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19. Kapitel

»Werfen Sie das Senkblei – tief – immer tiefer, und wenn Sie keinen Grund finden sollten, bin ich auch noch da!« Dieser sehr bezeichnende Ausdruck des berühmten Arztes, der höchstwahrscheinlich die Gemütsbeschaffenheit seines alten Patienten ahnungsvoll voraussah, ging mir beständig während meiner kurzen Fahrt nach Seymour-Castle im Kopfe herum, so daß ich gar nicht davon loskommen konnte.

»Ich werde es werfen!« sagte ich zu mir selbst, »werfen in die tiefste Tiefe seiner Brust, in den verborgensten Winkel seiner dunklen Seele, und da ich schon im Voraus die entsetzliche Bodenlosigkeit seiner geheimsten Gedanken kenne, so werde ich mich schon vorsehen, sie zu erreichen. Sir John hat diesmal nur einen Verdacht, ich aber habe die Gewißheit vor mir. Mag sein, daß ihm, dem erfahrenen Manne und dem Meister menschlicher Herzen, dieser Verdacht hinreichend ist und daß er bald die Gewißheit, deren er bedarf, damit gefunden hätte; ich aber besitze den Schlüssel zu der Tür seines innersten Herzens und werde damit in das verborgene Heiligtum seiner Gedanken dringen und mich daselbst einnisten, bis ich Alles daraus vertrieben habe, was der guten Tat, die ich mir vorgesetzt, im Wege ist. Vor allen Dingen aber muß ich, ehe ich den wunden Fleck mit meiner Sonde berühre und das ausschälende Messer ansetze, sein Vertrauen gewinnen, ohne dies geht es nicht und er entschlüpft mir wie ein gewandter Aal.

Wenn mir das gelingt und er einsieht, daß ich mit Eifer und Wärme zu Werke gehe, und er mir dann noch nicht mit seinem Vertrauen entgegenkommt, dann ist es Zeit, daß ich die Siegel seiner Erinnerungen löse, dann sei mein Verfahren behutsam, sicher, milde und schonend, aber nachdrücklich und ernst.

Und hilft mir auch das noch nichts, und ich finde in ihm, was ich nicht finden möchte: einen verstockten und mit kaltem Vorbedacht handelnden Sünder – dann breche ich mit Gewalt die Eisrinde seines Herzens, und meine Schuld ist es nicht, wenn ich, anstatt seines Trösters, sein Dämon werde. Denn hier ist nicht die Krankheit allein zu beseitigen, die ihn verzehrt, hier muß ich alles Gift vertilgen, was aus ihm ausgeflossen ist und das Leben so vieler Menschen traurig und elend gemacht hat. Mut, Percy! Mut, Ellinor! Mut, Mr. Graham! jetzt bin ich euer Advokat, den Gott sendet, jetzt schlägt eure Stunde und meine Stunde – doch Gott wolle es wenden, daß ich barmherzig sein kann!«

So noch mit meinen Plänen und mit der Art und Weise meines Benehmens beschäftigt, fuhr mich der Wagen rasch über das Feld und hielt schon vor dem Herrenhause des Landsitzes des Marquis von Seymour, ehe ich mit meinen Beschlüssen zu Ende war.

Noch bevor ich Zeit hatte, mich aus meiner nachdenklichen Stellung zu erheben, sprangen einige Diener, unter ihnen der Haushofmeister, an den Schlag, denn sie mochten die Equipage Sir Johns erkannt haben, und waren mir beim Aussteigen behilflich.

Die Vorderseite des alten, aber ziemlich wohlerhaltenen Prachtgebäudes von Seymour-Castle lag vor mir. Sie sah in eine lachende, grüne, weit geöffnete Gegend, während die Hinterseite ein dichter, dumpfer und einsamer Tannenwald begrenzte.

»Sie kommen von Sir John ...?« redete mich der Haushofmeister mit einer Verbeugung an, »nicht wahr, Sir? Ach, Sir, wir haben Sie sehnlichst erwartet!«

»Ich komme von ihm, da er selbst leidend ist – und wer hat mich sehnlichst erwartet?«

»Mylord Seymour, Sir Mortimer und wir Alle, denn es tut Not!« setzte er flüsternd hinzu. »Sie erlauben doch, daß ich Ihre Sachen auf Ihr Zimmer tragen lasse, da Sie hoffentlich hier bleiben, Sir?«

»Ich denke!« erwiderte ich und schritt die steinernen Stufen in die Vorhalle hinauf, während sogleich einer der Diener mit meinem Gepäck uns voranschritt und der Wagen Sir Johns auf mein Geheiß nach London zurückfuhr.

Wir traten in das Haus – alle Gänge, Treppen und Zimmer waren mit dickem, grünem Fries bedeckt, so daß kein Fußtritt gehört werden konnte. Alle Türen öffneten und schlossen sich lautlos, keinen Menschen hörte man sprechen, eine durch nichts unterbrochene, unheimliche Stille herrschte in dem ganzen Hause, als wäre dasselbe ein Grab oder die Ruhestätte eines schlafengegangenen Tyrannen, vor dem jeder Laut verstummt und jedes Lebenszeichen erlischt.

Der Haushofmeister führte mich schweigend in ein Gemach, welches im ersten Stockwerk lag, durch dessen Fenster man nichts als den traurigen, düsteren Kiefernwald sah. Als mein Führer mit mir eingetreten war, schloß er vorsichtig hinter sich die Tür sowie die offenstehenden Fenster und setzte mir einen Sessel hin.

»Es tut mir außerordentlich leid«, fing er an, »daß Sir Mortimer gerade jetzt nicht zu Hause ist; er wollte so gern den erwarteten Arzt sprechen, ehe er sich zu Seiner Herrlichkeit begäbe.«

»Und wo ist Sir Mortimer?«

»Auf der Jagd, Sir, mit einigen Freunden aus der Nachbarschaft!« sagte der Mann mit einer traurigen Miene, indem er einen nachdenklichen Blick durch die Scheiben in den finsteren Wald warf.

»Auf der Jagd? So! Sir Mortimer jagt wohl viel?«

»Je nun, Sir, wir sind erst einige Tage hier und es ist sein Lieblingsvergnügen. Auch bedarf er vielleicht der Erholung, denn Mylord ängstigt ihn, wie uns Alle.«

Diese Worte sprach der ältliche, stille Mann mit einigem Rückhalt aus, wie mir schien.

»Er ängstigt ihn? Womit denn? Ich dächte, wenn er so ernstlich krank ist, müßte er ihn mehr besorgt machen als ängstigen?«

»Nein, Sir, – doch ja, das wohl auch! Aber das ist eben die sonderbare Krankheit Seiner Herrlichkeit, daß er Alles, was ihn umgibt, in Bewegung und Furcht versetzt. Er selbst hat keine Ruhe, weder bei Tag noch bei Nacht, und da dürfen wir auch keine haben; und weil er vor jedem Geräusch erschrickt und eine unbezwingbare Furcht hat, so müssen wir uns demnach ganz still verhalten.

