Darum, damit ihr erkennen und es beherzigen sollt, daß auch ihr von dem bösen Lügengeiste hinterlistig ergriffen, und daß wir, mit der Kraft und Unbesiegbarkeit der Wahrheit ausgerüstet, die Lüge in euch vernichten und aus euch vertreiben wollen. So helft uns denn und steht uns bei zu eurem eigenen Besten, daß es uns bald und vollständig gelinge, und ihr werdet wieder freie und glückliche Menschen sein.

Jetzt aber merkt auf und vergnügt euch, und je mehr ihr die Wahrheit in dem vorzuführenden Schauspiele erkennt, umso weiter werdet ihr schon von der Lüge entfernt sein. Also merkt auf!«

Der Redner ließ sich auf seinen Sessel nieder und ein allgemeines Beifallsgemurmel zeigte, welchen Eindruck seine Worte auf die Zuhörer gemacht hatten. Der Irre Sam sah seinen Nachbar Toms mit einen bedeutungsvollen Kopfnicken und einer ausdrucksvollen Miene des Verständnisses an. Alles aber war ringsum still. Lord C... nahm den Theaterzettel zur Hand, der auf seinem Stuhl gelegen, las darin und gab dann das Zeichen zum Beginne der Musik.

Sogleich begann die Musik. Es war eine jener ernsten, feierlichen und hinreißenden Symphonien, die das Innerste unseres Herzens zu erschließen vermögen und, alles Unreine verwehend, dem Reinen allein Tor und Tür öffnen. Eine klagende Flöte, ungemein zart und innig geblasen, hatte die ersten Sätze allein vorzutragen, sie glich dem leisen Winde, der dem Anfang der Sonne und dem Erwachen des Tages vorangeht. Jener Schauer, der uns so oft überkommt, wenn die Geister der Töne entfesselt werden und in unser Ohr flöten und brausen, ergriff mich auch diesmal und riß mich wider Erwarten gewaltsam in die Gegenwart herüber, der ich durch den Gedanken an das mir in dieser Nacht Bevorstehende doch schon längst entflohen zu sein wähnte. Noch mehr, eine Rührung überwältigte mich, der ich kaum zu widerstehen vermochte, denn ich sollte nicht allein, wie damals im Konzert, von Wahnsinnigen eine sinnige Musik vortragen hören, sondern ich sollte sie wie geistig Gesunde reden hören und handeln sehen. Das Erschütternde jedoch, welches in diesem Gedanken lag, wurde durch das Belebende, welches er zu gleicher Zeit einflößte, gemildert, und so wandte ich denn mit Spannung Auge, Ohr und Herz dem vor mir Liegenden zu; ich vergaß, was mir heute noch zu tun oblag, die sanften, schwellenden und zuletzt wild tobenden Töne, die mich umgaben, berauschten meine Seele, und es sollte nicht lange dauern, so war mein Geist in einem neuen, schöneren und erhabeneren Elemente gefesselt. Das ist der Sieg der göttlichen Kunst über die irdischen und leidenschaftlichen Sinne der Menschen.

Die Musik war zu Ende, die Glocke erschallte und der Vorhang flog auf. Das Bild, welches sich unseren überraschten Blicken darbot, war reizend und rührend zugleich. Die Dekorationen und Kostüme waren reich, geschmackvoll und entsprechend gewählt, die Direktion hatte darin Alles getan, was mit Umsicht und Neigung geleistet werden konnte. Sämtliche auf der Bühne Anwesende zeigten sich nicht allein von ihrer besten Seite, sondern sie übertrafen in Stellung, Gebärde und Ausdruck jede mäßige Erwartung. Ich sah den Oberarzt flüchtig an und bemerkte ein wohlgefälliges Lächeln um seine ernsten Züge spielen, sein Blick flog unruhig fragend nach allen Seiten zu den Zuschauern hinüber, und da sein Auge auch auf mich fiel, nickte ich ihm unverhohlen meinen Beifall zu. Und doch, Leser! waren es nur Bewohner eines Irrenhauses, die wir vor uns sahen. Wie war es möglich, hier das zustande zu bringen? Aber so viel vermag eine kluge Leitung, ein zweckmäßiger Unterricht, Ausdauer und guter Wille! Es war mir eine Lehre, Wahnsinnige zu behandeln, es war die fruchtbarste Stunde für mich, die ich in St. James zugebracht hatte. Alles war in Enthusiasmus, als der Vorhang zum ersten Male fiel.

