Gustav Freytag
Die verlorene Handschrift
Gustav Freytag

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Fünftes Kapitel

Tobias Bachhuber

Ilse berührte leise das Haupt des Gatten, welches in ihrem Schoße lag. Felix schlug die Augen auf, schlang den Arm um sein Weib und sah einen Augenblick befremdet auf die wilde Umgebung. Wie ein weißer Vorhang schwebte der Nebel vor dem Bogen der Höhle, der erste Schimmer des Morgens färbte in dem dunkeln Gewölbe einzelne vorspringende Zacken mit hellerem Braun, das Rotkehlchen sang, und die Amsel pfiff, das holde Licht des Tages war nahe. »Hörst du nichts?« flüsterte Ilse.

»Die Vögel singen, und das Wasser rauscht.«

»Aber unter uns im Berge arbeitet eine fremde Gewalt. Es wühlt und stöhnt.«

»Es ist ein Waldtier,« sagte der Professor, »ein Fuchs oder ein Kaninchen.«

Lauter wurde das Geräusch um den Sitz der beiden; etwas stieg an den Stein der Bank, arbeitete und seufzte wie ein Mann, der eine schwere Last trägt.

»Sieh,« flüsterte Ilse, »es kommt heraus, es schleicht um unsere Füße, dort sitzt das fremde Ding, es hat glänzende Augen, es hat einen blitzenden Mantel um.«

Der Professor stützte sich auf seine Hand und schaute nach der dunkeln Stelle am Boden, wo eine kleine Gestalt saß mit bärtigem Gesicht, den Leib verhüllt in steifem, schimmerndem Gewande. Die beiden Gatten sahen regungslos auf die Erscheinung.

»Glaubst du jetzt an die Geister des Ortes?« fragte leise der Gatte.

»Ich fürchte mich, Felix, ich sehe deutlich das Gold des Kleides, ich sehe einen kleinen Bart und ein häßliches Gesicht.« Sie erhob sich.

»Bist du der Zwergkönig Alberich?« fragte der Professor, »und liegt hier der Nibelungenhort?«

»Es ist der rote Hund,« rief Ilse, »er hat ein Röckchen an.«

Der Professor sprang auf, der Hund legte sich ihm winselnd vor die Füße; der Gelehrte beugte sich nieder, fühlte einen fremden Stoff um den Leib des Hundes und riß die Hülle ab. Er trat in den Eingang und hielt sie gegen das Dämmerlicht; es war alter vermoderter Stoff mit Goldfäden durchwirkt. Der Hund fuhr befreit von seiner Last mit Geknurr aus der Höhle. Der Professor sah lange auf das zerschlissene Gewebe, ließ den Lappen fallen und sagte ernsthaft: »Ilse, ich bin am Ziel meines Suchens. Dies sind die Überreste eines geistlichen Meßgewandes. Der Hund hat dies aus einem Loch gezogen, in das er spürend gekrochen war, der Schatz der Mönche liegt hier in der Höhle. Ich bin fertig mit meinen Hoffnungen. Vor wenig Tagen hätte mich diese Entdeckung schwindeln gemacht, jetzt liegt eine so finstere Erinnerung darüber, daß mir die Freude an allem, was die Tiefe bergen muß, fast geschwunden ist.«

Am andern Ufer wurden Stimmen laut; Hans rief wieder durch den Nebel ein Holla, er grüßte die Schwester und Felix, welche auf die Platte vor der Höhle traten, mit lautem Jubelruf: »Das Wasser ist gefallen.« Die andern Geschwister stürmten nach, traten dicht an das Wasser, jauchzten und schrien; Franz brachte ein Butterbrot in Zeitungspapier und erklärte seine Absicht, dies Frühstück hinüberzuwerfen, damit die Leute drüben nicht verhungerten. Die Kinder bekämpften diesen Entschluß, und eifrig wurde über einen Plan gehandelt, Bindfaden an einem Ball überzuwerfen und das Butterbrot daran zu befestigen. Das Tagesleben des Gutes klang wieder in gewohnter Weise.

»Ist Fritz angekommen?« rief der Professor über den Strom.

»Sie sind noch in Rossau,« rief Hans, »die Brücke ist erst gegen Morgen fertig geworden. Herr Hummel ist auf und hinab.«

Auch der Vater kam, gefolgt von einem Trupp Arbeiter, welche Balken und Bretter herzutrugen. Die Männer gingen ins Wasser und trieben dort eine Unterlage in den weichen Boden, auf der sie einige schlanke Baumstämme über das Wasser legten. Der Professor zog an dem zugeworfenen Seile; nach stündiger Arbeit war ein schmaler Steg errichtet. Der Landwirt war der erste, der zu seinen Kindern herüberkam. Die Männer wechselten ernsten Gruß. »Haben die Leute am Tage eine Stunde Zeit,« sagte der Professor, »so mögen sie hier noch ein letztes Werk tun; der Versteck des Mönches war in dieser Höhle.«

 

Zu derselben Zeit stieg Herr Hummel mit schnellen Schritten zur Stadt Rossau hinab. Noch arbeiteten die Zimmerleute über der Brücke, er warf einen bedenklichen Blick auf die Stelle, wo er im Wasser die Füße des jungen Prinzen gefaßt hatte, und brummte: »Er ging unter wie eine Kanonenkugel. Tüchtigkeit zur See fehlt diesem Volke oben und unten, sie haben in der ganzen Gegend nicht einmal einen Kahn. Vor zwanzig Jahren soll einer hier gewesen sein, wie das Gerücht geht; er ist zu Kaffeeholz zerschlagen. Der beste Dank an diesen Bielstein für die Unruhe, die wir ihm machen, wird sein, daß ich ihm einen Kahn unter seine Strohbündel schicke.«

Mit diesem Vorsatz trat er in die Tür des Lindwurms. Dort traf er auf den verschlafenen Wirt. »Wo ist das junge Paar, das gestern abend hier ankam?«

»Sie werden wohl noch oben sein,« sagte dieser gleichgültig, »die Rechnung ist noch nicht bezahlt.«

