Gustav Freytag
Die verlorene Handschrift
Gustav Freytag

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Buch

Erstes Kapitel

Des Magisters Ausgang

Professor Raschke saß auf dem Boden seiner Wohnstube. Die Farbenpracht des türkischen Schlafrocks war vermindert, treues Beharren im Dienste wissenschaftlicher Theorie hatte ihm einen Schimmer von fahlem Grau verliehen, aber er umhüllte doch würdig die Glieder seines Herrn. Der Professor hatte sich zu seinem ältesten Sohn Markus niedergesetzt, um diesem das Studium des ersten ABC-Buches zu erleichtern; als der Kleine ermüdet bei den Bildern ausruhte, hatte der Vater, um diese Unterbrechung für sich zu nützen, ein Handexemplar des Aristoteles aus der Tasche gezogen. Er las und machte mit einem Bleistift Anmerkungen, ohne zu beachten, daß sein Sohn Markus längst das Bilderbuch weggeworfen hatte und mit den übrigen Kindern, unter denen auch der Pupus stolperte, um den Vater einen Kringeltanz aufführte. »Papa, nimm die Beine weg, wir können nicht drum herum,« rief Berta, die älteste, von der man wirklich größere Klugheit hätte erwarten dürfen. Raschke zog die Beine ein, und da er seinen Sitz seitdem unbequem fand, ersuchte er die Kinder, ihm einen Stuhl zu bringen. Sie trugen den Stuhl herzu, er stützte sich mit dem Rücken dagegen. »Wir können wieder nicht herum,« riefen die tanzenden Kinder. Raschke sah auf: »Dann also werde ich mich auf den Stuhl setzen.« Das war den Kindern recht, und der Höllenlärm ging weiter. »Komm her, Berta,« sagte Raschke, »du kannst mir als Pult dienen,« er legte das Buch auf ihre Zöpfe, las und schrieb. Die Kleine stand mäuschenstill unter dem Buch und schalt die andern, weil sie Lärm machten.

Es klopfte, der Doktor trat ein.

»Pfui, Fritz,« rief Raschke ihm entgegen, »ich kenne Sie nicht mehr, ich muß mich wirklich auf Ihr Gesicht besinnen. Ist das recht, Ihre Freunde so hintenanzusetzen in einer Zeit, wo ein Freundesgruß Ihnen wohltun konnte? Laura hat mir erzählt, was Ihren lieben Vater betroffen. Ein schwerer Verlust,« fuhr er traurig fort, »wenn ich nicht irre, zweimalhunderttausend.«

»Gerade eine Null zuviel,« sagte Fritz.

»Es kommt wenig darauf an,« versetzte Raschke, »wie groß die Summe war, nur auf das Leid, welches sie lieben Menschen bereitet hat. Ich war bei Ihnen, Fritz, in jenen Tagen, ich habe mich sogleich aufgemacht, es kam nur,« fügte er bekümmert hinzu, »ein Umstand dazwischen. Ich bin sonst gewohnt, des Abends auf Ihre Straße zu gehen, und, es kurz zu sagen, ich geriet in ein falsches Haus und kam mit Mühe für die Vorlesung zurecht.«

»Bedauern Sie mich nicht,« entgegnete der Doktor, »freuen Sie sich mit mir, ich bin ein glücklicher Mann, gerade in dieser Zeit habe ich gefunden, was ich zu erreichen verzweifelte, Lauras Herz und die Einwilligung des Vaters.«

Raschke klopfte dem Doktor auf die Schulter und drückte ihm erst die eine, dann die andere Hand. »Der Vater,« rief er, »er war das Hindernis, ich kenne ihn etwas, und ich kenne auch seinen Hund. Wenn ich von dem Hunde auf den Mann schließen darf,« fügte er zweifelnd hinzu, »so ist er ein Original. Ist's nicht so, Freund?«

Der Doktor lachte. »Es ist alte Feindschaft über die Straße. Meine arme Seele wird von ihm mißhandelt, wie die Psyche im Märchen von Frau Venus. Er läßt seinen Zorn an mir aus und stellt mir unlösbare Ausgaben. Aber hinter seinem Trotze merke ich doch, daß er sich mit meiner Neigung versöhnt. Ich ahne Frohes, in diesen Tagen begleite ich Laura nach Bielstein. Nur um des Freundes willen habe ich gewünscht, diese Reise eher anzutreten. Ich werde eine Sorge nicht los. Mich beunruhigt, daß der Magister in der Nähe Werners ist.«

Raschke fuhr sich in die Haare. »Freilich!« rief er.

»Ich habe dazu bestimmte Veranlassung,« fuhr der Doktor fort. »Der Händler, welcher den falschen Pergamentstreifen des Struvelius in die Stadt gebracht haben sollte, wurde von der Mutter des Magisters zu mir gewiesen. Ich behandelte ihn, wie natürlich war, er aber beteuerte, von jenem Pergament nichts zu wissen und niemals ein solches Blatt durch den Magister verkauft zu haben. Der Zorn des Mannes über die unwahre Behauptung des Magisters hat mich ängstlich gemacht. Er bestätigt einen Verdacht, den ich gegen die Echtheit eines andern Schriftstücks, das mir Werner aus der Residenz mitteilte, bereits in einem Briefe geäußert. Ich kann die Sorge nicht fernhalten, daß der Magister selbst der Fälscher war, und Schrecken befällt mich bei dem Gedanken, daß er jetzt seine Kunst gegen unsern Freund zu üben versucht.«

»Das ist eine sehr ernste Sache,« rief Raschke, unruhig auf und ab gehend. »Werner vertraut dem Magister unbedingt.«

Auch der Doktor wandelte auf und ab. »Denken Sie den Fall, daß sein großartiges Vertrauen Opfer einer Gemeinheit würde. Stellen Sie sich den bittern Schmerz vor, den ihm das bereiten müßte. Mit einem peinlichen Eindruck, den wir andern ohne großen Kampf verwischen, wird er lange selbstquälerisch und hart ringen.«

»Sie haben ganz recht,« rief Raschke und fuhr sich wieder in die Haare. »Ihm ist nicht eigen, sittliche Häßlichkeit ohne große Aufregung zu überwinden. Sie müssen ihn auf der Stelle warnen, und zwar Aug' in Auge.«

»Leider vermag ich das erst in mehreren Tagen, unterdes bitte ich Sie, Professor Struvelius von der Aussage des Händlers in Kenntnis zu setzen.«

Der Doktor entfernte sich, Raschke vergaß den Aristoteles und bedachte ängstlich die Untreue des Magisters. Noch zürnte er mit dem kleinen Mann, als es klopfte und Struvelius mit Flaminia in der geöffneten Tür stand.