Die Zuschauer schöpften tief Atem und schienen der Ruhe zu bedürfen. Ich suchte Percy mit den Augen, der mir seinen Beifall zuwinkte, doch bemerkte ich, daß er seine Uhr hervorzog.

Es wurde warm im Saale, man fühlte allgemein eine Art von Aufregung. Den Gästen wurde Tee und Eis herumgereicht, dann nach einer kleinen Pause flog der Vorhang wieder in die Höhe.

Auch dieser Akt ging ganz regelrecht vorüber. Im dritten Akt, der auf vernünftige Menschen den größten Eindruck hervorbringt, weil Gewitter, Sturm, Regen und Leidenschaften, die noch stärker wüten als die grollende Natur, sich zerstörend kreuzen, war ich besorgt, ob die Schauspieler sich noch in ihren Leistungen steigern könnten, aber ich war es umsonst gewesen, denn sie hielten sich Alle sehr wacker. Aber auf die anwesenden Irren schienen Blitz und Donner einen tieferen Eindruck zu machen als die ihnen weniger verständliche Handlung. Sie fürchteten sich, drückten sich zusammen und sahen einander mit entsetzten Mienen an – hier und da hörte man den halb unterdrückten Ausruf: »Das ist schrecklich! Das ist fürchterlich – ach! wenn es doch erst zu donnern aufhören wollte!«

Tausendmal war ich während des weiteren Verlaufes der Vorstellung in Angst, die wahnsinnigen Schauspieler würden ihre Rolle und ihre Vorstellung vergessen und, sich in das Chaos ihres eigenen Irrwahns verlierend, uns ein neues, unerwartetes Schauspiel vorführen, aber immer wieder fanden sie sich zurecht, keinen Augenblick vergaßen sie sich, sie hielten ihre Stichwörter wie der besonnenste Schauspieler, und keiner beging einen auffallenden Fehler, der das Ganze in Verwirrung gebracht hätte.

Der Vorhang war zum letzten Male gefallen und ein gewaltiger Beifallssturm ließ sich von allen Seiten vernehmen und schien nicht enden zu wollen. Lord C... beabsichtigte, noch einige Danksagungsworte zu reden, aber es war nicht möglich, die einmal entfesselten Zungen der so gern Sprechenden und so ungern Hörenden zu bewältigen. Er ergab sich mit lächelnder Miene in sein Schicksal und ging dann, von dem Direktor und einigen Beamten begleitet, denen ich mich anschloß, auf die Bühne.

Hier fanden wir die Schauspieler in Schweiß gebadet, auf Stühlen und in deren Ermangelung auf der Erde sitzen und liegen; jedoch erhoben sich Alle sogleich, als Lord C... eintrat. Dieser lobte und ermunterte sie, dankte für das ihm bereitete Vergnügen und teilte zuletzt an sämtliche Schauspieler einige kleine Geschenke und Erinnerungen aus. Am besten kamen dabei, wie immer, die Damen weg, denn sie erhielten goldene Ringe, Armbänder und was dergleichen ein junges Mädchen erfreuen kann.

Jetzt versammelte sich die geladene Gesellschaft noch einmal in ihren Zimmern, besprach und freute sich des gehabten Genusses, drückte ihre Dankbarkeit aus und dann begannen die Abschiedszeremonien.

Die Wagen fuhren bald darauf vor, die Damen hüllten sich in ihre Mäntel, und nach fünfzehn Minuten standen die Säle, die soeben noch voll von Menschen, ihren Taten und ihren Worten gewesen waren, leer. Ich drückte noch einmal dem Direktor und dem Oberarzte zum Abschiede die Hand, dann verfügte ich mich in mein Zimmer, eben als die Hausuhr den Ablauf der elften Stunde hören ließ.

Percy wußte ich ebenfalls schon auf seinem Zimmer; Phillipps erwartete ich bei mir und der Wärter Chappert stand auf seinem Posten.

Das war mein letzter Abend in St. James!


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