»Sie sind ein Gastwirt für reisende Faultiere, aber nicht für Menschen,« rief Herr Hummel, »ich habe längst gewünscht, ein solches monströses Fossil lebendig zu erblicken. Natürlich, Ihr Hotel ist zu groß, als daß Sie sich um jeden gemeinen Reisenden kümmern könnten. Ihre Gäste putzen sich die Stiefel, und Sie schreiben die Rechnung. Haben Sie die Güte, mir die Klingel zu Ihrem Portier nachzuweisen.« Als er zum Oberstock hinaufsteigen wollte, hörte er einen Freudenschrei. »Vater, mein Vater,« rief Laura die Treppe hinabstürzend; sie warf sich ihm an den Hals und hielt ihn fest mit so warmem Ausdruck ihrer Zärtlichkeit und Trauer, daß Herr Hummel gnädig wurde. »Gesindel!« rief er, »habe ich euch erwischt? Wartet, ihr sollt mir die Entführung teuer bezahlen.«

Der Doktor polterte ebenfalls von oben herab und begrüßte freudig Herrn Hummel. »Euer Wagen fährt mit den Sachen nach, wir gehen voran,« befahl Herr Hummel. »Wie war dein Don Juan?« fragte er die Tochter leise.

»Vater, er hat wie ein Engel für mich gesorgt und die ganze Nacht auf einem Stuhl vor meiner Tür gesessen. Es war schrecklich, mein Vater.«

»Und wie gefällt dir eine solche Entführung? Sie ist poetisch, sie gibt große Gefühle, man vermeidet dadurch den Baumkuchen und die ungesalzenen Scherze des Mimen.«

Laura aber drückte sich an den Vater und sah ihn flehend an, bis Herr Hummel sagte: »Es war also eine Kur. Dann will ich gern die Rechnung des Lindwurms bezahlen.«

Sie schritten miteinander zum Tor hinaus, Hummel zwischen den beiden Entführten. »Wie war sie unterwegs?« fragte er den Doktor vertraulich.

»Sehr liebenswürdig,« rief dieser, den Arm des Vaters drückend, »aber ängstlich, ich wurde viermal auf den Kutschbock geschickt, weil ihr die Reue ankam.«

»Warum sind Sie als Mann hinaufgeklettert?« fragte Hummel entrüstet.

»Mir war lieb, daß sie das Ungewöhnliche der Reise so tief empfand.«

»Mir ist lieb, daß mein Pudel ins Wasser geht, sagte der Floh und ertrank,« spottete Herr Hummel. »Weshalb sahen Sie die Angst meines Wurms nicht ruhig an? Es hätte Ihnen manchen Tanz mit ihr erspart, wenn Sie gleich am ersten Tag fest gewesen wären.«

»Sie war noch nicht meine Frau, Herr Hummel,« sagte der Doktor.

»Also geduldige Bosheit,« versetzte der Vater, »Sie mögen Ihr Schicksal abwarten.«

Als sie in die Nähe des Hofes kamen, die Tochter am Arm des Vaters, den sie nicht mehr loslassen wollte, begann dieser: »Heut kein Wort über eure greuliche Entführung. Vor den Leuten hier habe ich deinen Unsinn vertuscht und einen Mantel umgehangen, damit du die Augen aufschlagen kannst. Ihr seid angemeldet und erwartet als ruhige Reisende. Wir bleiben heut hier zusammen, morgen spreche ich als Vater ein letztes Wort mit deiner Poesie.«

Vor dem Tore empfing die Wanderer fröhlicher Gruß der Hausgenossen. Der Professor und der Doktor lagen einander in den Armen. »Du kommst zu guter Stunde, Fritz, das Abenteuer, welches wir vor Jahren hier begannen, heut kommt es zum Ende. Der Schatz des Frater Tobias ist entdeckt.«

Nach einigen Stunden brach die ganze Gesellschaft zur Höhle auf, die Werkleute folgten mit Eisen und Hebebäumen.

Der Landwirt betrachtete den Steinblock im Hintergrunde der Höhle, unten an der Seite sah er ein Loch, dasselbe, aus welchem der Hund zur Oberwelt gestiegen war. »Diese Öffnung ist neu,« rief er, »sie war jedenfalls durch einen Stein verschlossen, der hinabgefallen ist.«

Die große Steinbank wurde mit Anstrengung weggewälzt, eine Öffnung, so weit, daß ein Mann ohne Schwierigkeit einkriechen konnte, zeigte sich dem Blick. Die Lichter wurden hineingehalten, sie erhellten eine abwärts geneigte Fortsetzung der Höhle, die noch mehrere Ellen tief in den Berg hineinging. Es war ein wüster Raum. Sicher war er in der Mönchszeit trocken gewesen, aber er war es nicht mehr. Baumwurzeln hatten den zerklüfteten Felsen auseinandergetrieben, oder Schichten des Gesteins hatten sich in nasser Zeit gesenkt, es war vom Berge her ein Zugang für Wasser und Tiere entstanden, Waldstreu und Knochen bildeten eine wirre Masse. Die Arbeiter fuhren mit ihren Werkzeugen hinein und räumten auf, neugierig saßen und standen die Anwesenden umher, der Professor trotz seiner Ruhe, dicht an dem Schatze. Den Doktor aber litt es nicht lange zuzusehen, er zog seinen Rock aus und stieg in die Öffnung. Vermoderte Stücke eines dicken Tuches wurden heraufgebracht, wahrscheinlich war der Schatz in einem großen Sack zu seinem Versteck gefahren worden. Dann kamen Altardecken und geistlicher Ornat.

Ein froher Ruf, der Doktor reichte ein Buch hinauf, das Antlitz des Professors war hoch gerötet, als er danach griff. Es war eine Missale aus Pergament. Er gab es dem Landwirt, der jetzt mit großem Anteil auf den lange geleugneten Schatz blickte. Der Doktor reichte das zweite Buch, alle drängten sich herzu, der Professor saß auf dem Boden und las, es war eine jämmerlich zugerichtete Handschrift des heiligen Augustinus. »Zwei,« sagte er, seine Stimme klang rauh vor innerer Bewegung. Der Doktor reichte das dritte Buch, wieder geistliche lateinische Hymnen mit Noten. Das vierte ein lateinischer Psalter. Der Professor hielt die Hand hin, und die Hand zitterte; »gib her,« rief er.