Raschke begrüßte, rief seine Frau, bat niederzusitzen und vergaß darüber, daß er im türkischen Schlafrock stand.

»Wir kommen mit einem Wunsch,« begann Flaminia feierlich. »Er gilt unserm Kollegen Werner. Mein Mann will Ihnen mitteilen, was uns beide tief erschüttert hat.«

Raschke fuhr von seinem Stuhle in die Höhe. Der Gatte, dessen Erschütterung nur an seinem gesträubten Haar sichtbar war, erzählte: »Mir wurde gestern eine Einladung auf die Polizei. Als ein Bruder des Magisters Knips nach Amerika entwich, belegte man seine Sachen auf Ansuchen kleiner Gläubiger mit Beschlag, und weil er den größten Teil seines Eigentums in der Wohnung der Mutter bewahrte, wurde auch dort weggenommen. Darunter einige Gefäße und Mappen, welche offenbar nicht dem Entwichenen gehörten, sondern dessen Bruder. Eine dieser Mappen enthielt Durchzeichnungen nach Handschriften, viele Versuche, alte Schrift nachzuahmen, und beschriebene Pergamentblätter. Den Beamten hatte dies befremdet, er forderte mich auf, unter der Hand davon Einsicht zu nehmen. Nähere Betrachtung ergab, daß der Magister selbst sich lange um die Fertigkeit bemüht hat, Schriftzüge des Mittelalters nachzuahmen. Aus den Fragmenten aber, welche ich in der Mappe gefunden, ist unzweifelhaft, daß er noch andere Fälschungen im Vorrat hat, welche zum Teil jenem Pergamentstreif genau entsprechen.«

»Dies genügt, Struvelius,« begann die Gattin, »jetzt laß mich sprechen. Sie mögen denken, Herr Kollege, daß uns zunächst Werner einfiel und daß wir uns der Angst nicht entschlugen, auch der Gatte unserer Freundin werde durch den Betrüger in eine Verlegenheit kommen. Ich forderte Struvelius auf, an Professor Werner zu schreiben, er aber zog vor, die Nachricht durch Sie zu befördern. Dieser Weg schien auch mir sachgemäß.«

Raschke zog, ohne ein Wort zu sagen, seinen Schlafrock aus, lief in Hemdärmeln durch das Zimmer und suchte in den Winkeln. Endlich fand er wenigstens seinen Hut, den er aufsetzte.

»Aber Raschke!« rief Frau Aurelie. »Wieso?« fragte er eilig. »Hier gilt kein Säumen. Bitte sehr um Verzeihung, Frau Kollega,« rief er, seinen Ärmel betrachtend, und fuhr wieder in den Schlafrock, behielt aber in der Aufregung seinen Hut und setzte sich so gerüstet den Freunden gegenüber. Berta nahm ihm auf einen Wink der Mutter leise den Hut ab. »Hier ist ein schneller Entschluß nötig,« wiederholte er.

»Man hat keinen Grund,« fuhr Struvelius fort, »die Habe des Magisters seiner Mutter vorzuenthalten, indes würde man Ihnen bereitwillig eine Durchsicht der Schriften gestatten.«

»Das wünsche ich gar nicht,« rief Raschke, »es würde mir den Tag verderben; Ihr Urteil, Struvelius, genügt.«

Noch ein aufgeregter Austausch der Ansichten, und der Besuch enthob sich. Wieder ging Raschke stürmisch einher, daß die Flanken seines Schlafrocks über die Stühle flogen. »Liebe Aurelie, erschrick nicht, ich bin zu einem Entschluß gekommen, ich werde morgen verreisen.«

Die Professorin schlug die Hände zusammen. »Was fällt dir ein, Raschke?«

»Es ist notwendig,« sagte er. »Ich verzweifle, durch einen Brief die festem Ansichten Werners zu erschüttern. Meine Pflicht ist, zu versuchen, ob geflügeltes Wort und ausführliche Darstellung größere Wirkung haben. Ich muß wissen, wie der Freund zum Magister steht, nach Andeutungen des Doktors befürchte ich von der Tätigkeit des Falsarius das Ärgste. Ich habe einige freie Tage vor mir, ich kann sie nicht besser verwenden.«

»Aber Raschke, du willst reisen?« fragte seine Frau vorwurfsvoll. »Wie kannst du dich auf so etwas einlassen?«

»Du verkennst mich, Aurelie, in unserer Stadt bin ich allerdings zuweilen unsicher, aber in der Fremde finde ich mich überall sehr gut zurecht.«

»Weil du noch niemals allein in der Fremde warst,« versetzte die kluge Frau.

Raschke trat vor sie und hob warnend die Hand. »Aurelie, es gilt dem Freund, auf Kleinigkeiten darf man keine Rücksicht nehmen.«

»Du wirst nie hinkommen,« entgegnete seine Frau mit trüben Ahnungen.

»Es ist viel leichter, auf sicherem Fahrzeug durch die halbe Welt zu fliegen, als auf zwei Beinen durch die Gasse, halbe Bekannte sind am unbequemsten.«

»Und dann das Reisegeld, Raschke,« warnte Frau Aurelie leise, wegen der Kinder.

»Du hast in deinem Wäscheschrank eine alte schwarze Sparbüchse,« mahnte Raschke schlau, »denkst du, ich weiß nichts davon?«

»Ich habe darin für einen neuen Frack gesammelt,« sagte die Professorin.

»Du willst mir meinen Frack nehmen?« rief Raschke hitzig, »gut, daß ich dahinterkomme. Jetzt würde ich nach jener Residenz reisen, wenn ich auch gar keine Veranlassung hätte. Heraus mit der Büchse.«

Frau Aurelie ging langsam, brachte die Sparbüchse und legte sie ihm mit stummem Vorwurf in die Hand. Der Professor zwängte das Geld samt der Büchse in die Tasche seiner Beinkleider, schlang den Arm um seine Frau und küßte sie auf die Stirn. »Du bist mein liebes Weib,« rief er, »jetzt aber nicht gesäumt. Bringt mir den Plato und Spinoza.«

Plato war die seidene Mütze und Spinoza der dicke Mantel des Professors. Die Schätze des Hauses hießen so, weil sie von dem Honorar zweier Bücher über die beiden Philosophen gekauft waren. Das Aufsehen, welches die Werke in der gelehrten Welt gemacht hatten, war sehr groß, das Honorar sehr klein gewesen. Unter den Kindern entstand eine Bewegung, denn die schönen Stücke wurden nur zuweilen im Winter für einen Sonntagsspaziergang herausgeholt. Der kleine Haufe lief mit der Mutter.