»Wovor fürchtet er sich denn?«

»Ja, Sir, das weiß ich nicht. Wir wechseln alle Nächte in der Wache bei ihm ab, und der, den die Reihe trifft, muß bei ihm schlafen oder munter sein, wie er nun selbst schläft oder munter ist. Sie sollten das hören, wie er alle Augenblicke fragt, ob man bei ihm und wach sei und ob man nichts gehört oder gesehen habe? Anfangs hat Sir Mortimer nur allein bei ihm sein wollen, aber er konnte es auf die Dauer nicht aushalten, da Mylord stets etwas sieht und hört, was – was ihn außer Fassung bringt.«

»Was sieht und hört er denn? Sprechen Sie deutlich!«

»Je nun! Gespenster, glaube ich! Es ist ein schrecklicher Zustand, Sir, Sie sollten nur dabeisein.«

»Ich glaube es wohl. Und wie lange dauert das schon?«

»O – wann es eigentlich anfing, weiß ich nicht recht – aber es ist schon ziemlich lange her, wohl über ein Jahr.«

»Und wie fing es an?«

»Ganz allmählich, man merkte es kaum. Anfangs wechselte Seine Herrlichkeit oft den Aufenthaltsort, dann das Zimmer, die Bedienung, das Bett. Er hatte eine entsetzliche Unruhe und war mit nichts zufrieden. Dann fing er an, sich zu fürchten, besonders vor dem Tode oder vor fremden Menschen, und er ließ Niemanden mehr vor sich, bis er denn endlich so wurde wie er jetzt ist.«

Der alte Mann war ganz blaß geworden, während er mir dies erzählte.

»War Sir Mortimer immer um ihn?« fragte ich weiter.

»Ja, Sir, und – unter uns gesagt – Seine Herrlichkeit hat es mir in einer Nacht anvertraut, als er sehr ängstlich war – vor ihm fürchtet er sich am Meisten.«

»So! und wissen Sie von diesen Vorgängen keinen wahrscheinlichen Grund?«

Der Mann zuckte die Achseln und sagte stotternd und zögernd:

»Nein, Sir, nein! Wenigstens keinen triftigen. Aber das ist es eben, glaube ich, was Sir Mortimer vorher mit Ihnen besprechen wollte.«

»Wann kommt Sir Mortimer zurück?«

»Um drei oder vier Uhr, denke ich.«

»Jetzt ist es halb Zwei – also noch etwa zwei oder drei Stunden – das ist zu lange. Ich möchte wohl Seine Herrlichkeit sehen – auch kann ich ja nachher noch mit Sir Mortimer sprechen.«

»Das ist auch wahr – doch bitte ich Sie, Sir Mortimer zu sagen, wenn er zurückkommt, daß es Ihr alleiniger, ausdrücklicher Wunsch war, zu Seiner Herrlichkeit zu gehen.«

»Verlassen Sie sich darauf, ich werde es ihm gewiß sagen.«

»Nun gut, so werde ich fragen lassen, ob er Sie empfangen will.«

Der Mann ging hinaus und ließ mich ein paar Minuten allein.

»Der Wind bläst aus einer anderen Richtung, als ich dachte«, sagte ich zu mir; »er bläst mir nicht ganz entgegen – ich werde gut lavieren können. Es wird leichter gehen, als ich es für möglich hielt. Es hat mir ein Anderer schon vorgearbeitet. Gut!«

Der Haushofmeister kehrte zurück und zeigte mir an, daß Mylord einwillige, mich sogleich vor sich zu lassen.

Wir stiegen eine Treppe hinauf, denn das Zimmer des Kranken lag gerade über dem meinigen mit der ebenfalls unerfreulichen Aussicht auf den trüben, einsamen Wald.

Obgleich meine Ankunft gemeldet war und der voranschreitende Haushofmeister so leise wie möglich die Tür öffnete, so hörte ich doch, noch außen auf dem Korridor stehend, die aus dem Zimmer heraustönenden, aber mit einer durchaus tonlosen, kalten, fast erstorbenen Stimme gesprochenen Worte rufen:

»Still! Wer kommt da? – Ha? Du bist es, Paul, so mach' doch langsam die Tür auf – du erschreckst mich!«

Ich trat leise ein, sah aber im ersten Augenblick beinahe gar nichts. Denn das ohnehin schon dunkle Zimmer war von langen und schweren grünseidenen Vorhängen, die noch dazu dicht zugezogen waren, so beschattet, daß kaum ein einziges Lichtstäubchen durch die Fenster dringen konnte. Der ganze Boden des großen Zimmers war mit einem moosähnlichen, ebenfalls dunkelgrünen Velourteppich belegt; und obgleich wir uns im Monat August befanden, glimmte doch in dem Kamine, der aus großen schwarzen Marmortafeln bestand und dessen Spiegel verhangen war, ein großer Haufe mattglühender Kohlen. Auch nahm ich einen dumpfen, unangenehmen Geruch im Zimmer wahr, den alle im Übermaß verschwendeten Wohlgerüche nicht verdecken konnten, denn er rührte von der verdichteten Luft her, die auf Befehl des Bewohners nie durch das Öffnen eines Fensters erneuert werden durfte.

»Der Herr Doktor aus London, Euer Herrlichkeit!« sagte der Haushofmeister, indem er sich tief verbeugte, »Sie haben befohlen –«

»Es ist gut, Paul! gut, William! Geht hinaus, ich werde Euch rufen lassen – aber leise, tretet nicht so hart auf – Ihr erschreckt mich!«

Ich sah in die Gegend hin, woher der frostige Ton kam, ich suchte den Mann, der sich fürchtete – da lag in einem großen Lehnsessel, dicht am Kamin, eine Gestalt, vor der, da sie vom Kopf bis zu den Füßen fast ganz mit Pelzen verhüllt war, nur das Gesicht allmählich deutlicher mir entgegentrat. Ich strengte meine Augen an, etwas Bekanntes und Liebgewonnenes aus diesen Zügen herauszufinden, aber es war mir unmöglich, denn dieses Gesicht war kaum dem eines lebendigen Menschen ähnlich, weit eher glich es einer Totenmaske. Es war graubleich und erdfarben; langgezogene und tiefe Falten bedeckten es von den Augen bis zum Kinn, und nur einige wenige Haare glänzten silberweiß über einer ungeheuer großen, aber einen ungewöhnlich unangenehmen Eindruck hervorrufenden Stirn, denn sie war in allen ihren Verhältnissen über das Maß hinausgehend, zu breit, zu hoch und zu weit hervorragend, so daß die, wenn auch nicht kleinen, doch unter dichten Augenbrauen scheu hervorblickenden Augen in ihren tiefen Höhlen kaum aufzufinden waren. Das war Alles, was ich für jetzt zu erkennen vermochte.

»Ah, Sir!« sagte die Stimme des Patienten etwas belebter, »Sie kommen von meinem Freunde Sir John ...?«

»Ja, Mylord! Ich bringe Euer Herrlichkeit die ehrerbietigsten Grüße von ihm, der auch mein Freund ist; seine Geschäfte und seine eigene Kränklichkeit verhinderten, daß er selbst das Vergnügen hatte –«

»Gut, gut, ich bin's zufrieden – setzen Sie sich, Sir!«

Ich sah mich nach einem Stuhle um, aber ich konnte in der Dunkelheit, die mich umgab, keinen finden, daher blieb ich noch einen Augenblick vor ihm stehen.

»Setzen Sie sich, Sir!« rief er lauter und, wie mir schien, mit etwas zu gebieterischem Tone.