Dumpf klang die Stimme des Doktors aus der Höhlung: »Es ist nichts mehr darin.«

»Sieh genauer nach,« sagte der Professor mit stockendem Atem.

»Hier das letzte,« rief der Doktor und reichte ein viereckiges Brettchen heraus, »und hier noch eins.« Es waren zwei Bücherdeckel aus festem Holz, die Außenseite mit geschnitztem Elfenbein überzogen. Der Professor erkannte beim ersten Blick an der gebräunten Platte, in den abgestoßenen Figuren die byzantinische Arbeit der letzten römischen Zeit, eine Kaisergestalt auf dem Throne, über ihr Engel mit der Glorie. Großes Quadrat, Arbeit des fünften oder sechsten Jahrhunderts. »Es sind die Deckel der Handschrift, Fritz, wo ist der Text?«

»Kein Text vorhanden,« tönte die dumpfe Stimme des Doktors.

»Nimm das Licht und leuchte.« Der Doktor nahm auch die zweite Leuchte hinein, er fuhr mit Hand und Hacke an jedem Punkte des Felsens umher, er warf die letzte Nadel Waldstreu hinaus und den letzten Überrest des Sackes. Es war nichts von der Handschrift zu sehen, kein Blatt, kein Fidibus. Der Professor sah auf die Deckel. »Man hat sie abgerissen,« sagte er tonlos, »wahrscheinlich hielten die Mönche den römischen Kaiser in Elfenbein für einen Heiligen.« Er hielt die Deckel an das Licht, auf der innern Seite des einen waren unter Staub und Moder in alter Mönchschrift die Worte zu lesen:

»Von Ausfahrt des Schweigenden.«

Jetzt fuhr der Schweigende aus seiner Höhle, aber er schwieg, sein Mund blieb stumm für immer.

»Unser Traum ist zu Ende,« sagte der Professor gefaßt, »die Mönche haben den unleserlichen Text aus den Deckeln gerissen und zurückgelassen, die Handschrift ging wohl nicht mehr in den gefüllten Sack. Der Schatz ist verloren für das Wissen unseres Geschlechtes. Die Hand berührt, was einst Hülle der Handschrift war, und uns wird das schwere Gefühl nicht erspart, um das Unwiederbringliche zu trauern, als wäre es vor unsern Augen untergegangen. Wir aber kehren besonnen an das Licht zurück und tun unsere Pflicht, lebendig zu machen, was erhalten blieb, für unser Geschlecht und für die, welche nach uns sein werden.«

»Bachhuber hieß dieser Genius,« rief Herr Hummel, »er war seinem Zeichen nach ein Esel.«

Der Landwirt aber legte die Hand auf die Schulter des Sohnes. »Gegen den Landwirt habt ihr Gelehrten zuletzt doch recht behalten,« sagte er. »Schließt die Öffnung wieder mit der Steinbank,« befahl er den Arbeitern, »die Höhle soll werden, wie sie war.«

Still kehrte die Gesellschaft zum alten Hause zurück, die Knaben trugen die Bücher, die Mädchen die Bündel zerschlissener Mönchsgewänder, sie machten Pläne, die Goldfäden für sich herauszuziehen, der Professor hielt die Deckel der verlorenen Handschrift.

Als sie das Haus betraten, klapperte von der andern Seite Hufschlag, der Landwirt trat in die Tür, der alte Oberförster hielt auf seinem Rappen an. »Ich reite in Eile über den Hof, Bescheid zu sagen; bei uns geht's drunter und drüber, Hofbeamte, Minister, von allen Seiten werden Ärzte geholt, meine Leute sind sämtlich fortgeschickt, ich muß selbst nach Rossau, einen Kurier zu bestellen. Ich fürchte, mit dem Herrn steht's schlecht, er erkennt niemanden. Jetzt erwartet der Erbprinz noch die Ankunft des Leibarztes, so bald dieser die Erlaubnis gibt, wird die Gesellschaft nach der Residenz aufbrechen. An allem Schrecken ist dieser unglückliche Umbau meiner stillen Wohnung schuld. Noch eins, weil mir's gerade einfällt. Ihr Schwiegersohn sucht ja alte Papiere und Bücher. Da stehen bei uns noch einige Kisten mit solchem Plunder aus uralter Zeit, wo die Oberförsterei noch fürstliches Pürschhaus war, über der Tür ist unter der Tünche ein fremdes Wort zu erkennen: Solitudini, welches ›in der Einsamkeit‹ bedeuten soll. Die Kisten sind morsch, beim Bau werden sie doch von der Stelle geschafft. Ist's bei uns ruhiger, dann könnte der Herr Professor vielleicht einen Blick darauf werfen.«

»Da ist auch das Lustschloß Solitude mit den echten Kisten der Beamten,« rief der Professor. »Ich tue keinen Schritt mehr nach jenem Hause.«

Der Doktor ergriff seinen Hut, sprach leise mit Laura und dem Landwirt. »Ich bitte mich für heut zu beurlauben,« sagte er hinausgehend.

Erst am Abend kehrte er zurück. »In den Kisten sind Baurechnungen vom Ende des siebzehnten Jahrhunderts über Ausbesserungen am Klostergebäude und über diesen Hof. Außerdem einige Bände Corneille. Der Kandidat, welcher nach Amerika ging, ist mit dem Oberförster verwandt.«

»Wir sind geneckt worden,« sagte der Professor ruhig. »Es ist gut, daß jeder Zweifel geschwunden ist.«

»Nun,« entgegnete der Doktor, »daß die alte Handschrift zerstört sei, dafür haben wir keinen Beweis. Es ist immer noch möglich, daß sie ganz oder in Trümmern irgendwo zum Vorschein kommt. Wer weiß, auf welchen Bücherrücken ihre Streifen kleben.«

»Auf den Büchern, welche der Schwede mit Flammenschrift in Rossau geschrieben hat,« versetzte der Professor mit trübem Lächeln. »Wir sind fertig mit der Handschrift, Fritz, die Quälgeister sind uns gründlich gebannt.«

 

In der frühen Morgenstunde des nächsten Tages fuhr eine Reihe Hofwagen von der Oberförsterei ab; der erste war dicht geschlossen, in ihm lag der kranke Fürst, behütet von seinen Ärzten, ein aufgegebener Mann. Vor der Fahrt winkte der Erbprinz den Oberförster an seinen Wagen. »Gibt es einen andern Weg nach Rossau als durch den Hof jenes Gutes?«

»Über die lange Höhe, durch den Wald, es ist ein Umweg,« erwiderte der Oberförster.