»Bring' alles zurück, Raschke, ich habe Angst, etwas geht verloren.«

»Wie ich dir sage, Aurelie, auf Reisen kannst du mir sicher vertrauen.«

»Ich will doch eine Zeile an Werner schreiben, er soll darauf achten, daß du beides behältst, den Brief stecke ich dir in die Rocktasche, wenn du ihn nur abgeben wolltest.«

»Warum nicht?« rief Raschke unternehmend.

Am nächsten Morgen begleitete Frau Aurelie ihren Gatten zu der Reisegelegenheit und achtete darauf, daß er auf den richtigen Platz kam. »Wenn du nur erst wieder glücklich bei uns wärst,« klagte sie. Raschke küßte ihr ritterlich die Hand und setzte sich auf seine Reisetasche. »Die Sitze haben eine merkwürdige Höhe,« rief er und baumelte mit den Beinchen. Die Mitreisenden lachten, er sagte freundlich: »Ich bitte die Herren sehr um Entschuldigung.«

 

Die Laternen brannten, und der Mond schien aus weißem Dunst auf die Wand des Pavillons, als der Professor zurückkehrte. Kein Lichtstrahl fiel aus den Fenstern, düster und verlassen stand das Haus, von einem bläulichen Phosphorschein überzogen. Die Tür war verschlossen, der Lakai verschwunden. Der Gelehrte zog die Glocke, endlich kam etwas die Treppe herab, Gabriel öffnete und stieß einen Freudenruf aus, als er seinen Herrn vor sich sah. »Wie geht es meiner Frau?« rief der Professor.

»Frau Professorin ist nicht zu Hause,« entgegnen Gabriel scheu. Er winkte seinen Herrn in das Zimmer, dort holte er den Brief Ilses hervor. Der Professor las die Zeilen und hielt sie betäubt in der Hand. Auch dies war eine Handschrift, die er gefunden, sie meldete, daß sein Weib von ihm gegangen war; jedes Wort fuhr wie ein Messerstich in seine Seele. Als er zu Gabriel aufblickte, erkannte er, daß er noch nicht alles wußte. Der Diener erzählte, der Gelehrte stieß den Sessel von sich, seine Glieder zitterten im Fieber. »Wir verlassen sogleich dieses Haus,« sagte er tonlos, »räumen Sie zusammen.«

Wie ein römischer Priester, der in geheimer Andacht zu seinem Gotte betet, hatte er sein Haupt verhüllt gegen die Klänge, welche von außen in die Seele dringen. Ohr und Auge hatte er abgeschlossen von den Gestalten, welche ihn umwandelten, jetzt riß das Schicksal die Hüllen von seinem Haupte.

»Herr Hummel wollte nicht vor Ihrer Ankunft reisen,« fuhr Gabriel fort, »ihm ist es eilig.«

»Ich gehe nach seinem Gasthof, folgen Sie mir,« sagte der Professor, »im Schlosse melden Sie, daß ich ausgezogen sei.« Er wandte sich ab und verließ das Haus. Als er bei dem Schloß vorüberkam, warf er einen wilden Blick auf die Fensterreihe der Zimmer, welche der Fürst bewohnte. »Noch ist er nicht zurück, Geduld,« murmelte er; dann ging er vor sich hinbrütend zum Gasthof. Er forderte Wohnung und fragte nach seinem Hauswirt. Gleich darauf trat Herr Hummel bei ihm ein. »Gute Botschaft,« begann dieser in seinem sanftesten Ton, »ein Bote des Oberamtmanns trug mir soeben die Nachricht zu, daß alle glücklich fortgezogen sind. Es ist wohl aus Vorsicht geschehen, daß kein Brief an Sie beilag.«

»Es war wohl aus Vorsicht,« wiederholte der Gelehrte, und sein Haupt sank ihm schwer auf die Brust.

Herr Hummel setzte sich zu ihm und sprach ihm leise ins Ohr, bei den letzten Worten fuhr der Professor entsetzt auf und ein Stöhnen klang durch den Raum. »Der Mensch ist kein Uhu,« erklärte Herr Hummel begütigend, »und es ist eine Ungerechtigkeit, von ihm zu verlangen, daß er in der Finsternis Kopf und Schwanz einer Ratte unterscheiden soll. Aber jeder Hausbesitzer weiß auch, daß es nichtswürdige Erfindungen der Architektur gibt. Diese Andeutung widme ich nur Ihnen, sonst niemandem. Ich habe mich vor mehreren Tagen bei Ihrem Herrn Schwiegervater angemeldet. Fritzchen Hahn ist in Ihrer Abwesenheit zu einem Doktor Faustus geworden, der mein armes Kind durchaus auf seinem Höllenmantel nach Bielstein tragen will. Darf ich auch Ihre Ankunft dort verkünden?«

»Sagen Sie,« versetzte der Gelehrte finster, »ich werde in der ersten Stunde kommen, nachdem ich hier abgerechnet habe.« Er hielt Herrn Hummel fest an der Hand, als wollte er den Vertrauten seines Weibes nicht von sich lassen, und geleitete ihn so hinab in den Hausflur. Dort waren neue Reisende angekommen; ein kleiner Herr in Mantel und schöner seidener Reisemütze wandte sich, ohne unter dem großen Schirm aufzusehen, an den Professor und sagte: »Ich würde Ihnen sehr verbunden sein, wenn Sie mir ein Zimmer anweisen wollten. Ich bin hier doch am rechten Orte?« Er nannte den Namen der Stadt. Der Professor nahm dem Herrn die Reisetasche ab, faßte ihn ohne ein Wort zu sprechen, unter den Arm und führte ihn schnell die Treppe hinauf. »Sehr artig,« rief Raschke, »ich danke Ihnen aufrichtig, ich bin durchaus nicht ermüdet, mein einziger Wunsch ist, Herrn Professor Werner zu sprechen. Können Sie das vermitteln?«

Werner öffnete sein Zimmer, nahm dem andern die Mütze vom Kopf und schloß ihn in die Arme.

»Mein teurer Kollege,« rief Raschke, »ich bin der glücklichste Reisende der Welt; sonst ist ein Pilger auf der Landstraße zufrieden, wenn ihm kein Unglück begegnet, ich aber habe im Wagen bescheidene, denkende Menschen gefunden, der Kondukteur hat mir beim Wagenwechsel meine Mütze nachgetragen, man hat mich gütig bis vor dieses Hans begleitet, und jetzt, wo ich zum erstenmal auf meinen eigenen Füßen stehe, finde ich mich am Arme dessen, nach dem ich ausgefahren bin. Es ist eine Freude zu reisen, Kollege, bei jeder Meile merkt man, wie gut und warmherzig das Volk ist, in dem wir leben. Wir sind Toren, daß wir unsere Vorträge nicht im Wagen halten. Die Sorge unserer Frauen ist durchaus nicht gerechtfertigt; selbst ist der Mann.«

So frohlockte Raschke. »Wer wohnt in diesem Zimmer,« fragte er, »ich oder Sie?«

»Hier oder daneben, wie Sie wollen,« versetzte Werner.

