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1. Kapitel

Es war in den ersten Tagen des Juni im Jahre 1843, als ich, von einer Reise nach Schottland zurückkehrend, denjenigen Teil Englands betrat, in welchem das steilere Gebirge allmählich in die wellenförmigen grünen Hügel übergeht, die, je mehr man sich dem Süden zuwendet, nach und nach sich in das flache Land verlieren.

Es war ein sehr warmer Tag gewesen, und ich hatte, nach meiner Gewohnheit zu Fuß reisend, viel von der Hitze gelitten, so daß ich mit Sehnsucht den kühleren Abendstunden entgegensah, die für den Reisenden so erquickend sind.

Mein Herz, noch erfüllt von den Wundern des Hochlandes, wurde getragen von den schönen Naturszenen, die mich umgaben.

Ich hatte viele fremde und entlegene Länder besucht, nicht nur, um sagen zu können, ich sei dagewesen, sondern ich fühlte mich als Arzt berufen, den Menschen in seinem freuden- und leidenvollen Treiben zu studieren, und ich hatte es mir diesmal zur besonderen Aufgabe gemacht, alle Krankenhäuser von Ruf, vorzüglich aber die Irrenanstalten, zu besuchen, die in England so musterhaft ausgestattet sind, daß sie sogar eine europäische Berühmtheit erlangt haben.

So wollte ich denn eine der namhaftesten dieser Heilstätten aufsuchen, die auf meinem heutigen Wege lag, und längere Zeit darin verweilen – ich meine die Irrenanstalt zu St. James. Mit mancherlei Empfehlungen von London aus versehen und schon daselbst angemeldet, hatte ich von meinem letzten Nachtlager aus mein ganzes Gepäck dahin vorausgesandt und hoffte nun, das alte St. James gegen Abend dieses Tages wohlbehalten zu erreichen.

Gerade nicht sehr ermüdet, denn ich hatte nur eine kleine Tagereise gemacht, sehnte ich mich doch, als der Abend näher und näher kam, nach einem Ruheorte.

Ich war von der gewöhnlichen breiten Landstraße abgewichen, denn ich liebte es, auf einem schmalen Fußwege zu wandern, der mich bald durch Wald und Feld, bald über Wiesen und Moore lockte; noch war ich in den Jahren jener jugendlichen Lebendigkeit und Willkür, der es ein größeres Vergnügen gewährt, bisweilen auf ein kleines abenteuerliches Hindernis zu stoßen, als die breite Fahrstraße entlang zu gehen, die nichts als das unveränderliche Einerlei darbietet.

So war ich also auch diesmal meiner alten Neigung gefolgt und hatte soeben einen schmalen Fußpfad eingeschlagen, der, in schneckenartiger Windung bergab führend, mich in ein kleines, stilles, grünes Tal brachte. Ich stand still und blickte rückwärts die Höhe hinauf, von der ich soeben herabgestiegen war. Die sinkende Sonne, am unbewölkten Himmel langsam dahingleitend, war ihrem Wendepunkte nahe und warf nur noch einige schräge, purpurrot glühende Strahlen auf die höchsten Wipfel der riesigen Bäume jener Anhöhe, während der breite und lange Schatten derselben das tiefere Tal schon dunkler färbte.

So meiner stillen Betrachtung hingegeben, ließ ich mich am Fuße einer schlank gewachsenen Tanne im frischen, duftigen Moose nieder und zog meine Karte hervor, um zu berechnen, wie weit St. James wohl noch von meinem jetzigen Ruheorte entfernt sein könne. Doch, wie es mir oftmals ging, konnte ich auch diesmal den Punkt, an dem ich mich gerade befand, nicht genau auf dem Papier finden, und ich war in einiger Verlegenheit, ob ich nicht ganz vom rechten Wege abgekommen sei, als ich zu meiner Beruhigung einige Menschenstimmen vernahm, die von jener schon erwähnten Höhe zu mir ins Tal herniedertönten.

Bei genauerem Hinhorchen vernahm ich bald, daß es zwei Knabenstimmen waren, die, einen Doppelgesang ausführend, mit ihren klaren Brusttönen anmutig zu wetteifern schienen. Bald auch trennte sich unfern des Gipfels der Höhe das breite Gebüsch, und ich sah, wie ich vermutet, zwei Knaben, die vorsichtig herabstiegen und eine Last aufzuhalten bemüht waren, die den Berg hinab auf sie niederzustürzen drohte. Es war ein Wagen, der eigentümlich gebaut, jenen Krämerkarren glich, wie man sie so häufig in England von Hunden oder einem alten trägen Pferde fortschleppen sieht.

Langsam kamen sie heran, und jetzt gewahrte ich auch hinter ihnen einen älteren Mann, der mit festem Schritte und sicherer Hand den Karren aufhielt, damit er nicht, die Knaben überwältigend, den ziemlich steilen Abhang hinabschieße.