»Wir fahren den Waldweg,« befahl der Erbprinz. Unterwegs begann er zu seinem Begleiter: »Ich erwarte von Ihrem Charakter, Weidegg, daß Sie bei jeder Gelegenheit den Menschen, welche dort wohnen, achtungsvolle Zuneigung beweisen werden. Ich bin der Sohn des kranken Fürsten, welchem dort von einer Stimme die Aufnahme versagt wurde. Ich werde die Schwelle jenes Hauses nie wieder betreten, und ich wünsche, daß Sie den Namen der Frau in meiner Gegenwart niemals erwähnen.«

Der traurige Zug bewegte sich nahe bei der Stelle vorüber, wo einst der Blitzstrahl die Fichte zerschlagen. Im Schritt fuhren die Wagen auf dem Holzwege des Bergrückens. »Fahren Sie voraus,« sagte der Prinz, »ich gehe eine Strecke zu Fuß«. Er trat auf den Gipfel des Berges, das junge Tageslicht färbte die düstern Büschel des Heidekrauts mit goldigem Grün. Von derselben Höhe, wo einst eine frohe Gesellschaft gerastet hatte, sah der Prinz hinab auf den Bielstein, welcher aus dem weißen Frühnebel ragte, auf Dach und Erker des alten Hauses. Lange stand der Prinz regungslos, von dem Turm der Dorfkirche klang das Glöckchen in die Bergluft hinaus, er neigte sein Haupt, bis der leise Ton verhallt war, dann streckte er grüßend die Hand nach dem Steine aus, wandte sich schnell ab und schritt den Waldweg entlang.

 

Auf dem Hofe des Bielsteins aber krähten zu derselben Stunde die Hähne, die Sperlinge schrien im Weinlaub, die Leute rüsteten sich zur Arbeit des Tages. Da pochte die Faust des Herrn Hummel dreimal an die Stubentür, hinter welcher seine Tochter Laura schlief. »Steh auf, entführtes Wurm,« brummte er, »wenn dir noch lohnt, von deinem verlassenen Vater Abschied zu nehmen.« Lauras Kopf guckte durch einen Türritz.

»Vater, du willst uns doch nicht verlassen?«

»Du hast mich verlassen,« versetzte Hummel, »wir wollen noch schnell die letzten Redensarten miteinander abmachen. Zieh dich ordentlich an, du sollst mich den Berg hinab begleiten, ich warte unten im Hausflur.« Er mußte eine gute Weile seiner Tochter harren, ging ungeduldig auf und ab und sah nach der Uhr. »Glauben Sie mir, Gabriel,« versicherte er dem Diener, der in seinem besten Staat zu ihm trat, »vieles Unglück kommt von den langen Haaren der Weiber. Deshalb können sie nie zur rechten Zeit fertig werden, darin liegt ihr Vorrecht, womit sie uns vexieren, und darum behaupten sie, das schwächere Geschlecht zu sein. Ordnung und Pünktlichkeit werden nie erreicht, wenn nicht dem ganzen Frauenvolk an einem Tage der Zopf abgeschnitten wird.«

Laura schwebte die Treppe herab, hing sich an den Arm des Vaters und streichelte ihm mit der kleinen Hand die Wange.

»Komm in den Garten, Theaterprinzessin,« brummte er, »ich habe mit dir noch einige Augenblicke allein zu reden. Entführt wärst du, den Skandal hast du durchgesetzt. Wie ist dir zumute?«

»Bangsam, lieber Vater,« sagte Laura kleinlaut. »Ich weiß, daß es eine Torheit war, und Ilse sagt es auch.«

»Dann wird's schon richtig sein,« bestätigte Hummel trocken. »Und was soll jetzt mit dir werden?«

»Was du willst, mein Vater,« erwiderte Laura. »Fritz und ich sind der Meinung, daß wir dir unbedingt zu folgen haben. Ich habe durch meine Torheit jedes Recht verloren, dir einen Wunsch auszusprechen. Wenn ich noch bitten darf,« setzte sie furchtsam hinzu, »ich möchte einige Zeit hier bleiben.«

»Also du willst deinen Entführer wieder loswerden?«

»Er geht zu seinen Eltern zurück, und wir warten, mein Vater, bis er einen Ruf bekommt an eine Universität, er hat Aussichten.«

»So?« sagte Hummel kopfschüttelnd, »das alles wäre vor der Entführung verständig gewesen; jetzt ist es zu spät. Ihr seid bereits miteinander in der Kirche aufgeboten, einmal für dreimal.« Laura trat zurück. »Das taten die Leute nicht anders,« fuhr Hummel fort. »Als bekannt wurde, daß ihr ausgerissen seid, hat sich die Geistlichkeit nicht nehmen lassen, euch aufzubieten; ihr wart noch nicht lange zum Tore hinaus, als dieses Unglück vor sich ging.«

Laura stand erschrocken, ein heißes Rot fuhr ihr über die Wangen. In der Waldkirche unten läutete das Glöckchen. Herr Hummel zog ein Papier aus der Tasche. »Das sind diese verdammten alten Patenhandschuhe, ich wünsche dies Zeug endlich loszuwerden. Hier hast du deine Ausstattung, weiter kann ich dir nichts mitgeben. Zieh sie schnell an, damit die Leute wenigstens an deinen Fingern merken, daß für dich heut ein Festtag ist. Bei der Geschichte mit dem Trauringe kannst du sie schnell wieder abziehen.«

»Vater!« rief Laura und rang die Hände.

»Du wolltest ja keinen Baumkuchen leiden,« spottete Hummel, »da muß das Hochzeitskleid und manches andere auch entbehrt werden. Dieser Schrecken wäre passender gewesen vor der Entführung, jetzt wird unweigerlich geheiratet, entweder zur Stunde oder gar nicht. Meinst du, daß man nur zum Spaß in die Welt zieht?«

»Meine Mutter!« rief Laura, und die Tränen stürzten ihr aus den Augen.