»Dann neben Ihnen, denn Freund, ich wünsche Sie so wenig als möglich zu entbehren.«

»Sie kommen zu einem Mann, dem warmer Zuspruch not tut,« sagte der Gelehrte. »Meine Frau ist bei ihrem Vater, ich bin allein,« setzte er mit stockendem Atem hinzu.

»Sie sehen aus wie ein Wanderer, der bei schlechtem Wetter den Mantel um sich zieht,« rief Raschke, »deshalb wird Sie, was ich zutrage, wenigstens nicht aus heiterer Ruhe stören. Denn mein Botenamt ist, eine Menschenseele in Ihren Augen zu erniedrigen, das ist hart für uns beide. Ich habe heute erlebt, was auch einen festeren Bau aus allen Fugen treiben kann. Wenig mag noch zurück sein, was mich erschüttert, ich bin gefaßt zu hören.«

Raschke setzte sich neben ihn und begann seinen Bericht, er fuhr dabei auf dem Sofa hin und her, klopfte dem Freund auf die Knie, streichelte ihm den Arm und bat um Fassung.

Wieder war eine Hülle von dem Haupt des Suchenden gezogen, der allein mit seinem Gott zu reden glaubte. Der Gelehrte hielt still und zuckte nicht. »Das ist furchtbar, Freund,« sagte er am Ende. Damit brach er kurz ab, und den ganzen Abend gedachte er mit keinem Wort des Magisters.

Am nächsten Morgen saßen die Professoren wieder auf Werners Zimmer beieinander. Werner warf die beiden Pergamentblätter auf den Tisch. »Dies wenigstens hat mit dem Magister nichts zu tun, ich selbst habe es aus altem Geröll hervorgeholt. Dort liegt das Meßbuch auf der Truhe, es kostet mich Überwindung, den teuer erkauften Erwerb anzusehen.«

Raschke betrachtete das Pergament. »Sehr bedeutend,« erklärte er, »wenn dies wirklich ist, was es scheint.« Er eilte zu der Truhe und durchsuchte das Meßbuch. »Wahrscheinlich würde auch das Missale einen Anhalt dafür gewähren, ob es in dem Mönchskloster von Rossau gebraucht worden,« sagte er, »ich bedaure, daß zu dieser Prüfung meine Kenntnis der Klostergewohnheiten nicht ausreicht.« Er öffnete den Kasten und hob den Inhalt heraus. Von der Zerstreuung, welche ihn sonst wohl störte, war nichts zu bemerken, mit scharfen Augen sah er umher, als ob er die dunkeln Worte eines alten Philosophen zusammensuche. »Sehr merkwürdig,« rief er, »nur eines wundert mich. Ist die Kiste ausgefegt worden?«

»Nein,« versetzte Werner auffahrend.

»Die drei Begleiter einer hundertjährigen Ruhe fehlen, Staub, Spinngewebe und Insektenschalen, es müßte doch etwas im Innern des Deckels oder Bodens hängen, denn die Truhe hat Ritze, welche den Geschlechtern der Kerbtiere Zugang verstatten.«

Er räumte weiter und untersuchte den Boden. »Unter dem Holzsplitter hängt etwas Papier,« er zog einen winzigen Papierfetzen heraus, und über die edlen Züge seines Angesichts legte sich ein tiefer Schatten. »Lieber Freund, machen Sie sich gefaßt aus eine unwillkommene Beobachtung. Auf diesem Fragment stehen nur sechs gedruckte Wörter, aber es sind Lettern unserer Zeit, es ist unser Zeitungspapier, und eines der sechs Wörter ist ein Name, der in der Politik dieser Tage oft genannt wird.« Er legte das Papierstückchen auf den Tisch. Werner starrte darauf, ohne ein Wort zu sagen, auch sein Angesicht verwandelte sich, als ob ein Augenblick die Arbeit von zwanzig sorgenvollen Jahren getan hätte. »Die Sachen sind von mir ausgepackt und wieder eingelegt worden, möglich, daß das Papier dabei hineingefallen ist.«

»Möglich,« wiederholte Raschke.

Der Professor sprang auf und suchte in fliegender Eile sein Handexemplar des Tacitus hervor. »Hier sind die Lesarten der Florentiner Handschrift, ein Vergleich mit den Pergamentblättern wird Licht geben.« Er verglich einige Sätze. »Es scheint eine genaue Kopie,« sagte er, »zu genau, ungeschickt genau.« Er hielt die Handschrift prüfend von der Seite gegen das Licht, er goß einen Tropfen Wasser auf eine Ecke des Pergaments und wischte mit einem weißen Tuch, im nächsten Augenblick schleuderte er Tuch und Pergament auf den Boden und schlug die Hände heftig vor sein Gesicht. Raschke ergriff die Blätter und sah auf die geschädigte Ecke. »Es ist richtig,« bestätigte er traurig, »eine Schrift, welche sechshundert Jahre auf dem Pergament gestanden hat, läßt andere Spuren in dem Stoff zurück.« Heftig ging er auf und ab, die Hände in den Rocktaschen, fuhr sich mit dem Tuch über das Gesicht und warf es, den Irrtum bemerkend, weit von sich. »Ich kenne dafür nur ein Wort,« sagte er nachdrücklich, »ein Wort, das der Mensch ungern über seine Lippen gehen läßt, und das Wort heißt: Schurkerei.«

»Es war ein Bubenstück,« rief Werner mit starker Stimme.