»Noch nicht, Mylord!« erwiderte ich. »Ein Arzt muß mit allen seinen Sinnen bei seinem Kranken sein; erlauben Sie, daß ich erst diesen Vorhang etwas zurückschiebe –«

Und, während ich noch sprach, schnell mich an ein Fenster begebend, zog ich ohne weiteres die eine Hälfte des Vorhanges mit einer Schnur zurück, die daran hing, und ein schrillendes Geräusch verursachte, als sie sich in Bewegung setzte. Augenblicklich fiel ein hellerer, doch durchaus nicht blendender Tagesschimmer in das weite Gemach, denn hinter dem grünen Vorhange war noch ein weißer vorhanden, der dicht vor dem Fenster herabgelassen war.

»Halt!« rief der Marquis, auf das Äußerste erschreckt, »was tun Sie – und welcher Ton?«

»Es ist notwendig und unabänderlich, Mylord –«

»Machen Sie zu, geschwind zu – das Licht! ha! ich ertrage das Licht nicht –«

»Nein, Mylord, ich mache es nicht zu und Sie werden es ertragen!«

Und ich stellte mich vor ihn, damit der ungewohnte Schein des Tages ihn nicht im Geringsten blende, und schaute ihn jetzt ruhig an – aber ich erschrak beinahe selbst vor dem unruhigen, furchtsamen, aufgescheuchten Blicke, dem ich begegnete. Die gläsernen Augen dieses überaus ängstlichen Mannes zitterten in beständiger Bewegung, sie flogen ringsherum im Zimmer und blieben endlich nur mit Mühe und angstvoll auf mir haften. Ich fand keine Spur von Ähnlichkeit mit Percys edlem und schönem Gesichte, wenn es nicht vielleicht die Form desselben war, aber ich konnte nicht lange meine Beobachtung fortsetzen; er sagte sogleich:

»Sie wagen viel, Sir! Ich bin nicht gewohnt, daß man meinen Befehlen entgegen handelt – ich kann das Licht nicht ertragen –«

Diese mit einem unverkennbaren Eigensinn gesprochenen Worte flößten mir Vertrauen gegen mein eigenes Benehmen ein. Ich blickte ihn ruhig, aber fest an und erwiderte:

»Und ich kann Sie ohne Licht nicht beobachten!«

»Beobachten? – Ha!«

»Ja, Mylord, beobachten! Sie haben einen Arzt kommen lassen, damit er Ihnen helfe. Ein Arzt aber läßt sich keine Vorschriften machen, er handelt nach seiner Überzeugung – Sie müssen Licht haben und auch in allem Übrigen Ihren Willen dem meinigen unterordnen, solange ich eben Ihr Arzt und Sie mein Patient sind.«

Er sah mich jetzt stumm und staunend, mit einem mehr verwunderungsvollen als zornigen Blick an, dann fuhr er fort:

»Es war mir anfangs lieb, daß Sir John nicht selbst kam, er hat einen solchen – solchen vernichtenden Blick, einen so eisernen Willen und einen so befehlshaberischen Ton – aber Sie – Sie –«

Ich ließ ihn nicht aussprechen, sondern unterbrach ihn.

»Nicht vernichtend! Das scheint Euer Herrlichkeit nur so, wohl aber erwägend und prüfend, und solchen Blick muß der Arzt haben, wenn er die verborgenen Tiefen des –«

»Ha! Sir!«

Ich ließ mich nicht stören, sondern fuhr ruhig fort;

»Wenn er in die verborgenen Tiefen und die Quellen der menschlichen Leiden dringen will. Muß doch sein Blick noch schärfer sein, wenn er das beste und passendste Heilmittel für den vorliegenden Fall auswählt; und je schärfer daher dieser mein Blick ist, um so vorteilhafter wird er für Sie sein –«

»Setzen Sie sich, Sir – es ist gut; ich sehe, mit Ihnen ist nicht gut streiten – aber warten Sie, erst – bitte! – schüren Sie die Kohlen in dem Kamin auf, es ist so kalt hier –«

Ich schürte die Kohlen mit dem glühenden Schüreisen an, obgleich es so heiß in dem Zimmer war, daß mir bereits die Schweißtropfen von der Stirn rieselten; dann nahm ich einen Stuhl und setzte mich dicht vor ihn hin.

»Und nun, Mylord«, sagte ich, »erlauben Sie mir, Sie zu bitten, Ihren Zustand mir recht genau zu erzählen.«

»Erzählen? Sie reden sonderbar, sehr sonderbar! Das hat mir noch kein Mensch zugemutet. Ich dächte, Sie fragten – fragen Sie, ich werde beantworten, was sich beantworten läßt.«

»Nein, Mylord, das geht nicht! Es ist meine Meinung so. Meine Fragen kommen nachher, erzählen müssen Sie zuerst.«

»Aber mein Gott! was soll ich Ihnen denn erzählen?«

Er schöpfte tief Atem und wandte sich ungeduldig hin und her. Ich wußte es wohl, daß er keine bestimmten Klagen hatte, denn die von eigener Schuld belastete Seele ergeht sich nicht gern in deutlichen Klagen, sie wirft alle ihre Qualen auf ein eingebildetes oder vorgeschütztes Leiden des Körpers, wagt aber nie offenherzig sich dieselben zu erklären.

»Nun«, fuhr er fort, »wenn Sie durchaus so wollen – aber ich denke, Sie ziehen den Vorhang wieder zurück –«

»Nein, Mylord, ich muß darauf bestehen; ich bitte, erzählen Sie nur dreist, aufrichtig – wir sind unter uns –«

Er schien sich gewaltig zusammenzunehmen und brachte endlich mit Mühe eine Menge unbestimmter Klagen vor, von denen ich nur eine begründet erachtete, und das war Luftmangel und das Gefühl, als liege eine schwere Last auf seiner Brust.

Jetzt begann ich damit, ihm einige Fragen vorzulegen, die er mir kurz beantwortete. Dann bat ich um seine Hand – er reichte sie mir schweigend, sah mich aber durchdringend während meiner Untersuchung an und zuckte merklich, als ich sie berührte. Sie war, trotz der Pelze und der Hitze im Zimmer, kalt und mit einem klebrigen Schweiße bedeckt – ihr Puls war hart, gespannt, äußerst voll und langsam, gerade wie bei einem Menschen, dem ein Schlagfluß bevorsteht.

Ich setzte mich zurück und sann einige Augenblicke nach. »Du mußt jetzt dadurch sein Vertrauen gewinnen, daß du ihm einige Erleichterung verschaffst«, dachte ich.

»Wie finden Sie meinen Zustand, Sir?« fragte er zögernd.

»Ich finde Sie nicht bedenklich krank, Mylord«, war meine Antwort, »doch erlauben Sie noch einige Fragen. Sie schlafen sehr wenig?«

»Fast gar nicht.«

»Sie machen aber auch keine Bewegung?«

»Ich denke, nein!«

»Sie fühlen wohl das Bedürfnis des Schlafes, aber Sie können nicht?«

»Nein, Sir, nein – ich kann nicht!«

»Es kommen Ihnen, wenn Sie einschlafen wollen, immer ungewisse Traumgestalten vor die Augen?«

»Ungewisse? Nun ja, Sir, ja – weiter, weiter –«

»Sie denken zu viel über gewisse Gegenstände nach?«

»Ha! Welche Gegenstände?«

»Über Ihr Leiden –«

»Nun wohl, Sir –«

»Und finden in keinem Worte, in keiner Tat, ja, in keinem Gedanken irgendeinen Trost – nicht?«

»Sir! was sprechen Sie da? Sie kennen meinen Zustand vollkommen – so ist es –«

»Und warum haben Sie mir das nicht selbst gesagt?«

»Ha! wie kann ich so von der Leber weg sprechen – ich kannte Sie ja nicht – jetzt kenne ich sie schon besser – ha! es ist schwer, das zu sagen – und woher wissen Sie das? Wer hat Ihnen das gesagt?«

»Es hat mir's Niemand gesagt, aber ich habe es gelesen –«

»Gelesen, Sir?«

Und er fuhr halb vom Stuhle mit einem fürchterlichen Blick auf, als wenn eine Natter ihn gestochen hätte.