»Du hast ja deiner Mutter entlaufen wollen, und wenn dein Vater nicht aus guter Meinung zu den fremden Leuten gekommen wäre, so hättest du das Geschäft ganz allein abgemacht. Unsern hausbackenen Bürgergefühlen wolltest du ja aus dem Wege gehen.«

Laura hielt sich mit zitternder Hand an einen Baum und sah den Vater flehend an. »Du bist doch nicht so kühn, als ich dachte, jetzt kommt der Banghase bei dir zum Vorschein.«

Laura warf sich an die Brust des Vaters und schluchzte an seinem Herzen, er streichelte ihr die Locken. »Kleine Hummel,« sagte er herzlich, »Strafe muß sein, und es ist keine harte Strafe; mir ist recht, daß du ihn heiratest. Er ist ein braver Mann, das habe ich gemerkt, und wenn es dein Glück ist, ich will schon mit ihm auskommen, du mußt nur nicht gleich summen und schwärmen, wenn ich einmal auf meine Art bürste. Es ist mir auch recht, daß du ihn heut heiratest, das ist jetzt für alle Teile gut, deine Brautgefühle kannst du später haben, mache nachher deine Rührung durch, wie du willst. Jetzt sei mein tapferes Kind, wir dürfen die andern nicht warten lassen. Bist du bereit?«

Laura weinte, aber es klang leise wie ein Ja.

»Dann wollen wir den Bräutigam wecken,« entschied Hummel, »ich glaube, dies Opferlamm schläft noch ohne Ahnung seines Schicksals.«

Er verließ seine Tochter, eilte zur Tür des Doktors und sah in das Zimmer. Fritz lag in festem Schlummer. Hummel ergriff die Stiefel, welche vor der Tür standen, und setzte sie hart vor das Bett.

»Guten Morgen, Don Juan,« brummte er. »Haben Sie die Güte, sich sogleich in dieses Leder hineinzubemühen. Dies sind Ihre Brautstiefel. Meine Tochter Laura läßt Sie ersuchen, sich zu beeilen, der Geistliche wird ungeduldig.«

Der Doktor sprang mit beiden Beinen aus dem Bett. »Ist das Ernst?« fragte er.

»Greulicher Ernst,« sagte Hummel.

Auf den Doktor brauchte er nicht lange zu warten. Er trat in den Garten, wo Laura noch immer allein in der Laube saß, ängstlich wie ein eingesperrter Vogel, der sein Bauer nicht zu verlassen wagt. Hummel führte den Doktor zu ihr. »Da habt ihr euch,« begann er feierlich. »Es ist ein schöner Morgen, gerade wie damals, wo ich als Wanderbursch auszog. Heut schicke ich mein Kind in die Welt, und das ist eine andere Sorte von Gefühlen. Ich habe nichts dagegen, wenn ihr glücklich miteinander lebt, bis zuerst eure Kinder von euch in die Welt laufen, dann die Enkel. Denn der Mensch ist wie ein Vogel, er müht sich und trägt die Halme zusammen für sein Haus, aber die junge Brut achtet das Nest der Eltern nicht. So wird der alte Rabe jetzt allein sitzen und wenige finden, die sich über sein Krächzen ärgern. Nehmen Sie meinen Dickkopf hin, lieber Fritz, lassen Sie ihr nicht zu viel Willen. Ich habe Sie mir einige Zeit angesehen, und ich will Ihnen jetzt etwas im Vertrauen sagen, bei der Geschichte mit den Katzenpfoten fiel mir ein, daß Sie am Ende kein übler Mann für diese Hummel wären. Daß Sie Hahn heißen, ist zuletzt auch nur ein Unglück.« Er küßte beide recht herzlich. »Jetzt kommt, ihr Ausreißer, denn die andern warten.« Hummel schritt vor seinen Kindern nach dem Hause, er öffnete die Tür der Wohnstube, die ganze Familie war versammelt. Laura flog zu Ilse und verbarg ihr heißes Gesicht an der Brust der Freundin. Diese nahm den Brautkranz, den die Schwestern herzutrugen, und setzte ihn auf Lauras Haupt. Gabriel öffnete die Tür. Vor Jahren hatte der Doktor den Freund von den Brombeerranken an der Mauer in die Kirche gezogen, jetzt schritt auch er, die Geliebte an der Hand, in die kleine Dorfkirche, wieder streuten die Kinder Blumen. Als der Geistliche die Hände des Brautpaars zusammengab, faßte auch Ilse die Hand ihres Gatten.

»Die Mutter fehlt,« sagte Hummel zu der Neuvermählten, als diese ihm nach der Trauung um den Hals fiel. »Und des Doktors Wirtschaft auch. Ihr aber seid Bürgerkinder, und wie erhaben eure Gefühle sind, ihr werdet euch unserm Brauche fügen. Ihr reist von hier nach eurer Vaterstadt zurück. Dort werden die Mütter euch Nachhochzeit halten, und du, Landläuferin, sollst den schlechten Gedichten nicht entgehen. Ihr werdet mich entschuldigen, wenn ich an diesem Tage nicht zu Hause bin, ich mache meine Geschäftsreise, und zweimal in einer Woche sein Kind zu verheiraten, schickt sich nicht.« Leise erklärte er der Tochter: »Unter uns, ich mag nicht mit der Hühnerfamilie zusammen in den bewußten Brautkuchen picken.«

»Ihr sollt nicht bei mir wohnen und nicht in dem Hause drüben, das hat die Freundin hier geraten, und es ist mir ganz recht. Nach dem Hochzeitessen mögt ihr einige Wochen reisen, dann aber kehrt ihr in die Heimat zurück.«

»Die Brautreise macht ihr allein,« sagte der Professor, »nicht mit uns. Ilse und ich sind entschlossen, nach kurzer Rast zur Stadt zurückzukehren. Ich habe noch einige Monate dieses Sommers vor mir, ich will sie wenigstens für einen engern Kreis von Zuhörern nützlich machen. Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.«

 

Es war um die Osterzeit des folgenden Jahres, da standen Herr Hummel und Gabriel, beide in festliches Schwarz gekleidet, vor der Tür des Hauses Nr. 1 in der Parkstraße.