»Hier halten wir an, Freund,« bat Raschke, »wir wissen, daß eine Täuschung beabsichtigt war, wir wissen, daß der Versuch vor kurzem gemacht wurde; wenn wir den Ort des Fundes und Ihr Hiersein zusammenhalten, so dürfen wir, ohne gegen jemand ungerecht zu sein, als Tatsache annehmen, daß das Unrecht verübt wurde, Sie zu hintergehen. Wer es verübt hat, darüber haben wir nur Argwohn, stark begründeten Argwohn, keine Sicherheit.«

»Diese Sicherheit soll uns werden,« rief Werner, »bevor der Tag um viele Stunden älter wird.«

»Allerdings,« entgegnete Raschke, »diese Sicherheit muß gewonnen werden, denn Argwohn darf in des Menschen Haupt nicht dauern, er zerfrißt alle Bilder und Gedanken, welche ihm nahekommen. Uns ist aber die letzte Frage zurück: zu welchem Zweck ward das Unrecht verübt? War es der Mutwille eines Buben, dann wird der Frevel an Ehrwürdigem nicht geringer, aber die ärgste Schändlichkeit ist es nicht. War es überlegte Bosheit, um Sie zu schädigen, dann das härteste Urteil. Wie stehen Sie zum Magister?«

»Es war überlegte Bosheit, einen Menschen zu schädigen an Leib und Seele,« betonte der Professor mit feierlichem Ernst, »aber der Täter war nur das Werkzeug, den Gedanken gab ein anderer.«

»Halt,« rief Raschke wieder, »nicht weiter, auch dies ist nur Argwohn.«

»Es ist nur Argwohn,« wiederholte der Professor, »auch dafür suche ich Sicherheit. Man hat mich hingehalten, als ich den Weg nach dem Landschloß machen wollte, von Tag zu Tag, unter kleinem Vorwand; der Magister fehlte vor kurzem einen Tag bei der Arbeit, die ihm zugewiesen war, er entschuldigte sich mit Krankheit; als er wortreiche Entschuldigung aussprach, fiel mir sein scheues Wesen auf. Man hatte den Wunsch, mich hier zu fesseln, aus Gründen, für welche Sie in dem Bereich Ihrer Empfindungen kaum ein Verständnis finden würden. Man hoffte diesen Zweck zu erreichen, wenn man den fanatischen Eifer, an dem ich erkrankt war, aufregte, ohne ihn ganz zu befriedigen. Das ist mein Argwohn, Freund, und ich fühle mich elend, so elend, wie nie in meinem Leben.« Er warf sich auf das Sofa und verbarg wieder sein Gesicht.

Raschke trat zu ihm und sprach leise: »Kränkt Sie so sehr, Werner, daß man Sie getäuscht?«

»Ich habe vertraut, und getäuschtes Vertrauen tut weh, aber ich denke bei dem Jammer, den ich fühle, nicht allein an mich, auch an das Verderben eines andern, der zu uns gehört.«

Raschke nickte mit dem Haupt. Wieder ging er heftig durch die Stube und sah zornig auf die Truhe.

Werner erhob sich und schellte. »Ich wünsche Magister Knips zu sprechen,« sagte er dem eintretenden Gabriel, »ich lasse ihn ersuchen, sich so bald als möglich hierher zu bemühen.«

»Wie werden Sie zu ihm reden?« fragte Raschke, besorgt vor dem Freund anhaltend.

»Ich bedarf selbst so sehr der Nachsicht,« versetzte Werner, »daß Sie meine Heftigkeit nicht zu fürchten haben. Auch ich bin ein Kranker und ich weiß, daß ich mit einem sprechen soll, der kränker ist als ich.«

»Nicht krank,« rief Raschke, »nur erschreckt, wie ich. Sie werden ihm sagen, was notwendig ist, im übrigen überlassen Sie ihn seinem Gewissen.«

»Ich werde nur sagen, was notwendig ist,« wiederholte der Professor, vor sich hinstarrend.

Gabriel kehrte zurück und brachte die Nachricht, der Magister wollte gegen Abend, wenn er das Kabinett verlasse, beim Professor vorsprechen.

»Wie nahm der Magister die Botschaft auf?« fragte Raschke.

»Er schien erschrocken, als ich ihm sagte, daß der Herr Professor im Gasthof wohnt.«

Der Professor hatte sich in die Ecke gedrückt, aber der Philosoph ließ ihm keine Ruhe, er sprach beharrlich von Angelegenheiten der Universität und zwang ihn durch häufige Fragen zur Teilnahme. Endlich äußerte er den Wunsch, ins Freie zu gehen, ungern gab der Professor dem Drängenden nach.

Werner geleitete ihn vor das Stadttor, auch auf dem Wege antwortete er spärlich auf die lebhaften Reden des Freundes. Als sie zur Herberge kamen, wo Ilse in den Wagen des Oberamtmanns gestiegen war, begann der Gelehrte mit rauher Stimme: »Dies ist der Weg, auf dem mein Weib aus der Stadt entfloh, ich bin schon heut am frühen Morgen dieselbe Straße gegangen und ich habe bei jedem Schritt gefühlt, was einem Mann die ärgste Demütigung ist.«

»Vor ihr war Licht und hinter ihr Finsternis,« rief Raschke. Er redete von Frau Ilse und gedachte jetzt der Aufträge, welche ihm seine Kinder an die Tante mitgegeben hatten.

So verging der Nachmittag; wieder saß Werner vor sich hinbrütend auf seiner Stube, als Gabriel die Ankunft des Magisters meldete. Bevor Raschke in das Nebenzimmer eilte, drückte er noch einmal die Hand des andern und sah ihn bittend an: »Ruhe, Freund.«

»Ich bin ruhig,« versetzte dieser.

Magister Knips hatte sich dem bildenden Einfluß des Hofes nicht entzogen, sein schwarzes Kleid war von einem Schneider gefertigt, der ein fürstliches Wappen vor der Werkstatt führte, seine Haare waren frei von Federn und seine Sprache hatte neuern Ausdruck der Ehrerbietung angenommen. Jetzt sah er lauernd und trotzig aus. Werner maß den Eintretenden mit langem Blick; wenn ihm noch ein Zweifel geblieben war an der Schuld des Magisters, jetzt kannte er den Täter. Er wandte sich einen Augenblick ab, um seinen Widerwillen zu bekämpfen. »Betrachten Sie dies,« sagte er und wies mit dem Finger auf die Pergamentblätter.

Knips nahm das Blatt in die Hand, und das Pergament zitterte, als er sein blödes Auge darüberneigte.