Als der von weitem etwas abenteuerlich aussehende Zug ganz in meine Nähe gelangt war, so daß ich ihn einer genaueren Prüfung unterwerfen konnte, rief der eine der Knaben, der augenscheinlich der älteste von Beiden war, indem er von dem Wagen fortsprang und sich auf das Moos, ziemlich dicht an meiner Seite, niederwarf: »Hier wollen wir ein Weilchen rasten, Vater – das war ein abscheuliches Stück Arbeit, den Berg herab!«

Die Knaben, in Jäckchen und Beinkleidern von grauer Leinwand gekleidet, auf dem Kopfe ein kleines Mützchen von grünem Tuche tragend, sahen einander sehr ähnlich und waren Brüder, obwohl der ältere, der ungefähr sechzehn Jahre zählen mochte, von bei weitem stärkerem Muskelbau und auffallenderem Gesichtsausdruck war als sein jüngerer Gefährte. Es lag etwas Entschiedenes, Keckes auf seinem wohlgeformten Gesicht, das einen kräftigen und tüchtig sich entwickelnden Geist verriet, während der andere, etwa zwei Jahre jüngere Bruder mit seinen hellblauen Augen und blondgelockten Haaren weiche, kindlichere Züge darbot, die, ebenso offen und fröhlich wie die des anderen, doch eine viel zartere, fast weibliche Organisation verrieten.

Dieser angenehme Eindruck, den die Betrachtung der beiden Knaben hervorrief, wurde nicht vermindert durch den Hinblick auf die athletische Gestalt und die auffallend scharf gezeichnete Gesichtsbildung des sie begleitenden Vaters, der von Beruf ein Krämer zu sein schien und über die mittleren Jahre hinaus war, obschon sein dichtes dunkelbraunes Haar noch keine der gewöhnlichen Spuren herannahenden Alters zeigte. Der Umfang seines Armes verriet eine bedeutende Muskelkraft, und der eigentümlich knappe Anzug, den er trug, hob diesen schönen, kräftigen Wuchs nur noch mehr hervor.

Im Ganzen war er wie seine Söhne gekleidet, nur hatte er, zum Unterschied von ihnen, einen dunkelroten, von wollenem Zeuge gewebten, handbreiten Gürtel um den Leib geschlungen, der vorn von einer großen Schnalle zusammengehalten wurde und Papiere oder Geld sicher aufzubewahren bestimmt schien. Seinen starken Haarwuchs bedeckte ebenfalls eine kleine Mütze von grünem Tuche ohne Schirm, wodurch nur noch mehr das Adlerartige seines Gesichtes hervorgehoben wurde. Dieses Gesicht aber, männlich, ernst, mit scharf ausgeprägten, sonnverbrannten Zügen, war wie von einem dunklen Rahmen in einen sehr starken Backenbart eingefaßt, der mit einem großen Schnurr- und Spitzbart um Kinn- und Mundwinkel zusammenlief. Seine große schottische Nase verlieh diesem Gesicht den Ausdruck von Schärfe und Kraft, der den Hochländern so eigentümlich ist, und würde noch mehr aufgefallen sein, wenn er nicht durch die Gutmütigkeit und Biederkeit, die aus seinen dunkelblauen, offenen Augen unverkennbar hervorleuchtete, gemildert worden wäre. Es lag eine Art von gemütlicher und durch nichts zu besiegender Heiterkeit auf diesem merkwürdigen Antlitz, das sogleich Vertrauen erweckte; auffallender aber wurde es bei genauerem Hinblick noch durch einen um seinen Mund mit den kerngesunden Zähnen und die wohlgebildeten, fleischigen Lippen liegenden Anflug von momentaner Wehmut, der einen nicht unangenehmen Gegensatz zu jener Heiterkeit bildete und ihr gewissermaßen einen Zügel anzulegen schien.

Auf dem Hinterteil des kleinen vierrädrigen Wagens, den diese drei Personen zu mir heranleiteten, stand ein ziemlich hohes, korbartiges Gerüst, von starken Weidenruten geflochten; den vorderen Raum nahmen mehrere kleine Kasten und in Wachsleinwand eingeschlagene Pakete ein.

Als der Mann in meine Nähe gekommen, nahm er seine Mütze ab und sagte, indem er sich an meiner Seite im Moose niederließ, mit freundlichem Ton:

»Guten Abend, Sir! Wenn es erlaubt ist, setze ich mich zu Ihnen – in Wahrheit, ein warmer und schöner Abend nach einem heißen Tage!«

»Jawohl!« erwiderte ich und gab den Gruß ebenso freundlich zurück. »Ihr habt da eine schwere Last zu ziehen, wie es scheint, denn Ihr seid samt Euren Knaben in Schweiß geraten!«

»Ja!« rief der ältere der Knaben, »schwer genug für uns, zumal wenn es so heiß ist!«

Der Vater lächelte und schien mit Wohlgefallen auf den dreisten Burschen zu sehen.

»Bob!« sagte er, »du kannst dich jetzt ausruhen, wir sind bald, wo wir sein wollen. – Wohin führt Sie Ihr Weg, Sir?«

»Nach St. James, mein Freund; und es würde mir lieb sein, wenn Ihr mir sagen könntet, ob ich auf dem rechten Wege dahin bin.«

Der Mann sah mich mit einem eigentümlichen Blick an, den ich mir nicht zu deuten wußte, und erwiderte sogleich:

»Bravo! da sind wir Reisegefährten, denn ich will ebenfalls dorthin, und es wundert mich, daß Sie gerade den nächsten Weg gefunden haben, wenn Sie hier nicht bekannt sind.«

»Wie weit haben wir noch?«

»Nun, vier Meilen können es noch sein. Aus diesem Tale kommen wir auf einen grünen Anger. Dann steigen wir eine kleine Anhöhe hinauf und lenken wieder in die Landstraße ein, wo dann das Haus dicht vor uns liegt. Sie sind noch nicht in St. James gewesen, Sir?«

»Nein, es ist das erste Mal, obgleich ich viel davon gehört habe und brieflich schon mit einigen der Beamten daselbst bekannt bin.«

Mein neuer Gefährte ließ ein nachdenkliches Hm! hören und stützte den Kopf auf seine beiden Hände. Einen Augenblick noch schien er nachzusinnen, dann sprang er rasch auf und rief mit lautem, fast barschem Ton:

»Bob! – Will! – Marsch vorwärts – wir kommen vor Mondenschein nicht an. Tummelt euch, ihr Jungen! Wenn es gefällig ist, Sir, so gehen wir zusammen.«

Ich stand auf; die Knaben nahmen die Zugleinen um die Brust und erfaßten die Deichsel des Wagens. Wir Älteren aber schritten langsam hinterher.