»Gelesen? Wo? Wann?«

»Beruhigen Sich Eure Herrlichkeit – ich habe es nur auf Ihrem Gesichte gelesen –«

»Was – auf meinem Gesichte? Spricht das so deutlich?«

»Für mich wie ein Buch!«

»Ha! das ist nicht wahr, Sir! – Geben Sie mir da – dort – den Spiegel – auf dem Tische muß er liegen –«

Ich ergriff den runden Handspiegel und hielt ihm denselben vor – er fuhr zurück und bedeckte sich das Gesicht mit beiden Händen.

»Ist das mein Gesicht?« murmelte er mit halb erstickter Stimme.

Ich blickte ihn zaudernd – ich muß sagen – voll Mitleid an.

»Sprechen Sie, Sir, sprechen Sie! Schweigen Sie nicht, Ihr Schweigen ist furchtbarer als Ihr Reden – wer sind Sie? Was wollen Sie von mir? – Sie können gut lesen –«

Ich sah ihn immer fester an – unsere Blicke begegneten sich – er wollte den meinigen ausweichen, aber er konnte nicht; eine unbezwingliche Gewalt, vielleicht die seiner erwachenden Seele, schien ihn zu fesseln – ich las jetzt wirklich in seinem Gesichte – es war etwas Verständliches für mich darin – und auch er schien meine Miene zu verstehen – es war mir geglückt, ihn aus sich selbst, die verborgene Seele aus ihrer Umhüllung herauszubringen.

»Hören Sie«, fuhr er fort, »ich will Ihnen etwas sagen – aber kommen Sie näher – noch näher – ganz nahe –«

Und er flüsterte mir ins Ohr, das ich ihm hinhielt, so leise, daß ich es kaum verstehen konnte:

»Was ich Ihnen sagen wollte – ja! Sprechen Sie leise, sagen Sie Niemanden, was Sie mit mir gesprochen haben – meinem Sohne Mortimer, wenn er kommt, am wenigsten – wir Beide wollen allein Vertraute sein – hören Sie – wir ganz allein – ach, ich habe Ihnen noch viel zu sagen – ich bin ein alter unglücklicher Mann – oder haben Sie auch schon gelesen –?«

»Mylord!« erwiderte ich, in der Tat von der furchtbaren Angst gerührt, die sich auf seinen zusammengekniffenen Gesichtszügen aussprach, und faßte seine knöcherne Hand, die ich warm, vielleicht zu warm drückte, »Sie haben Recht, Mylord, wir wollen Vertraute sein – Niemand braucht sich in unsere Angelegenheit zu mischen, als Sie, der Kranke, und ich, der Arzt.«

Er lehnte sich zurück und ließ einen langen Seufzer hören.

»Ach!« sagte er, »ich glaube, Sie können mir helfen – es ist Alles wider mich –!«

Ich sann abermals einige Augenblicke nach.

»Mylord!« fing ich wieder an, »ich habe einige Verordnungen für heute, für jetzt zu machen – morgen sprechen wir weiter.«

»Morgen? warum nicht heute – nicht gleich?«

»Nein, es geht nicht; erst muß ich Ihnen einige Erleichterung und Ruhe verschaffen, dann fahren wir fort in unserer Unterredung, und es wird darauf nur umso leichter gehen.«

»Aber Sie kommen doch noch heute Abend zu mir – ach, der Abend und – die Nacht – hu!«

Er bebte zusammen, als wenn ein eisiger Schauer über ihn lief, seine Lippen zitterten und sein ganzes Antlitz wurde noch um einen Grad blasser, als es vorher gewesen war.

»Fürchten Sie sich nicht mehr!« war meine Antwort. »Ich werde stets um Sie sein, und Sie können mich jeden Augenblick rufen lassen. Bieten Sie Ihrem Mißgeschick eine männliche Stirn – mit Gottes Hilfe werden Sie Alles besiegen, was Ihnen im Wege steht –«

»Mit Gottes Hilfe? Ja – o ja! Und Alles? hm! Das ist viel! Doch es ist gut – es ist sehr gut, Sir – was haben Sie mir zu verordnen?«

»Luft,! Licht! Auch Bewegung will ich Ihnen geben und einige Unzen Blut nehmen!«

»Blut – Blut? warum Blut? Ich denke nicht, daß meine Krankheit im Blute steckt –«

»Sie steckt nicht im Blute, nein!«

»Aber wo?«

»Das werde ich Ihnen später sagen – fürs Erste will ich Ihre stockenden Säfte in Umlauf bringen – Sie müssen frische Luft atmen und dem Lichte Zutritt zu Ihnen gönnen –«

»Das wird nicht gehen, Sir – das Licht haßt mich!«

»Es muß geschehen, Mylord! Das Licht haßt Sie nicht – Sie hassen vielmehr das Licht. Mit einem Worte, ich will es so, und Sie brauchen es so –«

»Sie sprechen sehr bestimmt, Herr Doktor!«

»Es ist meine Pflicht, Mylord. Haben Sie Neigung zu fahren, Mylord!«

»Fahren? Mit Pferden? Um Gottes willen nicht! Wohin wollen Sie mich fahren?«

»Aha!« dachte ich. Doch ich tat, als merkte ich nicht sein Erschrecken, und fügte sogleich hinzu:

»Nun, so können wir einen kleinen Rollwagen aus London kommen lassen, und Eurer Herrlichkeit Diener können Sie im Garten auf und nieder fahren. Unterdessen lassen wir das Zimmer lüften, oder, was noch besser ist, Sie beziehen ein anderes vorn nach dem Parke hinaus – die grünen Vorhänge müssen fort und weiße, durchsichtige hinein – so muß es sein.«

»Weiße Vorhänge? Lüften? Ein anderes Zimmer? Sie kommen mir ganz merkwürdig vor –«

»Lassen Sie es gut sein und gehorchen Sie mir.«

Ich ging nach der Tür und öffnete sie.

»Wo wollen Sie hin? Bleiben Sie!« rief er sogleich.

»Ich will nur Ihre Diener rufen!« erwiderte ich und rief den Haushofmeister herein, der schon bereitstand. In seiner Gegenwart ordnete ich Alles, wie ich es haben wollte, noch einmal an und machte mich dann bereit, dem Patienten sogleich einiges Blut abzulassen.

Auch ließ dieser wider Erwarten Alles ruhig mit sich geschehen. Nach einigen Minuten war ich fertig. Er wurde auf seinen Sessel gesetzt und in den Garten getragen, wo zum ersten Mal seit langer Zeit das volle, heitere Sonnenlicht auf seinen kahlen Scheitel fiel. Dann wurde ein Wagen nach London geschickt, den Rollwagen zu holen, und Vorbereitungen getroffen, ein freundliches, auf der Sonnenseite gelegenes Zimmer zu beziehen.