»Ich war bei ihr,« begann Herr Hummel vertraulich zu Gabriel, »ich habe ihr diesmal das Geld selbst gebracht, weil Sie das wollten. Bei den Wirtsleuten und Nachbarn habe ich mich nach ihr erkundigt. Sie hält sich ordentlich, und das Wesen ist verändert. Viel Wasser, Gabriel,« er wies auf die Augen.

»Sie waren doch freundlich zu ihr?« fragte Gabriel finster.

»Wie ein Lamm,« versetzte Hummel, »und sie gleichfalls. Die Stube war dürftig, ein einziges Bild hing darin ohne Rahmen, Gabriel, als eine Erinnerung an ihren glücklichen Stand in jenem Hause. Es war ein Hahn mit goldenen Federn.«

Gabriel wandte sich ab.

»Zuletzt wurde der Aufenthalt für meine trockene Konstitution zu feucht. Aber es wird für sie gesorgt. Sie soll in ein anständiges Geschäft als Verkäuferin, und für den illegitimen Knips werden die Frauen sorgen. Ich habe mit Madame Hummel gesprochen und diese mit der Hahnfrau drüben, die beiden werden ihren wohltätigen Kohl zurechtkochen. Denn was Sie betrifft, Gabriel, allen Respekt, aber was zu viel ist, das ist zu viel.«

Herr Hummel faßte achtungsvoll einen Westenknopf Gabriels und drehte das abgewandte Antlitz mit dem Knopf wie durch eine Schraube auf sich zu. Dann sah er eine Weile in die trüben Augen, ohne ein Wort zu sprechen. Aber die beiden verstanden einander. »Es war eine schwere Zeit, es war eine tolle Zeit, Gabriel, in jeder Hinsicht,« begann Herr Hummel endlich kopfschüttelnd, »was wir mit Souveränen ausgeführt haben, war keine Kleinigkeit.«

»Er hatte wenig Gewicht,« sagte Gabriel, »und trug sich wie eine Feder.«

»Darauf kommt's gar nicht an,« erwiderte Herr Hummel, »die Sache war verdienstlich. Denken Sie, was das heißt, einen jungen Fürsten zu retten, das machen uns wenige nach. Und mir kamen einen Augenblick ehrgeizige Gedanken. Nämlich der Kammerherr, kein übler Mann, und ein alter Bekannter von uns, rührte mich auf, als er neulich vorsprach.«

»Er hat auch mich rufen lassen,« unterbrach ihn Gabriel mit Selbstgefühl. »Der Prinz Viktor hatte ihm aufgetragen, er sollte mir seine Grüße ausrichten und sagen, der Prinz würde jetzt die Prinzessin heiraten.«

»Auch diese Art von Hofbesitzern wird häuslich,« nickte Herr Hummel, »das ist doch wenigstens ein Anfang. Also der Kammerherr versicherte mich höchster Dankbarkeit, machte so seine Redensarten und stichelte endlich auf ein Prädikat, wissen Sie, was das ist?«

»Hm,« entgegnete Gabriel, »wenn es etwas ist, was man bei diesem Hofe verschenkt, so wird es sich wohl mit einer bunten Schweinsblase vergleichen, in welcher kein Tabak ist, es wird wohl ein Titel sein.«

»Getroffen,« entschied Herr Hummel. »Was meinen Sie zu Herr Hofhutfabrikant und Hausbesitzer Heinrich Hummel?«

»Schwindel,« antwortete Gabriel.

»Richtig, es war eine Schwäche, aber ich kam noch zu rechter Zeit dahinter. Denn ich fragte diesen Kammerherrn: welche Zumutung würden Sie dafür an mich richten? Gar keine, sagte er, als daß Sie ein ansehnliches Geschäft darstellen. Das ist mein Fall, sagte ich. Aber was für Hüte wird man bei mir suchen? Denn wer Erfahrungen gemacht hat wie ich, der wird mißtrauisch. Und sehen Sie, Gabriel, da kam der Schwindel heraus. Denn was war seine Ansicht und Zumutung? Ich war in seinen Augen ein Mann, bei dem auch Strohhüte umgingen. Da dankte ich für die Ehre und drehte ihm den Rücken.«

»Nun,« wandte Gabriel ein, »bei diesem Stoff muß eine Milderung eintreten. Wir sind ja jetzt gute Freunde mit denen drüben, und wenn Sie Ihre Tochter dem Hause verwilligt haben, warum nicht auch einen Artikel in das Geschäft?«

»Mengen Sie mir nicht diese Dinge durcheinander,« wehrte Herr Hummel ärgerlich. »Es ist schlimm genug, daß ich als Vater und gewissermaßen auch als Nachbar meinen alten Zorn verloren habe. Worüber soll man sich jetzt noch ärgern, wenn hier die Hand gedrückt und dort unter der verdammten Muse Familienpunsch getrunken wird? Nein, ich war ein schwacher Vater, ich war als Nachbar ein unverantwortlich leichtsinniger Mann. Aber, Gabriel, auch der Wurm, welcher getreten wird, behält noch seinen Stachel. Und mein Stachel ist das Geschäft. Darin bleibt die Feindschaft. Jedes Frühjahr die Rachsucht und bei der Winterkälte mein Triumph. Mein Kind habe ich verloren, mein Geld habe ich diesen Phantasten hinübergetragen, aber ich bin immer noch Manns genug, um es mit dem da drüben aufzunehmen.« Er sah auf die leere Stelle der Freitreppe, wo sonst sein Hund Speihahn zu sitzen pflegte. »Dieser fehlt mir,« fuhr Herr Hummel fort, nach der Tiefe zeigend.

»Er ist dahin und aus der Menschheit ausgewischt,« sagte Gabriel.