»Es ist wieder eine Fälschung,« sagte der Professor, »die Lesarten des ersten Florentiner Kodex, sogar die Eigentümlichkeiten seiner Orthographie sind mit einer ängstlichen Genauigkeit, welche jedem alten Abschreiber unmöglich gewesen wäre, auf diese Blätter nachgezeichnet. Auch die Schrift verrät sich als neu.«

Der Magister legte das Blatt nieder und erwiderte unsicher: »Es scheint allerdings eine Nachahmung alter Schrift, wie bereits der Herr Professor erkannte.«

»Ich fand diese Arbeit,« fuhr der Gelehrte fort, »im Turm des Landschlosses, gepackt in jenes zerrissene Meßbuch, in jene Truhe gelegt, unter alte Möbel versteckt. Sie aber, Herr Magister, haben dies Blatt verfertigt, Sie haben es an Ort und Stelle geborgen. Das ist nicht alles. Sie haben schon vorher, um mich auf falsche Fährte zu bringen, das Verzeichnis der Truhen in alte Rechnungen gesteckt, Sie haben die Ziffern 1 und 2 für die Kisten erfunden. Auch die Schrift dieses Verzeichnisses ist von Ihnen gemacht, mich zu täuschen.«

Der Magister stand mit gesenktem Haupt und suchte die Antwort. Er wußte nicht, auf welche Bekenntnisse anderer sich die feste Behauptung gründete. Hatte der Kastellan ihn verraten? hatte der Fürst selbst ihn preisgegeben? Ihn überkam die Angst, aber er entgegnete verstockt: »Ich habe es nicht getan.«

»Vergebens suchen Sie aufs neue zu täuschen,« fuhr der Gelehrte fort. »Wenn ich nicht bereits Grund hätte, Ihnen ins Gesicht zu sagen, daß Sie dies taten, Ihr Benehmen vor diesem Blatt wäre vollgültiger Beweis. Kein Laut des Befremdens, kein Wort des Abscheues gegen solchen Versuch einer Fälschung. Welcher Gelehrte kann dergleichen ansehen und stumm bleiben, wenn ihm nicht das eigene Gewissen den Mund schließt? Was habe ich Ihnen getan, Herr Magister, daß Sie mir diesen bittern Schmerz bereiten? Geben Sie mir eine Entschuldigung für Ihr Tun. Habe ich Sie je gekränkt? Habe ich je in Ihnen finstere Leidenschaft gegen mich aufgeregt? Jeder Grund, der mir das Widerwärtige begreiflich macht, wird mir willkommen sein. Denn mit Entsetzen sehe ich auf diese Verirrung einer Menschenseele.«

»Der Herr Professor haben mir niemals Grund zur Klage gegeben,« antwortete Knips gedrückt.

»Und dennoch,« rief der Professor, »mit ruhigem Blut, gleichgültig, in frevelhaftem Spiel das Arge getan, das war sehr schlecht, Herr Magister.«

»Vielleicht sollte es nur ein Scherz sein,« seufzte der Magister, »vielleicht wurde so zu dem gesagt, der die Schrift gefertigt. Er hat nur gehandelt nach dem Befehl eines andern, nicht in freier Wahl und nicht mit eigenem Willen.«

»Welche Macht der Erde durfte Ihnen befehlen, gegen einen andern so überlegte Tücke zu üben?« fragte der Professor traurig. »Sie selbst wußten doch sehr gut, welche Folge diese Täuschung für mich und andere haben konnte.«

Magister Knips schwieg.

»Mit mir sind wir fertig,« rief der Gelehrte, »kein Wort über den Plan, welchem diese Fälschung dienen sollte, und keinen weiteren Vorwurf über das Unrecht, das Sie gegen einen Mann geübt, der Ihrer Ehrlichkeit vertraute.«

Er warf das Pergament unter den Tisch, Knips ergriff schweigend seinen Hut, das Zimmer zu verlassen.

»Halt,« gebot der Professor, »nicht von der Stelle. Was Sie gegen mich persönlich versucht haben, darüber darf ich schweigen. Nicht vorzugsweise dieser Handschrift wegen habe ich Sie herbeschieden. Aber der Mann, den ich vor mir sehe, aus den ich mit einem Grauen blicke, das ich so noch nie gefühlt, ist noch etwas anderes als ein gewissenloses Werkzeug im Dienste Fremder, er ist ein untreuer Philolog, ein Verräter an seiner Wissenschaft, Fälscher und Betrüger da, wo nur die Ehrlichkeit ein Recht hat zu leben, ein Verdammter da, wo es keine Sühne und Gnade gibt.«

Dem Magister fiel sein Hut zur Erde.

»Sie haben den Pergamentstreif des Struvelius geschrieben, jener Händler hat gegen Sie ausgesagt, Ihre Schreibübungen sind mit Beschlag belegt und in Ihrer Vaterstadt unter den Händen der Polizei.«

Immer noch schwieg der Magister, er fuhr nach seinem Taschentuch und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn.

»Jetzt wenigstens sprechen Sie,« rief Werner. »Geben Sie mir eine Erklärung des furchtbaren Rätsels, wie jemand, der zu uns gehört, sich mutwillig alles zerstören kann, was seinem Leben Halt und Adel gibt. Wie vermag ein Mann von Ihren Kenntnissen in so roher Weise gegen seine Wissenschaft untreu zu werden?«

»Ich war arm und mein Leben voll Plage,« versetzte Knips leise.

»Ja, Sie waren arm, seit Ihrer frühen Jugend haben Sie vom Morgen bis zum Abend gearbeitet, schon als Kind haben Sie auf vieles verzichtet, was andere gedankenlos genießen. Sie haben dafür das stille Bewußtsein erworben, daß Sie sich herausrangen zu innerer Freiheit und zu demütiger Freundschaft mit dem großen Geist unseres Lebens. Ja, Sie wuchsen zum Mann unter zahllosen Opfern und Entsagungen, welche andere fürchten. Sie haben dafür gelernt und gelehrt, was der höchste Besitz des Menschen ist. Vor jeder Korrektur, die Sie hilfreich für andere lasen, vor jedem Wörterverzeichnis, das Sie zu einem Klassiker auszogen, haben Sie bei den Worten, die Sie verbesserten, bei den Zahlen, die Sie schrieben, das Bedürfnis gehabt, wahr zu sein. Gerade Ihre Tagesarbeit war ein unablässiger, emsiger Kampf gegen das Falsche und Unrichtige. Doch mehr als das und schlimmer als das, Sie sind kein gedankenloser Lohnarbeiter gewesen, Sie haben ganz und voll zu uns gehört, Sie waren in der Tat ein Gelehrter, bei dessen Wissen sich oft Anspruchsvollere Rat erholten, Sie bargen nicht nur eine Masse einzelner Kenntnisse in Ihrem Geist, Sie verstanden auch sehr wohl, welche Gedanken aus solchem Wissen aufsteigen. Das alles waren Sie, und doch ein Fälscher. Ganz treue Hingabe und Selbstverleugnung und dicht daneben frevelhafte Willkür; ein zuverlässiger und emsiger Gehilfe und dazwischen ein Betrüger, dreist und höhnend wie ein Teufel.«