 

Es war an demselben Tage, Nachmittags gegen vier Uhr; ich hatte bereits mein Mittagbrot eingenommen, das man mir auf mein Gesuch in meinem Zimmer aufgetragen, und war eben in den Teil des Parkes gegangen, welcher neben dem Schlosse lag, als ich, hinter einem dichtbelaubten Akaziengebüsch auf einer Bank sitzend, das Geräusch einer lauten, von der Jagd zurückkehrenden Gesellschaft vernahm. Die Diener im Schlosse eilten sogleich herbei und führten die schnaubenden Pferde und die kläffenden Hunde fort, als ich eine heftige und ziemlich unangenehme Stimme nach dem Haushofmeister rufen hörte.

Augenblicklich sagte mir eine instinktmäßige Ahnung, daß dies Sir Mortimers, Percys Bruders, Stimme sei. Mein Herz bebte bei diesem Gedanken, aber ich hatte keine Zeit, meine Empfindungen zu verfolgen, denn ich war durch die Nähe des Sprechenden gezwungen, wenn auch ungesehen, was immer etwas Peinliches hat, aber diesmal von hohem Interesse war, Ohrenzeuge eines sogleich stattfindenden Gespräches zu sein. Denn zu dem schnell herbeieilenden Haushofmeister sagte diese Stimme mit einem Tone, der vertraulich klingen sollte:

»Was gibt's Neues, Alter? Nichts vorgefallen da oben?«

»Ja, Sir Mortimer, der Arzt aus London ist gekommen.«

»Aha! Wo ist er? Hast du ihm gesagt, daß ich ihn vorher sprechen wolle, ehe er – du weißt –«

»Jawohl, Sir! Aber Sie blieben so lange und Mylord verlangte so sehnlichst nach ihm –«

»Was? Er ist doch nicht schon bei ihm gewesen?«

»Ich konnte es nicht hindern, Sir!«

»Halunke, befolgst du so meine Befehle?«

Und hier hörte ich das Schwirren einer Reitpeitsche, wie sie über den altersgrauen Kopf des treuen Dieners sauste.

»O, nicht doch – nicht doch, Sir – ich bitte Sie – ich schwöre, ich konnte nichts dafür –«

»Halt das Maul, Vielfraß! Ihr Schurken mästet euch in der untergehenden Sonne, aber wartet! in der aufgehenden sollt Ihr Arbeit finden – und was hat er ihm gesagt, du bist doch im Zimmer geblieben?«

»Keinen Augenblick, Sir – ich weiß nichts davon –«

»Verfluchter Halunke! Was ist geschehen – was hat er gesagt?«

»Weiß es wahrhaftig nicht, Sir, was er gesagt hat – aber er hat Seine Herrlichkeit zur Ader gelassen und Anordnungen wegen der neuen Wohnung gemacht – Mylord sitzt drüben im Garten –«

»Mylord im Garten – neue Wohnung? Bist du verrückt – wie ist das möglich?«

»Ich wund're mich selbst, aber es ist, wie ich sage –«

»Ha, verdammt! daß ich nicht hier war! Wo ist der Mensch? Ist es der Alte selber?«

»Nein, Sir, aber ein Freund von ihm –«

»Alt oder jung?«

»Dreißig etwa – und sehr bestimmt, Sir, sehr bestimmt!«

»Sehr bestimmt, sehr bestimmt!« äffte die Stimme nach, »und du bist sehr dumm, sehr dumm! – Wo ist er jetzt?«

»Auf seinem Zimmer ohne Zweifel –«

»Ohne Zweifel bist du ein Schafskopf – hm! Fort – es ist gut, wir sprechen uns noch. Laß die Glocke läuten zum Essen!«

»Die Glocke, Sir? Aber seine Herrlichkeit –«

»Laß die Glocke läuten! sag' ich, auf der Stelle, oder – ich habe drei Gäste – schnell!«

Hier hatte das erbauliche Gespräch ein Ende. Die Glocke fing an zu läuten, aber wie mich dünkte, etwas sanfter, als gewöhnlich die Eßglocken auf den englischen Landgütern läuten. Dann war Alles wieder still.

»Das war eine kleine Probe von Sir Mortimer!« dachte ich; »nun! du wirst ja auch noch die Ehre haben, kleiner Job, Seiner Herrlichkeit vortrefflichen Sohn, die aufgehende Sonne, von Angesicht zu Angesicht zu sehen.« Somit verfügte ich mich auf mein Zimmer, wo ich ungefähr zwei Stunden blieb, an meinem Reisebuche schreibend, als die Tür aufging und Sir Mortimers hohe Gestalt ohne Anmeldung ins Zimmer trat.

Ich war im ersten Augenblicke betroffen über seine Erscheinung, denn Sir Mortimer hatte große Ähnlichkeit mit seinem Bruder Percy, aber auch nur Ähnlichkeit, sonst nichts von ihm, gar nichts. Er war groß und kräftig gebaut, sein Gesicht stark von der Sonne gebräunt, seine Stirn, sein Mund wie Percys Stirn und Mund, aber wie himmelweit war der Ausdruck derselben von dem jenes Gesichtes verschieden, welches ich so wohl kannte und so innig lieben gelernt hatte.

In Percys Antlitz war jede Miene, jeder Zug, jede Linie der Ausdruck eines edlen Gedankens, einer innigen Empfindung; die innere Herzenswärme selbst hauchte aus diesen offenen, schönen Zügen hervor: auf den ersten Blick erkannte man die erhabene Richtung seines freigeborenen Geistes, die Tiefe seines zarten Gemüts – hier herrschte aber weder ein Gedanke, noch eine Empfindung, noch sonst etwas Friedliches, Angenehmes, Geistiges vor – es lag ein verwilderter, unbezähmbarer, leidenschaftlicher Zug in diesem Gesicht, die moralische und intellektuelle Bildung, der letzte glättende und veredelnde Meißel des menschlichen Antlitzes, hatte keine Spuren auf ihm hinterlassen oder vielleicht nie welche hervorgerufen; die Haare hingen verworren um das sonst so regelmäßig geformte Haupt; die Stirn, mehr frech als kühn, entbehrte der anziehenden und fesselnden Gewalt, die eine gedankenvolle hohe Stirn so allmächtig ausübt; seine grauen Augen blickten unverschämt und stechend umher, als forderten sie unbedingte Unterwerfung; und um den eigentümlich zusammengekniffenen Mund lag etwas so Höhnendes und Verachtendes, daß man sogleich die Grundrichtung seines hochmütigen Herzens erriet, welches alle Welt als Knecht und jede plötzliche auftauchende Laune als Richtschnur seines Willens betrachtete.

Außerdem aber war Sir Mortimer eben vom Tisch aufgestanden; er hatte getrunken, seine Wangen glühten und seine Zunge stockte, er war noch weniger Mensch als im nüchternen Zustande und flößte mir auf der Stelle ein Gefühl des Abscheus ein, das ich nur mit Mühe unterdrücken konnte.

Seine Kleidung bestand aus dem gewöhnlichen scharlachroten Jagdrock der Engländer, bis unter das Kinn zugeknöpft, weißen ledernen Beinkleidern und Stulpenstiefeln mit großen Sporen. Den Hut hatte und behielt er auf dem Kopfe.