Wie mein Begleiter es gesagt, das kleine Tal, in dem wir einige Minuten geruht hatten, mündete in einen weiten grünen Anger, der, ungefähr zwei Meilen weit sich erstreckend, den schönsten weichen Moorgrund bot. Wir waren eben etwa bis zur Mitte gekommen, als wir die Knaben, hinter denen wir, in gleichgültigem Gespräch begriffen, zurückgeblieben waren, stehenbleiben sahen. Wir näherten uns langsam, und als wir dicht bei ihnen waren, bemerkten wir, daß sich Bob auf die Erde geworfen hatte und Will auf der Deichsel saß.

»Nun, warum geht ihr nicht vorwärts?« fragte des Vaters ernste, aber freundliche Stimme.

»Weil wir nicht mehr können!« antwortete Bob mit einem trockenen Tone, während sein sanfterer Bruder ihm einen beschwichtigenden Blick zuwarf.

»Hoho, mein Junge! Sprichst du so! Aufgeschirrt! An die Deichsel, Bursch, und immer vorwärts!«

»Ja!« erwiderte Bob mit einem deutlichen Schmollen in Gebärde und Ton, »du hast gut reden! Du schlenderst gemächlich hinterher und deine armen, schwachen Knaben müssen die ganze Ladung allein ziehen. Der Kuckuck hole den Wagen! Aber ich dächte, du könntest es dir und uns bequemer machen, wenn du dir einen alten Gaul oder ein Paar Doggen zulegtest; solche Hundearbeit ist nicht für Menschen, und umso weniger für Kinder!«

»Da haben wir's!« rief der Vater, und sah mich mit einem ernsten, aber immer noch nicht unfreundlichen Blick an. »Der Junge ist wahrhaftig wie seine Mutter, die sich die Butter nicht vom Brote nehmen ließ – Gott mache sie selig! – Immer Feuer und Flamme; und das kommt ihm in der Tat zu Hilfe, sonst sollte es ihm diesmal schlimm ergehen! Bist du auch so müde, Will?«

»Nun, es geht!« sagte zögernd der sanftere Knabe und senkte errötend seinen lockigen Kopf, so daß man ihm anmerkte, er sei wenigstens ebenso ermüdet wie sein älterer Bruder.

»Ja, nun spricht er nicht!« rief Bob laut aus, »aber mir hat er es gesagt, daß er kaum noch fort kann!«

»Die Knaben sind in der Tat ermüdet«, sagte ich versöhnend, »der Grund ist weich und die Räder schneiden tief ein.«

»Ei ja doch, Sir, ich glaub's ja! Ich habe nichts dawider. Wenn er mir vorher ein gutes Wort gegönnt hätte, wäre ihm schon längst geholfen, aber der Bob ist ein Eisenkopf und ein Brausewind! Auf, Bob! Auf, Will! ich werde mit Hand anlegen!«

Die Knaben erhoben sich langsam und gingen wieder an ihre Arbeit. Der Vater schob hinten an der einen Seite des großen Korbes, ich an der anderen, und so ging es leicht und rasch vorwärts. Nach einer Weile aber wurde der Weg wieder etwas abschüssig, der Wagen rollte fast von selbst und unsere Hilfe war nicht mehr nötig.

Der Vater winkte mir, einige Schritte zurückzubleiben, und sagte dann in leisem Tone:

»Glauben Sie nicht, Sir, daß ich zuviel von meinen Knaben verlange. Ich habe das Einsehen, daß sie über ihre Kräfte nichts leisten können, aber die Umstände brachten es diesmal so mit sich; ich habe es auch schon überlegt, daß ein Paar tüchtige Doggen schneller und dauerhafter sind als diese Kinder. Überdies sehe ich ein, daß es zu ihrem eigenen Besten ist, wenn sie eine regelmäßige Schule besuchen; ich habe sie aber lange Zeit nicht bei mir gehabt und konnte es nicht über mein Herz bringen, mich sogleich wieder von ihnen zu trennen. Trennung tut weh. Wenn sie aber einmal bei mir sind und es sich gerade so fügt, so müssen sie etwas zu tun haben. Der Junge, der Bob, schlägt sonst über die Stränge, und da habe ich ihm denn diesmal die Arbeit eines Zugpferdes bestimmt. Übrigens ist es das erste Mal, und ungewohnte Arbeit ist saure Arbeit! Den Karren habe ich erst gestern gekauft, bisher trug ich meine paar Siebensachen selber auf dem Rücken; da haben Sie meine Bekenntnisse.«

»Ihr habt Recht, die Kinder zu schonen und sie etwas lernen zu lassen; sie scheinen mir Beide Anlagen zu haben, und es wäre schade, wenn auf Kosten ihres Geistes ihr Leib allein angestrengt würde.«

»Das ist auch meine Meinung, Sir! Und so ist es denn jetzt bestimmt, sie sollen in die Schule, ich habe schon meine Gedanken darüber; aber, sehen Sie den schönen Abend, und da kommt der Mond schon langsam hervor, wir haben heute Vollmond, denke ich!«

Wir blieben einen Augenblick stehen und betrachteten stillschweigend die Gegend, die sich bei der abendlichen Beleuchtung in der Tat höchst malerisch ausnahm. Die Luft war milde und erquickend gegen den so heiß gewesenen Tag.