»Ich war ein gequälter Mann,« begann Knips, »wer anders gelebt hat, weiß nicht, wie schwer es ist, immer in seiner Wissenschaft zu dienen und fremden Füßen nachzutreten. Sie haben nie für andere, die weniger wissen als Sie, gearbeitet. Sie verstehen nicht, welches Gefühl es gibt, wenn die andern hochfahrend benutzen ohne Anerkennung und ohne Dank, was man ihnen von seinem Wissen gegeben hat. Ich bin nicht unempfindlich gegen Freundlichkeit. Der Herr Professor war der erste, welcher bei dem ersten Autor, den derselbe herausgab, in den letzten Zeilen der Einleitung meinen Namen genannt hat, weil ich Denenselben bei der Arbeit gedient. Und doch habe ich weniger für Sie getan als für jeden andern meiner alten Gönner. Das Exemplar, welches Sie mir damals geschenkt, habe ich unter meinen Büchern auf den Ehrenplatz gestellt. Sooft ich müde wurde von der Nachtarbeit, habe ich diese Zeilen gelesen. Dergleichen Freundlichkeit habe ich selten erfahren. Aber ich habe die Qual gefühlt, mehr zu wissen als ich bedeute, und mir hat die Gelegenheit gefehlt, mich herauszuarbeiten aus meiner Enge. Da ist's gekommen.« Er stockte und brach ab.

»Es war Stolz,« sagte der Professor schmerzlich, »es war Neid, der aus einem bedrängten Leben heraufquoll gegen Glücklichere, die vielleicht nicht mehr wußten, es war das Gelüst nach Überlegenheit über andere.«

»Das war's,« fuhr Knips klagend fort. »Zuerst kam der Einfall, auch über solche zu lachen, die mich benutzen und verachten, ich dachte, wenn ich will, kann ich euch in meiner Hand haben, ihr Herren Gelehrten. Dann wurde es ein Vorsatz, und er hielt mich fest. Ich habe manche Nacht gesessen und darüber gearbeitet, ehe ich soweit kam, und manchmal habe ich's wieder weggeworfen, Herr Professor, und unter meinen Büchern versteckt. Aber es lockte mich fortzufahren, es wurde mir ein Stolz, die Kunst zu gewinnen. Als ich sie endlich hatte, machte mir's Spaß, sie zu gebrauchen. Es war mir weniger um den Gewinn als um die Überlegenheit.«

»Es ist leicht,« versetzte der Professor, »Männer von unserer Art da zu täuschen, wo sie gewohnt sind, sicher zu vertrauen. Wo der Scharfsinn versagt, den wir bei unserer Arbeit gewinnen, da sind viele von uns wie die Kinder, und wer kälter ist und sie hintergehen will, der mag leicht eine Weile mit ihnen spielen. Es war ein schwacher Ruhm, die Kunst eines Satans gegen Arglose zu üben.«

»Ich wußte, daß es ein Teufel war, mit dem ich umging. Ich wußte es vom ersten Tage, Herr Professor, aber ich konnte mich nicht gegen ihn wehren. So war es,« schloß Knips und setzte sich erschöpft auf die Truhe.

»So war es, Herr Magister,« rief Werner sich aufrichtend, »aber so darf es ferner nicht bleiben. Sie waren einer von uns, Sie dürfen es nicht mehr sein. Sie haben ein Verbrechen begangen an dem höchsten Gut, welches dem Geschlecht der Menschen vergönnt ist, an der Ehrlichkeit seiner Wissenschaft. Sie selbst wissen, daß ein Todfeind unserer Seelen wird, wer diese Ehrlichkeit gefährdet. In unserm Reiche, wo der beschränkten Kraft des einzelnen täglich der Irrtum droht, ist der Wille, wahr zu sein, eine Voraussetzung, die keiner entbehren darf, ohne andere in sein Verderben zu ziehen.«

»Ich war nur der Handlanger,« seufzte Knips, »und wenig hat man sich um mich gekümmert. Hätten mich andere als einen Gelehrten geachtet, es wäre nicht geschehen.«

»Sie selbst haben sich dafür gehalten,« rief der Professor, »und Sie hatten ein Recht dazu, Sie fühlten den Stolz Ihrer Wissenschaft und Sie kannten wohl Ihren hohen Beruf. Sie wußten sehr gut, daß auch Sie, der demütige Magister, teil hatten an dem Priesteramt und an dem Fürstenamt in unserm Reich. Kein Purpur ist edler und keine Herrschaft ist machtvoller als die unsere, wir führen die Seelen unseres Volkes aus einem Jahrhundert in das andere, unser ist die Pflicht, über seinem Lernen zu wachen und über seinen Gedanken. Wir sind seine Vorkämpfer gegen die Lüge und gegen die Gespenster aus vergangener Zeit, welche noch unter uns wandeln, mit dem Schein des Lebens bekleidet. Was wir zum Leben weihen, das lebt, und was wir verdammen, das vergeht. Von uns werden jetzt die alten Tugenden der Apostel gefordert, gering zu achten, was vergänglich ist, und die Wahrheit zu verkünden. Sie waren in diesem Sinn geweiht wie jeder von uns, Ihr Leben verpflichtet Ihrem Gott. Auf Ihnen lag, wie auf uns allen, Verantwortung für die Seelen unserer Nation. Sie haben sich dieses Amtes unwert gemacht, und ich traure, ich traure, armer Mann, daß ich Sie davon scheiden muß.«

Der Magister fuhr in die Hohe und sah flehend zu dem Gelehrten auf.

Der Professor redete nachdrücklich: »Mein ist die Pflicht, dies auszusprechen gegen Sie und gegen andere. Was Sie damals an meinem Amtsgenossen getan, was Sie noch von ähnlichen Versuchen bereitet haben, das darf kein Geheimnis bleiben. Die Ehrlichen müssen gewarnt werden vor der Kunst, welche zu üben ein Dämon Sie getrieben hat. Aber in der letzten Stunde, wo Sie vor mir stehen, fühle auch ich, daß ich zu wenig getan, Ihnen Hilfe gegen die Versuchung zu geben. Ohne bösen Willen habe vielleicht auch ich zuweilen mißachtet, was wertvoll in Ihnen war für andere, auch ich habe wohl vergessen, wie schwer die Arbeit des Tages auf Ihnen lag. Hat meine Härte Sie je gedrückt und verbittert, so büße ich heut dafür. Denn als ich kurzsichtiger, irrender Mensch beförderte, was Sie herausheben sollte aus äußerer Bedrängnis, da lud ich eine Mitschuld auf mich, daß Sie hier der Versuchung aufs neue verfielen. Das ängstigt mich schwer, Herr Magister und ich fühle wie Sie die Qualen dieser Stunde.«