»Guten Tag, Sir!« sagte er und warf sich auf einen Sessel. »Ich muß Ihre Bereitwilligkeit loben, so schnell hierhergekommen zu sein.«

»Loben Sie Sir John ...«, erwiderte ich, »denn er allein hat meinen Besuch so beeilt, da er mich mit seinem Wagen hierher fahren ließ.«

»Sehr gut von ihm! – Wie ich höre, waren sie schon bei Seiner Herrlichkeit – es tut mir leid – ich hatte bestimmte Befehle erlassen – indessen kann ich Ihnen noch genug mitteilen. Wie finden Sie seinen Zustand? Nicht wahr, hoffnungslos, meinen Sie nicht?«

»Durchaus nicht, Sir!« sagte ich ernsthaft; »im Gegenteil, ich hege einige Hoffnung.«

»Haha! Daß er vollständig – verrückt wird, nicht wahr?«

Ich ließ einen ruhigen, aber, wie mich dünkt, sehr bedeutsamen Blick über den Sprecher laufen und blieb mit meinem Auge auf seinem höhnenden Antlitz haften. Jedoch Sir Mortimer ertrug ihn frech – es war Stein, was ich anblickte, dieser Busen war nur vergifteten Pfeilen zugänglich, er blickte mich sogar wieder fest und nicht im Geringsten aus der Fassung gebracht an.

»Lassen Sie es gut sein, Doktor«, entgegnete er; »Sie wollen mich beruhigen, Sie wollen mich trösten – das ist hübsch von Ihnen, aber gebrauchen Sie bei mir nicht Ihr alltägliches Kunststück, sagen Sie immerhin die Wahrheit, und bedenken Sie – eine Ruine, so zerbrechlich wie diese, muß zerfallen, wenn ein heftiger Wind weht, und glauben Sie mir, seine Säfte sind schlecht, sein Gehirn zerrüttet, Sie werden es noch zur Genüge erfahren – der arme Mann hat beständig Visionen – wie lange kann das dauern und zu welchem Ende kann es führen?«

Obgleich ich auf das Äußerste über diesen Ausbruch kindlicher Gefühllosigkeit empört war, hielt ich mich doch zurück; ich wollte für jetzt den nicht zu meinem persönlichen Feinde machen, der es meinem Herzen schon längst im höchsten Grade war, und ich erwiderte daher gelassen, obwohl sehr ernst:

»Ja, ja – aber wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben – ich will Sie mit keiner großen und gewissen Hoffnung erfreuen, aber auch mit keiner übermäßigen Besorgnis betrüben, denn fürs Erste, ehe ich einen entscheidenden Ausspruch wage, müssen wir die Wirkung der angewandten Mittel abwarten.«

»So, so!« Und Sir Mortimer erhob sich und ging mit gekreuzten Armen und wie über eine ernste Sache nachdenkend, mit gesenktem Kopfe im Zimmer auf und ab.

»Haben Sie keine Ursache seiner Krankheit erforscht?« fragte er mich plötzlich schlau und blieb vor mir stehen, anscheinend mit nachlässiger und gleichgültiger Miene; aber ich war hinreichend vorbereitet, hinter dieser künstlichen Ruhe die heftigen Gedanken zu erraten, die in seinem Innern kämpften und nur mit Mühe von der Oberfläche ferngehalten wurden.

»Nein, Sir, aber ich denke, Kummer und Sorge und Alter und Lebensart sind hinreichend, eine solche Krankheit zustandezubringen«, erwiderte ich.

»Das ist es, dieses Letztere mein' ich«, unterbrach er mich hastig, »darauf richten Sie Ihr Augenmerk – Kummer und Sorge ist es nicht, denn er hat immer in Fülle des Genusses gelebt, wohl aber Alter und Lebensart – o, ich sehe sehr deutlich – doch wir werden noch weiter darüber sprechen. Ich wollte Sie jetzt nur zu meinen Freunden rufen, die mich erwarten – kommen Sie.«

»Ich habe gegessen und getrunken, Sir.«

»Pah! jawohl, man wird Sie nicht hungern lassen – aber nicht in Gesellschaft – allein bei Tische zu sitzen ist nur durchbrochene Arbeit – kommen Sie, wir müssen trinken, spielen und jagen, um uns die Zeit zu vertreiben, was bietet das Leben sonst als Langeweile –«

Und halb mit Gewalt zog er mich die Treppe hinab.

Das war Sir Mortimer, Leser! Kennst du ihn nun von einer Seite? Nur Geduld! Du wirst ihn noch von einer anderen kennenlernen.

Wir traten in das Tafelzimmer – die drei Gäste saßen oder lagen vielmehr bei Tische in ihren roten Jagdröcken, die Hüte auf dem Kopfe, die Füße auf herangezogenen Sesseln, und begrüßten mich mit einem höchst vornehmen Kopfnicken, als ich die Ehre hatte, ihnen von unserem gemeinsamen Wirte vorgestellt zu werden.

»Was macht der Alte, he?« fragte einer, ein Baronet aus der Nachbarschaft.

»Ei nun, der Doktor ist über die Maßen zufrieden, nicht wahr?« erwiderte der gefühlvolle Sohn mit einer verbissenen Miene, welche seine Zufriedenheit ausdrücken sollte.

»Nicht über die Maßen«, antwortete ich, »aber doch leidlich zufrieden.«

»Bist du es auch?« zischelte ein Anderer der Gäste Mortimer an.

Mortimer winkte ziemlich verständlich und rief:

»William! Neue Flaschen und neue Gläser – Burgunder!«

Der Wein kam, die Gläser wurden gefüllt und geleert, und je mehr man trank, umso lauter und ungezwungener wurde das Gespräch, umso schallender das Gelächter, als wäre kein Kranker und, wie Mortimer glaubte, kein Sterbender im Hause und – der Sohn des Sterbenden mit unter den Zechern. Anfangs wurde die Jagd und deren Abenteuer ausgebeutet. Dann kamen, wie gewöhnlich unter jungen Leuten geschieht, wenn die Flasche ihre Schuldigkeit tut, Liebesangelegenheiten an die Reihe, und auf Kosten eines Jeden wurde gelacht, getrunken und gewettet.

Mit der Zeit wurde mir diese aufgezwungene Unterhaltung langweilig, und ich sann schon nach, auf welche Weise ich mich schicklich entfernen könne, als das Gespräch plötzlich eine Wendung nahm, die nicht allein meine ganze Aufmerksamkeit fesselte, sondern auch für mich und mein Unternehmen von höchstem Interesse war, obgleich sie mir kein allzugroßes Licht gab.

Von allen Anwesenden nämlich war Sir Mortimer der heiterste, beinahe lustigste; doch es entging meiner stillen Beobachtung nicht, daß er hinter dieser Lustigkeit etwas Trübes, etwas, was seine geheimsten Gedanken störend erfüllte, verbergen wolle, denn er sank bisweilen, wie es mir vorkam, in ein eigentümliches Träumen, wobei er still und stier vor sich niedersah, aus welchem ihn dann wieder die Späße seiner Gäste aufregten und abermals zu neuer Teilnahme antrieben. In einem solchen augenblicklichen Hinbrüten war es, wo jener schon erwähnte Baronet ausrief:

»Seht den Mortimer an, glüht er heut' nicht wie eine Rose?«

»Gerade so«, rief der neben ihm und mir gegenüber Sitzende, »wie die Wangen des Mädchens glühen würden, wenn sie ihm nicht wieder entwischt wäre – das ist ja eine verzweifelt lange Jagd!«

Hierbei warf er seinen Kameraden einen verstohlenen Blick zu, indem er mit dem Kopfe nach Mortimer hindeutete.