»Halt!« rief der Vater seinen Söhnen zu. »Halt! setzt euch ein wenig und sehet den schönen Vollmond heraufsteigen.«

Wir gingen langsam vorwärts und hatten die Knaben bald wieder eingeholt.

»Sir!« fing der Vater an, als wir auf dem grünen Rasenteppich saßen und nach dem langsam sich hebenden Feuerball voller Spannung und Bewunderung emporblickten, »Sie haben mir gesagt, Sie gingen nach St. James. Darf ich wissen, welches Geschäft sie da haben? Sie verzeihen meine offenherzige Frage, aber ich denke, weil ich selbst keine Gründe habe, meinen Beruf zu verschweigen, ergehe es Anderen ebenso.«

Diese Worte wurden gutmütig und treuherzig vorgebracht, daß ich sie gar nicht übel deuten konnte, obwohl sie eine große Neugierde verrieten, und ich erwiderte daher:

»Nun wohl, da Ihr offenherzig zu sein Euch rühmt, so macht den Anfang und erzählt mir Euer Vorhaben und nennt mir Euren Namen, dann will ich gegen Euch ein Gleiches tun.«

»Das ist sehr einfach, Sir, und bald gesagt. Ich bin, wie Sie sehen, zur Zeit ein Krämer und heiße Phillipps. St. James ist einer der vielen Orte, wo ich einen Handel zu machen gedenke, denn ich habe die Erlaubnis, von Zeit zu Zeit daselbst einzusprechen.«

»So will ich denn ebenso kurz sein wie Ihr«, entgegnete ich. »Ich bin Arzt. Ich reise zu meinem Vergnügen und zu meiner Belehrung und besuche deshalb alle Irrenhäuser, wo ich sie finde, denn ich habe, was man in der Welt eine »Passion« nennt, für die armen Kranken darin. St. James aber ist eins der berühmtesten der Art, und ich denke, daselbst vortreffliche Studien zu machen.«

Ich blickte verwundert den Mann an, zu dem ich diese Worte sprach; er hing mit offenem Munde an meinen Lippen und sein Auge flog mit einem auffallenden, halb überraschten, halb zufriedenen Blick über mein Gesicht. Als ich zu Ende war, stieß er sein einsilbiges, diesmal ungemein melancholisch klingendes Hm! hervor.

»Was findet Ihr dabei, Ihr scheint Euch zu wundern?«

»Wundern, Sir? Warum das? Wo es leider Verrückte gibt, muß es auch, Gott sei Dank! Ärzte geben, die sie zu heilen versuchen; es muß aber eine schwere Aufgabe sein, obwohl höchst interessant. Hm.«

»Gewiß höchst interessant, und belehrend obendrein!«

»Und es ist auch ein gutes Werk, Sir, solchen Unglücklichen den verlorenen Verstand wieder zu verschaffen.«

»Gewiß!« sagte ich; »aber gehen wir wieder weiter, sonst kommen wir zu spät an.«

Und wir brachen alsbald wieder auf. Wir waren aber noch keine hundert Schritte gegangen, als Mr. Phillipps wieder das Wort nahm:

»Soviel ich weiß«, sagte er, »gibt es sehr viele belehrende Fälle da unten, Sie werden da auch den – den Irren von St. James kennenlernen, denke ich.«

Diese Worte, ziemlich unbefangen an sich, wurden doch mit einem gewissen Nachdruck vorgebracht und schienen mir etwas, um mich so auszudrücken, lauernd gesprochen zu sein.

»Den Irren von St. James?« fragte ich. »Wer ist das?«

»Ein Verrückter, Sir, ohne Zweifel, wie es deren viele in dem Hause gibt – was weiß ich!«

»Aber Ihr nennt ihn den Irren von St. James, warum wird er so genannt? Es muß doch seine Bewandtnis haben, gerade ihn den Irren von St. James zu nennen, da es doch daselbst der Irren viele gibt.«

»Nun, Sir! Das werden Sie ja selbst sehen, wenn Sie ihn kennen lernen. Ich für meine Person, der ich darüber nur eine untergeordnete Meinung habe, denke, man nennt ihn so, weil er ein ganz eigentümlicher, gebildeter und oft ganz vernünftiger Mann ist, der nur bisweilen seine tollen Anfälle hat, und weil so ein gewisses, geheimnisvolles Dunkel um ihn schwebt, doch lassen Sie es gut sein; wenn Sie sich aber, nachdem Sie ihn gesehen haben, vielleicht für ihn interessieren sollten, und das dürfte leicht möglich sein, so könnte es ganz gut für ihn sein.«

»Wieso gut für ihn?«

»Nun, lassen wir das, lassen wir das, Sir! Sagen Sie mir lieber, wo Sie Ihr Englisch gelernt haben; Sie sprechen es sehr gut, und doch höre ich, daß Sie kein Engländer sind.«

»Ihr seid auch keiner, mein lieber Mr. Phillipps!« sagte ich lächelnd.