Magister Knips saß erschöpft und zusammengekauert auf der Truhe, der Gelehrte stand über ihm, und seine Worte sanken wie Schläge auf des Magisters Haupt. »Ich darf nicht verschweigen, Herr Magister, daß Sie ein Fälscher sind, Sie dürfen nie wieder in unserm Kreis sich lebendig rühren, Ihre Laufbahn als Gelehrter ist durch Ihr Verbrechen geschlossen, Sie sind unserer Wissenschaft verloren, verloren für alle, welche an Ihren Arbeiten einen Anteil nahmen. Sie sind geschwunden für uns, auf der Stätte, wo Sie unter uns gestanden haben, ist nichts geblieben als ein schwarzer Schatten. Eine Menschenkraft, mühsam heraufgezogen, ein Geist von ungewöhnlichem Scharfsinn und Inhalt ist uns verloren und tot. Und wie über einen Toten traure ich über Sie.«

Der Gelehrte weinte, Knips drückte sein Gesicht in die Hände. Werner eilte zum Schreibtisch. »Brauchen Sie Mittel, Ihr zerstörtes Leben in anderer Umgebung zu erhalten, hier sind sie. Nehmen Sie, was Sie bedürfen.« Er warf Geld auf den Tisch. »Versuchen Sie, Ihr Haupt zu bergen, wo Ihnen niemand aus unserer Gemeinde begegnet. Möge Ihnen jedes Gut zuteil werden, das auf der Erde noch für Sie übrig ist. Aber fliehen Sie, Herr Magister, meiden Sie die Stellen, wo man mit Trauer Ihrer denkt und mit dem Widerwillen, den der ehrliche Arbeiter gegen den untreuen empfinden

Knips erhob sich, sein Gesicht war noch bleicher als gewöhnlich, er blickte verstört umher. »Ich brauche kein Geld,« sagte er tonlos, »ich habe genug zu meiner Reise. Ich bitte den Herrn Professor, für meine Mutter zu sorgen.«

Der Gelehrte stand abgewandt, und der kräftige Mann schluchzte. Magister Knips ging an die Tür, dort blieb er stehen. »Ich habe den Homer von 1488, sagen Sie meiner Mutter, daß sie Ihnen das Buch gibt. Wenn Ihnen auch der Gedanke an mich traurig ist, behalten Sie doch das Buch. Es war mir ein Schatz.«

Der Magister schloß die Tür und ging langsam aus dem Hause. Der Wind fegte durch die Straßen, er stieß an den Rücken des Magisters und beschleunigte seinen Schritt. »Er treibt,« murmelte Knips wieder, »er treibt vorwärts.« Auf dem freien Platz blieb er im Winde stehen und sah nach den Wolken, welche in eiligem Fluge unter dem Monde dahinfuhren, unförmliche Gebilde aus grauem Dunst schwebten und glitten über seinem Haupte. Er dachte an die letzte Korrektur, welche er in seiner Vaterstadt gelesen, und sprach griechische Worte vor sich hin, es waren Verse aus den Eumeniden des Äschylus: »Packt an, packt an, packt an, ihr Götterhunde.« Er ging hinauf zu dem Schlosse und blieb vor den erleuchteten Fenstern stehen, die vier Rappen, welche den Fürsten vom Turmschloß nach der Stadt zurückführten, flogen an ihm vorüber, er ballte die hagere Hand gegen den Wagen. Dann lief er um das Schloß herum auf die Parkseite. Dort drückte er sich unter den Fenstern des Fürsten an einen Baum, sah zum Schlosse hinauf, hob wieder die Faust gegen den Schloßherrn und seufzte. Er blickte auf den dunkeln Ast, der über ihm ragte, starrte auf den Himmel und die grauen flatternden Schatten, welche unter dem Mond dahinzogen, und verzweifelte Gedanken fuhren ihm durch den Sinn. »Wenn der Mond verschwindet, so soll es auch mir ein Zeichen sein.«

Er sah lange auf den Mond. Dabei zog ihm leise unter wilden Gedanken ein lateinischer Satz durch sein gequältes Hirn: »Der Mond und die Erde verhalten sich wie kleine Punkte zum Weltall, das sagt schon Ammianus Marcellinus. Ich habe die Handschriften dieses Römers verglichen, ich habe Konjekturen gemacht zu jeder Seite seines verdorbenen Textes, ich habe jahrelang über ihm gesessen. Wenn ich hier tue, um diesen unwissenden Fürsten zu ärgern, was dem Haman getan wurde, so geht der Apparat zu meinem Römer verloren.« Er tauchte unter dem Baume hervor und lief in seine Wohnung. Dort raffte er seine Habe zusammen, steckte sein Handexemplar des Ammianus in die Rocktasche und eilte mit seinem Bündel dem Tor zu.

Man sagt, er sei in dasselbe Land, das vor ihm sein Bruder gesucht, tief hinein gen Westen gezogen.

Er entwich und barg sein Haupt, ein untreuer Diener und ein Opfer der Wissenschaft. Sein Lebelang hatte er über geschriebenem Wort gesessen, jetzt riß ihn aus der Heimat das lebendige Wort, welches von einer andern Seele in die seine drang. Bei Tag und Nacht hatten ihn die Buchstaben der Bücher umgeben und gelehrte Schrift, die aus dem Rohr auf das weiße Blatt geflossen war, aber ihm hatte zu rechter Zeit der Segen des Wortes gefehlt, welches aus dem Munde in das Ohr, vom Herzen zum Herzen klingt. Denn was wir als das Gemeinste gebrauchen, ist uns auch das Höchste. Geheimnisvoll ist uns noch heut, wie unsern Vorfahren, seine Gewalt. Das Geschlecht unserer Schriftzeit, geübt die Laute in ihrem Bilde zu schauen, gewöhnt, die Kräfte der Natur durch Maß und Wage zu schätzen, denkt selten daran, wie mächtig klangvolles Wort der Menschenbrust in uns waltet. Es ist Herrin und Dienerin, es erhebt und zerstört, es macht krank und schafft Heilung. Glücklich der Lebende, dem es voll und rein in das Ohr tönt, der den weichen Laut der Liebe, den herzhaften Ruf des Freundes unablässig empfängt. Wer den Segen der Rede entbehrt, die aus warmem Herzen quillt, der wandelt schon als Lebender unter den andern wie ein Geist, der vom Leibe gelöst ist, wie ein Buch, das man aufschlägt, benutzt, von sich abtut nach Gefallen. Der Magister hat durch geschriebenes Wort gesündigt, ihn hat der Schmerzensruf einer Menschenstimme in die dämmrige Ferne gescheucht.


 << zurück weiter >>