»Er war ein Hund nach meinem Herzen,« beteuerte Hummel, »und ich habe daran gedacht, was meinen Sie, Gabriel, wenn ich ihm im Garten ein Denkmal setzte? Hier an der Straße, nur ein niedriger Stein, und darauf nur das eine Wort Speihahn. Wenn die Pforte offen steht, würde man's über die Straße lesen können. Es wäre ein Gedächtnis für das arme Tier und außerdem an die gute Zeit, wo man einem Hahn noch die Federn rupfen konnte, ohne wegen Kindesmord angeschrien zu werden.«

»Es geht nicht,« versetzte Gabriel, »was würden die Schwagersleute drüben dazu sagen?«

»Pfui Teufel!« rief Herr Hummel und wandte sich ab.

Ja, Speihahn war der Menschheit entwischt. Seit jener Stunde, wo er im dämmrigen Morgengrauen den goldenen Chorrock des seligen Bachhuber als Halskrause um sich geschlagen hatte, war er verschwunden. Keine Forschung, kein Geldgebot des Herrn Hummel vermochten seine Spur zu ermitteln, vergebens wurden die Schäfer und Gutsarbeiter der Umgegend, sogar die Behörden von Rossau in Bewegung gesetzt, er war entwischt wie ein Geist. Die Stelle an der Freitreppe blieb leer. Die Lücke, welche er in der bürgerlichen Gesellschaft zurückließ, wurde durch jüngeres Hundegeschlecht der Parkstraße ausgefüllt; die Nachbarschaft fühlte bei jedem Gange auf der Straße ein Behagen, welches sie lange entbehrt hatte, der Zigarrenhändler stellte seine Bank wieder an Herrn Hummels Garten, und die weißgekleideten Fräulein, welche nach dem Stadtpark zogen, entsagten allmählich der Gewohnheit, vor dem Hause des Herrn Hummel abzubiegen und auf die Strohseite hinüberzuflüchten. Speihahn wurde von vielen ohne Bedauern vergessen, nur bei alten Insassen der Straße blieb die Erinnerung an ihn als finstere Sage. Gabriel allein dachte jeden Abend an den Verlorenen, wenn er die kleinen Knochen für gleichgültige Nachbarhunde zurückstelle. Aber er wunderte sich über das Verschwinden des Hundes nicht. Er hatte längst gewußt, daß es mit dieser Kreatur so oder so kommen müsse.

Diese Ansicht war eine Bestätigung geworden, an welche Gabriel sein ganzes Leben hindurch dachte. Denn als er im Herbst mit seiner Herrschaft wieder den Bielstein besuchte, hatte er sich einmal einen freien Nachmittag erbeten und war, wie er jetzt öfter tat, allein mit seinen Gedanken dahingeschritten. Er ging im Wald weit über die Oberförsterei hinaus, zwischen dicken, bemoosten Buchenstämmen, zwischen Farnkraut und Heidelbeeren. Es wurde Abend, graue Dämmerung legte sich um den Wanderer, er war über seine Richtung unsicher geworden und suchte unruhig den Weg nach Hause. Ganz in der Ferne rollte der Donner, und zuweilen fuhr ein gelber Schein über den Himmel und erhellte für einen Augenblick die Baumstämme und den Moosgrund. Bei solchem hellen Schein sah er sich plötzlich an einem Kreuzweg; er fuhr zurück, denn wenige Schritte von ihm schritt quer über den Pfad eine große dunkle Gestalt, einen breitkrempigen Filzhut auf dem Haupt, ein Gewehr auf der Schulter, ohne Gruß und lautlos glitt sie vorbei. Gabriel stand und staunte. Wieder ein Schein, und denselben Weg liefen zwei Hunde, ein schwarzer und ein rötlicher Köter mit dickem Kopf und gesträubtem Haar; plötzlich blieb der rote stehen, wandte sich gegen Gabriel, und dieser sah deutlich an dem Ende des Hundes eine Quaste, welche sich wedelnd regte. Im nächsten Augenblick tiefe Finsternis, Gabriel hörte vor seinen Füßen ein leises Winseln, und ihm war, als ob etwas seine Stiefeln lecke. Noch ein leises Rauschen, dann war alles still.

Die auf dem Gute behaupteten, es sei ein Wilddieb oder der große Waldbelaufer jenseit der Grenze gewesen; Gabriel aber wußte, wer der Nachtjäger war und wer der Hund war. Der den Hund einst in Hummels Haus geschickt, ohne Geld und ohne Namen, der hatte ihn auch abgerufen. Der Hund bellte jetzt wieder durch die Nacht, wenn der Sturm wie ein Hifthorn blies, wenn die Wolken unter dem Monde dahinflogen und die Bäume ihre Gipfel ächzend zur Erde neigten. Dann lief er über die Berge von Rossau, durch die Gründe des Bielsteins, er heulte, und der Mond lachte spöttisch auf die Stelle herab, an welcher Tobias Bachhuber seinen Schatz deponiert hatte, darunter die Deckel der verlorenen Handschrift.

Aber wenn keinem Beobachter zweifelhaft sein konnte, was es mit diesem Hunde für ein Ende nehmen mußte, weit unsicherer ist das Urteil der Gegenwart über eine andere Schattengestalt, welche um die Höhle schwebt.

Was kann dein Schicksal sein, unseliger Frater Tobias Bachhuber? Dein Benehmen gegen die Handschrift war so, daß es alles übersteigt, was man von einem Tobias erwarten konnte. Es stand sehr zu befürchten, daß dein Leichtsinn gegen die höchsten Angelegenheiten der Menschheit auch deiner gesellschaftlichen Stellung im Jenseits geschadet habe. Gegen deine Seligkeit, Bachhuber, mußten schwere Zweifel entstehen. Denn das Unrecht, das du an uns begangen, war so groß, daß es auch einem Engel Tränen auspressen mußte. Uns Sterblichen ist unmöglich, deiner noch mit dem Vertrauen zu denken, zu dem uns deine treuherzigen Worte verführten: » haec omnia deposui«, dies alles habe ich niedergelegt. Das war eine Unwahrheit, Bachhuber, und die Wunde getäuschter Zuversicht wird stets aufs neue brennen.