Der Mann sah mich aufmerksam von der Seite an, dann lächelte er ebenfalls und erwiderte:

»Sie haben ein gutes Ohr, ich hätte es nicht gedacht, denn ich spreche für einen Schotten ein ziemlich reines Englisch; ja, ich gestehe es, ich bin eigentlich ein Schotte, oder vielmehr nur ein halber, denn meine Mutter war so gut englisch wie die Mutter dieser Knaben, aber mein Vater«, setzte er mit einem gewissen Stolz hinzu, »war echt schottisch, und das konnten Sie mir eigentlich gleich ansehen.«

»Das habe ich auch mehr gesehen als ich es gehört habe, mein Freund«, erwiderte ich. »Ihr habt eine echt schottische Physiognomie, aber ich will ebenso offenherzig sein wie Ihr, ich bin ein Deutscher von Geburt.«

»Ah!« rief der Mann, »habe ich es mir doch gedacht!« und er betrachtete mich zu meiner Verwunderung noch einmal so freundlich wie vorher.

»Nun, ist es etwas so Seltenes, einen Deutschen in England reisen zu sehen?«

»Nein, durchaus nicht, aber es freut mich, Sir, es freut mich sehr, und ihn wird es noch mehr freuen!« setzte er halblaut und mit eigentümlich weichem Tone hinzu.

»Welchen ihn?« fragte ich.

»Nun, nun, warten Sie die Zeit ab, ich will damit nur sagen, daß ich auch einige Jahre in Deutschland war und daß ich auch etwas von Ihrer schweren Sprache verstehe, ich bin mit meinem früheren Herrn dagewesen, ja, Sir, so ist es!«

»Ei, das ist mir ja ganz außerordentlich lieb!« rief ich aus und bot ihm die Hand, die er kräftig schüttelte. »Ihr glaubt nicht, wie gern man in fremden Ländern seine Muttersprache hört, und wenn es Euch recht ist, unterhalten wir uns jetzt Deutsch.«

»Ich bin dabei!« rief der Krämer Phillipps auf Deutsch aus, das er, wie ich in der Folge der Unterhaltung sah, ziemlich geläufig, obwohl mitunter falsch sprach, und nun unterhielten wir uns von Deutschland, und konnten nicht müde werden, mein schönes, stilles Vaterland zu loben und uns unseres Zusammentreffens zu freuen.

Das Gespräch wurde durch Bob unterbrochen, der jetzt im Ernst klagte, daß er und Will vollends müde seien.

»Noch eine halbe Stunde, mein Junge!« sagte der Vater; »und wenn du sie ohne Murren erträgst, so ist dir ein halber Schilling gewiß.«

»Das ist sehr gut!« erwiderte Bob mit einem eigentümlich zweifelhaften Kopfschütteln. »Wenn ich ihn nur erst hätte!«

»Damit du deinen Lohn sicher hast, Bob«, sagte ich, »so hast du von mir hier für's Erste einen ganzen Schilling, und du, kleiner Will, nimm auch einen.«

»Danke, Sir!« sagten Will und Bob zugleich. »Ich werde es Ihnen einst eingedenk sein!« fügte aber Letzterer hinzu.

»Was führt der alberne Junge für närrische Reden!« rief der Vater. »Halten Sie es ihm zugute, Sir, er ist ein Naseweis und Wildfang!«

»Sei doch still, Bob, und fass' tüchtig an, wir sind ja bald da!« flüsterte Will leise.

Wir beiden Erwachsenen halfen jetzt noch einmal den Wagen vorwärtsschieben, denn es ging bergan. Nach einigen Minuten hatten wir den Gipfel der Anhöhe erreicht und befanden uns jetzt auf der Landstraße, die mit Pappeln eingefaßt war. Jetzt ging der Mond helleuchtend auf, wir standen still und sahen vor uns in eine offene, lachende, vom sanften Mondlicht lieblich beleuchtete Gegend.

Ungefähr eine gute Büchsenschußweite vor uns, wenigstens schien es mir so nahe zu sein, lag in der Mitte eines weiten Kessels, zum Teil hinter großen Baumgruppen verborgen, ein ungewöhnlich langes und hohes Gebäude, dessen helle Farbe bei dem jetzigen Abendlichte dem Beschauer beinahe glänzend entgegentrat. Seine drei deutlich zu unterscheidenden Stockwerke waren, soweit man die Fenster durch die Schatten der Bäume erblicken konnte, sämtlich und gleichmäßig hell erleuchtet, was einen überaus freundlichen Anblick in dieser stillen Abendlandschaft gewährte. Vor dem Gebäude lehnte sich an die vor uns liegende Wand dieses großen Kessels ein weiter, mit vielen Bäumen und Buschwerk besetzter Raum, der mir eine parkartige Einrichtung zu verraten schien; wenigstens kam es mir vor, als wenn ich in dem unbestimmten glitzernden Mondlicht mit hellem Kiessande beworfene Wege und hie und da zerstreut liegende, weiß angestrichene Ruhesitze wahrnähme. Rings um diesen Park herum lief eine hohe steinerne Mauer, an welcher sich in ziemlich gleichmäßiger Entfernung voneinander kleine Häuserchen oder vielmehr Türmchen befanden, aus deren runden Fenstern hier und da ein schwacher Lichtschein hervorbrach. Auch konnte man, obwohl nur sehr undeutlich, einen Graben hinter der Mauer unterscheiden, der mit Wasser angefüllt war, über welchen bei jedem Türmchen eine kleine, hölzerne Brücke führte.

Das Ganze hatte somit das Ansehen einer Festung, welche absichtliche Einrichtung durch spätere Wahrnehmung noch deutlicher hervortreten sollte.

Alles dieses bemerkte ich jedoch nicht im ersten Augenblick meines Hinschauens, denn das auffallende Benehmen meiner Begleiter, besonders des älteren, lenkte meine ganze Aufmerksamkeit zunächst auf diese hin.