Mortimers braunes Gesicht wurde dunkelrot, als er diese Worte vernahm, und den Sprecher eben nicht sehr freundlich anblickend, entgegnete er finster:

»Keinen persönlichen Spaß, Gentlemen, und keine empfindliche Stelle berührt! – Aber Sie erinnern mich, Gladstone, an das ernsthafteste Abenteuer meines Lebens, und ich schwöre es Ihnen zu, mag der neugebackene Sir Robert Graham seine ererbte Baronie verpachtet oder verkauft haben und mag er, wohin er nun will, in einen Winkel oder in eine Höhle der Erde gekrochen sein – ich werde ihn finden, trotz seines ewigen Umherschweifens, und ich will das Mädchen haben trotz aller Teufel, die sie beschützen!«

»Das war ein arger Schwur, Mortimer!« rief der Baronet. »Vergessen Sie ihn nicht, sonst fällt er auf Ihr Gewissen!«

»Nun, da wird es ihm nicht bange werden, er findet Gesellschaft!« flüsterte mein Nachbar.

»Pah!« rief der, welcher bisher geschwiegen. »Pah! Ein Mädchen und ein Gewissen!«

»Still!« rief Mortimer selbst. »Wir langweilen den guten Doktor, ich sehe es ihm an.«

»Halten Sie sich meinetwegen nicht zurück, Sir!« sagte ich, mich verbeugend. »Ich habe auch in der Welt gelebt und bin mit dergleichen, wenigstens vom Hörensagen, vertraut.«

»Noch eins, Mortimer!« rief der Baronet wieder, »wenn ich an Ihrer Stelle wäre und Sie doch einmal ohne die Person nicht leben können und es Ihre Lebensaufgabe ist, wie Sie mir oft sagten, sie zu finden und zu besitzen, warum gehen Sie nicht ihrer Spur nach und enden mit einem Schlage die ganze Geschichte?«

»Noch einmal still, meine Herren!« rief Mortimer finster, »Sie wissen Alle nicht, wie nahe ich ihr endlich bin, und was mir allein bekannt ist. Denken Sie, ich habe bloß zwei Arme und sie sind nur eines Menschen Arm lang? Hoho! Das wäre schlimm! Doch das ist die Sache nicht – ich kann – jetzt kann ich nicht von hier fort!«

»Warum nicht? Mylord Seymour ist ja in der besten Pflege, da der Doktor hier ist, und was wollen Sie mehr?«

Ich heftete meine Augen mit der größten Spannung auf Sir Mortimer, der sein Haupt auf seine beiden Hände stützte, die er einen Augenblick auf den Tische legte.

»Es geht nicht!« flüsterte mein Nachbar wieder. »Ist ein schlimm' Ding das, was denkt ihr denn? Sir Mortimer sitzt für den Augenblick vor zwei Fuchslöchern, und in eine Richtung kann ein Mensch doch nur bekanntermaßen sehen!«

»Wieso, was meinst du?«

»Hm! Siehst du das nicht ein? Der eine Fuchs sitzt hier im Hause, ein köstlicher Balg, den will er haben! Haha! Und jene Füchsin streift in dem anderen Revier, und die will er nicht verlieren.«

»Ach!« dachte ich, während die Anderen sämtlich in ein leises Gelächter ausbrachen, das Sir Mortimer ruhig hinnehmen mußte, »wenn ihr wüßtet, daß es mir jetzt gerade ebenso geht – aber ich will den Fuchs, die Füchsin und den Jäger obendrein!«

»Nun, was kann er denn hier noch weiter wollen?« fragte der Baronet ziemlich laut. »Die Sache mit der Erbschaft ist ja abgemacht, denke ich?«

Sir Mortimer erhob sich stolz, und dem Baronet einen Blick zuschleudernd, den ich meinem Todfeinde gegenüber nicht verachtet hätte, wollte er eben etwas erwidern, als ein Diener mit brennenden Kerzen eintrat und an mich die Bitte richtete, zu Seiner Herrlichkeit zu kommen, der schon mehrmals nach mir gefragt habe.

»Sie entschuldigen mich, Gentlemen!« sagte ich und erhob mich mit einer abschiednehmenden Verbeugung.

»Warten Sie, warten Sie, Doktor, ich gehe mit!« rief Sir Mortimer. Dann zu seinen Gästen sich wendend, fügte er lallend hinzu:

»Sie sind in meiner Abwesenheit hier zu Hause, meine Freunde. Überdies kommen wir bald wieder, und dann eine Partie!«

Mit diesen Worten nahm er mich beim Arm und stützte sich schwerfällig darauf, während wir die Treppe hinaufstiegen, denn er hatte viel getrunken und seine Beine waren wenigstens ebenso schwer wie seine Zunge.

Unterdessen war es Abend geworden und die Dunkelheit, durch einen leichten Nebel begünstigt, lag rings auf der ganzen Natur. Die blanken Lampen brannten hell auf den Korridoren, die wir durchwanderten, und außer dem lauten Reden und Lachen, welches aus dem Trinkzimmer Sir Mortimers durch das halbe Haus schallte, herrschte eine so tiefe Stille in den öden Räumen desselben, daß mir unsere über die Teppiche hinschreitenden Tritte wie das Dahingleiten eines nächtlichen Gespenstes vorkamen.

Ohne an die Wohnungsveränderung des Marquis zu denken, gingen wir Beide nach dem Zimmer, welches derselbe bis heute Mittag bewohnt hatte.

Mortimer öffnete es, fuhr aber sogleich mit einem unheimlichen leisen Schrei zurück, als er hineingeblickt und es dunkel und unbewohnt gefunden hatte.

»Haha!« sagte er, indem er über sich selbst lächelte. »Ich dachte – ich dachte – er wäre – doch er ist ja nur ausgezogen, kommen Sie – aber zum Teufel, ist denn kein Mensch hier – Heda! Paul! Paul!«

Der Haushofmeister, von dem lauten Rufe herbeigezogen, stürzte atemlos heran. Der alte Mann hatte die unverdiente Züchtigung des Morgens nicht vergessen und kannte das zornige Gemüt seines künftigen Herrn. Die Hand über die Stirn haltend, auf der ein roter Streifen sichtbar war, stotterte er:

»Was beliebt, Sir Mortimer?«

»Wo ist der Marquis, Halunke, he? Und wo steckst du mit den anderen Halunken?«

»Wir erwarteten Sie vor Seiner Herrlichkeit Tür, Sir.«

»Führ' uns hin und verliere keine Worte!«

Der Haushofmeister schritt uns voran; wir stiegen eine Treppe hinab und wieder eine hinauf, während Sir Mortimer ein Jagdlied pfiff, und nun sahen wir einige Diener vor der Tür ihres Herrn stehen, die mit Besorgnis seinen Zustand beobachteten und wahrscheinlich nicht erwartet hatten, Sir Mortimer werde noch heute selbst am Krankenbett seines Vater erscheinen, da er Gäste hatte.

Aber Sir Mortimer schien es daran gelegen zu sein, mit mir zugleich bei seinem Vater zu verweilen, und die Diener waren daher betroffen, als sie ihre aufgehende Sonne etwas schwerfällig mit mir heranwandeln sahen.

»Was tut ihr hier, Schurken! He?«

Keiner wagte zu antworten, einer sah erschrockener als der Andere aus.