Antworte auf die Frage, Tobias, was waren deine Ansichten über den Zusammenhang des Menschengeschlechts? über die Verbindung der vergangenen und lebenden Geister? oder über das große Netz der Menschheit, in welchem du eine Masche warst? Deine Ansichten waren erbärmlich, du stopftest die große Handschrift, die Sehnsucht unserer Tage, in einen Sack, und da der Sack zu voll wurde, rissest du den Text heraus und bewahrtest für spätere Geschlechter die Deckel! Dreimal pfui!

Und dennoch schwebtest du ruhelos um die Höhle, und dennoch poltertest du seit der Schwedenzeit in den Kammern des alten Hauses umher! Wozu diese Geschäftigkeit, törichter Mönch? Solltest du vielleicht doch etwas bedacht und behütet haben, was zum Wohle der Enkel gereicht und dem erwähnten Zusammenhange des Menschengeschlechts dient?

In der Tat, es wurde ein Schatz gehoben. Er sieht freilich andere aus als die Forscher vermuteten, da ihr Auge zuerst auf den undeutlichen Buchstaben deines Verzeichnisses ruhte. Der Schatz, den die beiden Gelehrten gehoben, hat kleine geballte Fäuste, runde Wänglein und liebe Augen. Er ist lebendig geworden, aber er verhält sich keineswegs schweigsam. Bachhuber, solltest du deine Ordensregel leichtsinnig behandelt haben? hast du diesen Schatz in zwei Wohnungen an der hohlen und trockenen Stelle deponiert, welche in unserer Laiensprache Wiege heißt?

Heut ist große Taufe in der Wohnung des Professors, es ist eine Doppeltaufe. Des Professors Sohn heißt Felix und des Doktors junge Tochter Kornelia. Die Kinder haben fast zu gleicher Zeit den Entschluß gefaßt, durch ihr Erscheinen diese überfüllte Welt zu verengen. Die Paten des Knaben sind Raschke und Frau Struvelius, die Paten des Mädchens Struvelius und Frau Raschke, Herr Hummel aber ist Doppelpate und steht in der Mitte, er schwenkt bald den einen, bald den andern Täufling.

»Es ist mir lieb, daß Ihres ein Sohn ist,« sagt er zum Professor, »er wird blond, und er wird lustig. Denn das weibliche Geschlecht nimmt überhand und wird uns zu kräftig, wir müssen uns durch Zuwachs stärken, sonst findet ein völliges Unterbuttern statt. Es ist mir lieb, daß deines ein Mädchen ist,« sagt er zu seiner Tochter, »das Ding ist borstig, es wird kein Hahn, sondern eine Hummel.«

Die Taufe ist vorüber und Professor Raschke erhebt das Glas: »Zwei neue Menschenseelen im Reich der Bücher, zwei Gelehrtenkinder mehr in unserer doktrinären, wunderlichen, pedantischen, grilligen Zunft. Ihr Kinder werdet eure ersten Reitübungen auf Folianten anstellen, euren ersten Helm und eure erste Schürze werdet ihr aus Korrekturbogen eurer Väter anfertigen, früher als andere werdet ihr mit heimlichem Bangen auf die Bücher schauen, die eure rosige Jugend umstehen. Wir aber wünschen, daß auch ihr dazu helft, einem späteren Geschlecht den stolzen Sinn zu bewahren, mit welchem eure Väter das eigene Leben hingeben als Suchende, Denkende, Gestaltende. Auch ihr, ob Mann, ob Weib, sollt treue Bewahrer der idealen Habe unseres Volkes sein. Ihr werdet ein Volkstum finden, das stärker die Flügel regt und höhere Forderungen an seine geistigen Führer stellt. Wie die Gegenwart uns, wird auch euch eure Zeit zuweilen mit einem Lächeln betrachten; sorgt dafür, daß es ein herzliches Lächeln sei. Und sorgt dafür, daß dem Volke dies Amt wert bleibe, das ihr von euren Vätern überkommt. und das auch ihr verwalten sollt als ehrliche Arbeiter im Reiche der Wissenschaft treu im Glauben an den guten Geist unseres Lebens.«

Raschke sprach's und schwenkte das Glas. »Bitte, es ist mein Glas,« rief die Struvelius, »trinken Sie meine Handschuhe nicht, sie liegen darin.«

»Richtig,« entschuldigte sich Raschke, »es ist Leder.« Er goß bedächtig den Wein aus seiner Flasche über die Handschuhe und rief sein Hoch!

Aber in der dämmrigen Ecke am Bücherschrank, wo das kleine Notizbuch des Fraters lag, erschien, von jedermann unbeachtet, die demütige Gestalt Bachhubers, einer Kindermuhme ähnlich, sie grüßte und verneigte sich dankend.

Als die Freunde geschieden waren, saß Ilse am Lager, das Kind vor sich auf dem Schoß; Felix kniete an ihrer Seite, und beide sahen herab auf das junge Leben, das zwischen ihnen lag. »Es ist so klein, Felix,« sagte Ilse, »und doch macht alles, was war, und alles, was ist, die Mutter nicht so glücklich, als der leise Herzschlag in seiner Brust.«

»Ruhelos ringt der denkende Geist nach dem Ewigen,« rief der Gelehrte, »wer aber Weib und Kind am Herzen hält, der fühlt sich der hohen Gewalt unseres Lebens einig verbunden in seligem Frieden.«

Die Wiege schaukelte, wie von Geisterhand berührt. – So also sieht der Schatz aus, verewigter Bachhuber, den du einem spätern Geschlecht durch hilfreiche Tätigkeit vermittelt hast? Es ist wahr, du hast an uns Übles getan. Jedoch, wenn man wieder erwägt, wie sorglich du in dem alten Hause und anderswo bedacht warst, als Ehestifter späteren Menschen gutherzige Dienste zu leisten, so kann man dir am heutigen Tauftage auch nicht böse sein. Eins ins andere gerechnet, darf man wohl sagen: du warst ein Unglückspilz, aber dein Herz war nicht schlecht. Und am Ende, Tobias Bachhuber, bist du doch nach vielen Bedenken aus alter Barmherzigkeit unter die Seligen aufgenommen, aber allerdings mit einem Fragezeichen: du trägst am Rücken deiner himmlischen Kutte als Nota für ewige Zeiten ein höllisches Schwänzchen – wegen der verlorenen Handschrift des Tacitus.


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