Wir waren nämlich auf der höchsten Spitze des Berges angelangt, von wo aus man das erleuchtete Gebäude zuerst wahrnehmen konnte, als er in einem aus Freude und Trauer gemischten Tone ausrief:

»Ach! da ist es ja, das alte St. James!«

Dann aber seinen Söhnen einen leisen Wink gebend, den diese sogleich verstanden und befolgten, nahmen sie alle drei ihre kleinen Mützen ab und, in tiefem Stillschweigen verharrend, das Auge vorwärts gewendet, schienen sie ein kurzes Gebet zu verrichten.

Als ihr Gebet beendet war, schlug der Vater seine Arme ineinander, stützte sein Kinn auf seine etwas erhobene rechte Hand, und ich sah, wie er mit ungeheuchelter Traurigkeit und Rührung schweigend auf das vor uns liegende Gebäude hinabschaute. Nachdem er sein Auge einige Minuten lang an dem Anblick desselben gesättigt hatte, ließ er die Hand sinken, ein tiefer Seufzer entquoll seiner Brust und kaum hörbar für mich murmelte er die Worte:

»Da bin ich einmal wieder bei ihm, Gott gebe, daß es bald das letzte Mal sei!«

»Habt Ihr einen Verwandten oder einen Freund in dem Hause, Mr. Phillipps?« fragte ich teilnehmend.

»Einen Verwandten? Nein!« erwiderte er und schüttelte traurig seinen Kopf, »aber einen Freund, einen Freund, ja, mag sein, ich bin ja hier sein einziger Freund, ja, ja, den hab ich dort, Sir!«

»Und ist er unter den Kranken oder unter den Gesunden?«

Hier vernahm ich wieder das bedeutsame Hm! welches er jedesmal auszustoßen schien, wenn ich eine bestimmte Antwort auf meine Frage erwartete. Doch setzte er diesmal, obwohl etwas zögernd und mit unsicherem Tone, hinzu:

»Ohne Zweifel befindet sich der, den ich meine, unter der Zahl der Kranken.«

»So habt Ihr auch wohl vorhin für sein Wohl gebetet?«

»Gewiß, Sir, indessen, wenn das auch nicht wäre, ich bitte jedesmal Gott, wenn ich dies traurige Haus sehe und mich eine ungewöhnliche Rührung ergreift, mir meinen und der Meinigen Verstand zu erhalten, denn Sir, glauben Sie mir, es gibt nichts Unglückseligeres, als – als – verrückt zu sein. Und nun, Jungen«, rief er plötzlich laut, als erwache er aus einem unfreiwilligen Traume, »nehmt die Deichsel und marsch vorwärts.«

Wir schritten alle Vier rüstig den Abhang auf der Landstraße hinab, und es dauerte nicht lange, so kamen wir an die erste der hölzernen Brücken, die über den ziemlich breiten und mit Wasser angefüllten Graben führte und mit einem starken und hohen Gitter, wie man es an einem Stadttore findet, verschlossen war.

»Das ist ja ganz festungsartig hier!« sagte ich.

»Warten Sie nur ein klein wenig, das wird noch besser kommen; jetzt folgen noch zwei Brücken und dann erst kommt die zwanzig Fuß hohe Mauer, mit ihren spitzen Widerhaken höchst künstlich verziert.«

»Diese starke Befestigung«, erwiderte ich, »setzt eine Besorgnis voraus, die mir nicht ganz klar ist.«

»Haha! Ist das nicht klar genug, Sir? Man fürchtet die Entweichung. Seitdem aber die Brücken und die Mauer und die vielen Wärter und Aufseher, die wie Spürhunde auf jeden Schritt und jedes Wort passen, und alle diese Teufeleien im Schwunge sind, kann kein Mensch unbemerkt heraus und hinein. Nun, was das Hinein betrifft, freilich, das hat gute Wege, aber das Heraus, Sir, das ist ein übler Umstand. Haha!«

»Aber ich dächte, so viele Vorkehrungen wären kaum nötig, um Wahnsinnige zurückzuhalten; sie sind doch keine Gefangenen.«

»O ja, doch, Sir! Wir sind in St. James, müssen Sie bedenken. Hier gibt es an die fünfhundert mehr oder minder Wahnsinnige, und diese Herren und Damen wollen behütet sein. Und denken Sie nur, wie viele reiche Leute darunter sind und welche schöne Summe jährlich für sie gezahlt wird, es kostet Geld, mit Anstand verrückt zu sein, ach! und dies Geld verliert man nicht gern. So mancher Springinsfeld von Gentleman würde sich trotz ihrer Höhe und trotz der Wachsamkeit der Aufseher doch auf die Mauer begeben und sich in Gottes freier Welt ein wenig umschauen wollen, wenn die allerliebste Verzierung mit den kleinen, spitzen Stacheln nicht wäre.« Und er ließ wieder sein bitteres Haha! hören, das mehr wie eine verhaltene Anklage als eine offene Ironie klang. – »Aber, heda! alter Brummbär, sollen wir denn ewig vor deinem Gitter stehen?« rief er laut und warf etwas unsanft einen Stein an ein Fenster des Türmchens, worin der Wärter wohnte, vor dessen verschlossenem Eingange wir schon eine Weile standen.

Eine in der Tat brummende Stimme ließ sich aus dem Innern des Hauses vernehmen, und gleich darauf trat ein bejahrter Mann, in einen Pelz gehüllt, heraus, um zu fragen, wer da sei.