»Hinauf vor mein Zimmer, ihr Esel – hier ist einer genug!«

Die Diener schlichen leise fort, mit Ausnahme eines, der an der Tür stehenblieb.

Wir traten jetzt in das neubezogene Zimmer Mylord Seymours, mit uns der Haushofmeister, der, wie gewöhnlich, die Tür leise öffnete.

Das Zimmer sah ganz heiter aus und brachte einen unglaublich freundlicheren Eindruck hervor als das, in welchem ich den Kranken bei meiner Ankunft gefunden hatte. Es hatte weiße Vorhänge, die großen Spiegel waren unbedeckt, Gemälde hingen an den mit hellblauem Damast bekleideten Wänden, und nur der dunkle Fußteppich war derselbe geblieben oder wenigstens ein ähnlicher. Auch in dem mit hellstreifigem Marmor verzierten Kamine glimmten wieder die Kohlen, aber von der Decke hing eine Art Ampel herab, die ein, wenngleich düsteres, doch nicht unfreundliches mildes Licht im ganzen großen Gemache verbreitete.

»Ach, guten Abend, Sir! und guten Abend, Mortimer!« redete uns der Marquis an.

»Guten Abend!« erwiderte Mortimer rauh und ging sogleich zum Kamin, wo er mit einer Kohlengabel tüchtig zu klopfen und das Feuer anzuschüren begann, als wolle er sich absichtlich von seinem Vater entfernt etwas zu schaffen machen.

»Halt, Mortimer! Du erschreckst mich mit deiner Gabel – schlag nicht so zu, und setz dich, setz dich!«

Mortimer stand von den Kohlen auf und warf sich in einer Ecke auf einen Sessel, daß es krachte.

Der Marquis ließ einen furchtbaren und fast stechenden Blick auf seinen zartfühlenden, vortrefflichen und ihn beerbenden Sohn gleiten, den dieser aber nicht im Geringsten beachtete, sondern sich dehnte, reckte und nach allen Seiten verwundert umschaute.

»Wie befinden sich Eure Herrlichkeit?« fragte ich und näherte mich dem eingeschüchtert und zusammengekauert dasitzenden Greise.

»Ich denke besser, Sir – danke, danke – Sie sind ein Wundermann – sehen Sie nur, wie tief ich Luft schöpfen kann – Ah! Auch bin ich müde, die Luft scheint hier wirklich besser – wenn das Licht nur nicht wäre –«

»Sie werden sich allmählich daran gewöhnen, Mylord!« sagte ich und faßte seine Hand, die weniger eisig war und deren Pulsschlag mich befriedigte.

»Man hat dir zur Ader gelassen, he?« schrie beinahe Mortimer, der nicht vergessen konnte, daß er eben vom Trinkgelage gekommen war, und den es nicht zu bekümmern schien, daß sein elender Vater bei jedem seiner lauten Worte entsetzt zusammenschauerte.

»Stille, Mortimer, stille!« rief der Marquis. »Du erschreckst mich jeden Augenblick mit deinem Schreien – du hast ja Gäste, wie ich höre, geh doch zu ihnen – der Doktor wird schon bei mir bleiben, nicht wahr, Sir?«

Ich verbeugte mich schweigend.

»Wo der Doktor bleibt, bleibe ich auch!« sagte Mortimer gähnend. »Er muß mit uns trinken – er ist nicht hergekommen, um den Krankenwärter zu spielen.«

»Nun gut, wenn du willst, nimm ihn mit dir – heute, aber morgen ist er mein.«

»Morgen ist Jagd, Fuchsjagd – da geht er auch mit.«

Jetzt hielt ich es für Zeit, für mich selbst das Wort zu nehmen, und ich versetzte höflich, aber bestimmt:

»Ich danke, Sir, ich danke Ihnen sehr, aber ich trinke und spiele weder heut', weil ich nie spiele und ungern trinke, noch jage ich morgen, denn wenn ich hier in meinem Berufe nichts mehr zu tun habe, rufen mich ernsthafte Geschäfte an einen anderen Ort.«

Sir Mortimer blickte mich finster an, schwieg aber und setzte sich noch bequemer in seinen Sessel zurecht, indem er beide Füße auf einen vor ihm stehenden Stuhl legte, den er im Heranschnellen beinahe umwarf.

»Das ist schön von Ihnen!« sagte mit einem dankenden Blick der Marquis. »Aber Sie dürfen noch nicht fort –«

Und er gab mir einen Wink mit der Hand, den Niemand weiter sah, den ich aber sehr wohl verstand.

Es folgte eine Pause, die Sir Mortimer damit ausfüllte, daß er ganz leise ein Jagdlied durch die Zähne pfiff. Der alte Haushofmeister sah mich verstohlen an, ich gab ihm einen leisen Wink und saß schweigend und erwartungsvoll auf meinem Stuhl.

»Wer schläft heute Nacht bei mir?« fing der Marquis wieder an, sich an Paul wendend. »Er wird heute schlafen können – ich bin müde –«

»Charles ist an der Reihe«, antwortete dieser. »Soll ich ihn rufen?«

»Nein, nein, den will ich nicht! Er schnarcht und das ist entsetzlich – da sehe ich nicht allein, da höre ich auch –«

Er schwieg und sah uns mit einem geisterhaften Ausdruck in seinen erstarrten Mienen der Reihe nach an.

»Da haben wir's!« murmelte Mortimer; »die Visionen kommen schon wieder – o, der Doktor! der gelehrte Doktor!«

»Wer sprach da?« fuhr der Vater entsetzt auf. »Ha! wer sprach da?«

Mortimer rief laut:

»Ich bin's, Mortimer, Euer Herrlichkeit Sohn! – Er träumt schon mit offenen Augen!« setzte er etwas leiser hinzu.

»Ach! ich glaubte – geh, geh doch, Mortimer, geh! ich bitte dich – mein Sohn, mein Sohn!«

Und er ließ einen Seufzer hören, der wie das Gewimmer eines über die Erde hinschwebenden Geistes durch das stille Zimmer bebte.

Es entstand eine schreckliche Pause. Einer starrte den Andern an. Mortimer's Gesicht kam mir drohend vor. Des Marquis Antlitz war krampfhaft verzerrt; der Haushofmeister hielt den Mund vor Entsetzen geöffnet und zeigte mit einer ausdrucksvollen Gebärde auf den Kranken, der allmählich, sich rückwärts beugend, einzuschlafen schien. Wenigstens schloß er die Augen – vielleicht gab er sich auch willenlos, halb ohnmächtig, den ihn überwältigenden Phantasiegebilden hin.

Die Pause dauerte fort und mit ihr das Unheimliche der nächtlichen Szene.

»Er schläft!« sagte Sir Mortimer lächelnd und erhob sich von seinem Stuhl; »kommen Sie, daß wir ihn nicht wecken.«

Und mich am Arme fassend, zog er mich halb mit Gewalt hinaus.

»Ich werde die Nacht hier bleiben«, flüsterte der Haushofmeister, »und wenn etwas vorfällt –«

»Dann rufen Sie mich! Gute Nacht!«

Wir gingen hinaus. Ich setzte meinen Willen durch und begab mich in mein Zimmer, während Mortimer zu seinem Gelage zurückkehrte.

Es war schon längst Mitternacht vorüber, als ich die wilden Gäste noch lärmen und lachen hörte.


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