»Ich bin's, Phillipps, der Krämer, mein Junge, und habe Tabak mitgebracht, einen Schilling das Pfund, wie du ihn längst gewünscht hast, morgen kannst du ihn kosten, he?«

»Das ist brav, Mr. Phillipps, aber was zum Teufel habt Ihr denn da für ein Gespann von jungen Eseln mit der seltsamen Korbtakelage?«

»Das kannst du dir auch bei Tag besehen, Dick, die jungen Füllen sind meine Söhne und in dem Korbe sind meine Waren, und hier ein Gentleman, ein Besucher, glaube ich, nicht, Sir?«

»Jawohl, jawohl, Mr. Phillipps!« sagte ich, »und ich will zum Besuche beim Herrn Direktor, mein werter Dick«, fügte ich, zu diesem gewandt, hinzu.

»Sie können alle passieren, Gentlemen!« erwiderte der Mann im Pelze und schloß, als wir sein Gitter überschritten hatten, hinter uns wieder zu.

»Sie taten Recht, daß Sie sagten, mein werter Dick«, flüsterte Mr. Phillipps, »man kann nicht wissen, wie man diese Leute künftig einmal gebraucht; ein freundliches Wort zu sprechen macht so wenig Mühe und trägt oft hohe Zinsen. Hollah! aufgemacht, Vetter Jenkins! ich bin's, Phillipps, der Krämer!«

Abermals schloß uns ein Mann das Tor auf, und wir wurden mit denselben Zeremonien eingelassen. Auf ähnliche Weise kamen wir durch ein drittes Gitter und befanden uns nun endlich innerhalb der großen Mauer, die den Park von St. James umschloß, der hinter dem Hause lag, welches uns bis jetzt seine Rückseite zugekehrt hatte.

Hier ließ Phillipps seine Söhne mit dem Wagen stehen, indem er ihnen den Bescheid gab, auf seine Wiederkehr zu warten, die sogleich erfolgen sollte, sobald er mich zum Direktor geführt haben würde. Wir durchschritten jetzt Beide den weitläufigen Park und kamen endlich an das große Hintertor des Hauses, welches ebenfalls verschlossen und von einem eigenen Schließer beaufsichtigt war. Hier erfuhren wir, daß der Direktor der Anstalt mit seiner Familie und einigen Beamten im Garten, der vor dem Hause gelegen war, beim Abendessen sei. Das Vordertor, gleichfalls verschlossen, ward uns von dem Oberportier geöffnet, und wir traten nun in einen, soviel ich sehen konnte, sehr wohl unterhaltenen und mit Blumenbeeten und schönen Staudengewächsen verzierten Garten, aus dessen einem Laubgange wir die Stimmen einer munteren Gesellschaft vernahmen, die in einem höchst heiteren Geplauder begriffen zu sein schien.

»Das klingt ganz gut für ein Irrenhaus«, dachte ich, als Phillipps zu der Gesellschaft getreten war und den Direktor einen Augenblick hervorzukommen bat, wozu wir uns hatten entschließen müssen, da im Augenblick kein anderer Diener in der Nähe war. Der Gerufene erschien sogleich und trat nach einigen Worten des Krämers schnell auf mich zu, worauf ich mich ihm vorstellte und zugleich erklärte, wie ich auf meiner Reise Phillipps begegnet und von diesem in den Bereich seines Gebietes eingeführt worden sei.

Der Direktor, Mr. Elliotson, ein hochgewachsener und wohlbeleibter Mann, der noch nicht fünfundvierzig Jahre zählen konnte, erfreute sich sehr einnehmender Gesichtszüge und eines gefälligen, obschon etwas vornehmen Wesens, welches seiner Erscheinung eine gewisse Würde verlieh. Er drückte mir herzlich die Hand, als ich ihm meinen Namen genannt und die mir aufgetragenen Grüße ausgerichtet hatte Dabei gab er mir die Versicherung, daß er mich mit Freuden schon lange erwartet und zu dem Ende eine Wohnung habe einrichten lassen. Er ließ mir die Wahl, ob ich mich schon jetzt dahin zurückziehen oder an der Gesellschaft im Garten teilnehmen wolle, wo er mich sogleich seiner Familie und einigen Beamten des Hauses vorstellen könne.

Ich wählte das Letztere, und so ward ich denn in eine große Geisblattlaube geführt, die durch mehrere Lampen erleuchtet war und in der ich eine ziemlich zahlreiche Gesellschaft bei dem Nachtisch eines guten kalten englischen Abendessens versammelt fand.

Unsere Ankunft und die von Seiten Mr. Elliotsons erfolgende Vorstellung meiner geringen Person unterbrach sogleich ihre lebhafte Unterhaltung, und sie waren artig genug, ihre Aufmerksamkeit von dem Gegenstande, der sie beschäftigt hatte, ab und auf mich zu wenden.

Ich fand hier die Gattin des Direktors und seine Kinder, einige Beamte des Hauses mit ihren Familien, die beiden unverehelichten Ärzte und den Prediger. Auch waren noch einige unverheiratete Personen beiderlei Geschlechts zugegen, und namentlich zeichneten sich die Damen durch eine geschmackvolle Toilette und ein freundliches Entgegenkommen vorteilhaft aus, so daß die ganze Versammlung mit ihrem ungezwungenen, vertraulichen Wesen mir bald offenbarte, wie man auch in einem Irrenhause ganz harmlos und behaglich in guter Gesellschaft leben könne.

Nachdem ich einen Imbiß genommen, wandte sich das Gespräch auf die Gegenden, aus denen ich herkam, auf die Hochlande, auf meine früheren Reisen und von da höchst freundlich auf mein gutes, ehrliches Deutschland, das ich so innig liebe.

Ich sprach, wie es mir immer geht, wenn ich warm werde und der Gegenstand mein Herz beschäftigt, mit Eifer und Lebhaftigkeit, und man hörte mir, wie es schien, aufmerksam zu. Unter allen Zuhörern bemerkte ich einen, der mir vom ersten Augenblick an aufgefallen war und der in bescheidener Entfernung von der übrigen Gesellschaft, bald stehend, bald sitzend, einen lebhaften Anteil an dem Gespräch nahm, indem er kein Auge von mir verwandte und mit seinen Blicken, wie gefesselt, an meinen Lippen hing.

Der noch junge Mann, der alle Eigenschaften männlicher Schönheit auf seinem Gesichte trug, saß mir schräg gegenüber, etwas seitwärts von der übrigen Gesellschaft. Die vom Lampenlicht herrührende und nicht ganz vorteilhafte matte Beleuchtung hinderte mich, seine einzelnen Züge genauer zu studieren; was ich aber sah, befriedigte mich nicht allein, sondern forderte mich zu einer umständlicheren Forschung auf.

Er war groß, mehr schlank als stark, aber in wunderschönen Verhältnissen gebaut. Sein blasses, scheinbar etwas leidendes Gesicht, seine hohe, edle, Nachdenken verratende Stirn, sein glänzend schwarzes Haupthaar, vor allem aber sein blitzendes, tiefes und intellektuelles Auge erweckten sogleich in mir das Verlangen, in näheren Verkehr mit ihm zu treten und den Geist, der in diese schöne Hülle gekleidet war, genauer kennenzulernen. Er hatte mich vom ersten Augenblick meines Eintretens an unaufhörlich, beinahe auffallend betrachtet und meinen Erzählungen eine ungeteilte Aufmerksamkeit geschenkt. Als ich von Deutschland sprach, nickte er mir einige Male beifällig zu, als wenn er mir sein Einverständnis dadurch anzeigen wolle, so daß ich bei mehrfacher Gelegenheit meine Worte ausdrücklich an ihn allein richtete.

Nichtsdestoweniger aber antwortete oder sprach er nie, und doch drückte seine Miene den Anteil aus, den sein Inneres an der Unterhaltung nahm.

Soweit ich an diesem Abend bemerken konnte, war er eigentümlich gekleidet, denn er trug ein kurzes schwarzseidenes Jäckchen ohne Schöße; ein feines batistenes Hemd, um dessen Kragen ein buntseidenes Tuch nachlässig geschlungen war, bedeckte seine breite Brust und ließ so den männlich kräftigen Hals wahrnehmen, der auf den starken Schultern so vornehm stolz getragen wurde. Seine kleinen weißen aristokratischen Hände umgab ebenfalls ein schmaler Batiststreifen; den unteren Teil seiner Kleidung konnte ich nicht genauer betrachten, doch war sie auch von dunkler Farbe.

Bald wurde das Gespräch wieder geteilt, man sprach in Gruppen geschieden über mannigfaltige Gegenstände, bis endlich der Ablauf der zehnten Abendstunde der Unterhaltung ein Ende machte und der Direktor sich freundlich erbot, mich auf mein Zimmer zu führen, das, im untersten Stockwerk gelegen, mich, den Müden, wie er sagte, mit allen wünschenswerten Bequemlichkeiten erwartete.

Ich verabschiedete mich und stieg mit Mr. Elliotson ein paar Stufen in dem Hauptgebäude empor und befand mich bald in einem freundlichen Zimmer, welches die Aussicht nach dem Garten darbot, den wir soeben verlassen hatten.

»Wenn Sie nun noch ein Bedürfnis haben, mein lieber Doktor«, sagte mein Begleiter, »so ziehen Sie diese Schelle, man wird jeden Ihrer Wünsche möglichst bald erfüllen.«

Ich dankte verbindlichst und Mr. Elliotson wollte sich schon entfernen, als mir noch etwas einfiel.

»Noch ein Wort, mein bester Mr. Elliotson!« sagte ich. »Wer ist der junge schöne Mann in dem schwarzen Anzuge, mit der hohen Stirn und der Adlernase?«

»Aha! gefällt Ihnen der? Das glaube ich wohl, nun, das ist Mr. Sidney, einer unserer Pfleglinge, in der Nachbarschaft und von den Bewohnern unseres Hauses gewöhnlich der ›Irre von St. James‹ genannt.«

»Was!« rief ich, »es ist ein Wahnsinniger?«

»So ist es, lieber Doktor! – Und nun schlafen Sie wohl, eine gute Nacht und angenehme Träume!«

Er ging und ließ mich über diesen seinen unerwarteten Ausspruch in tiefes Sinnen versunken zurück.

Das war also der Irre von St. James! Gerechter Gott! so jung, so schön und wahnsinnig!

Hier fiel mir, ich weiß nicht durch welche Ideenverbindung hervorgerufen, plötzlich und unwillkürlich das sonderbare Hm! meines ehrlichen Krämers wieder ein. Ich konnte nicht unterlassen, ein ebenso geheimnisvolles, einsilbiges Hm! auszustoßen und über das schreckliche Schicksal dieses Menschen nachzudenken, der, mit allen Gaben seines Schöpfers verschwenderisch ausgestattet, der höchsten, unentbehrlichsten Gabe ermangelte, des gesunden, zum Leben voller Selbstbewußtsein unerläßlich notwendigen ungetrübten Verstandes.


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