Gustav Freytag
Die verlorene Handschrift
Gustav Freytag

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Zweites Kapitel

Im Pavillon

Die prächtigen Irisfarben, womit Ilse in den ersten Tagend ihren neuen Aufenthalt geschmückt hatte, verblichen allmählich. Wie an Stelle des Haushofmeisters und der empfangenden Lakaien jetzt ein einzelner Diener in dunkelm Rock neben Gabriel trat, so kleidete sich auch alles andere, was Ilse umgab, Wohnung und Menschen, in die bescheidenen Farben gewöhnlicher Erdentage. Das war in der Ordnung und Ilse sagte das selbst ihrem Gatten. Nur eines war ihr nicht recht, daß sie von ihrem Felix jetzt mehr getrennt war als in der Stadt. Den Morgen und einen Teil des Nachmittags arbeitete er im Antikenkabinett, viele Stunden auch für seine eigenen Zwecke im Archiv und unter den Akten des Marschallamtes, dessen einfaches Zimmer ihm bereitwillig geöffnet wurde; kam er nach Hause, so hatte er zuweilen Eile, sich zur fürstlichen Tafel umzukleiden, und Ilse speiste allein. Wie gewandt der fremde Diener die große Zahl der Schüsseln auftrug, ihr war die einsame Mahlzeit ungewohnt und traurig. Nur die Mehrzahl der Abende verging ihr in neuer Unterhaltung, dann hielt ein fürstlicher Wagen vor dem Pavillon und entführte sie mit ihrem Gatten in das Theater. Als sie zum erstenmal die geschlossene Loge nahe der Bühne betrat, freute sie sich des bequemen Platzes, der ihr erlaubte, ungestört durch das Publikum der Vorstellung zu folgen. Wenn sie sich in ihrer Loge zurücklehnte, sah sie nichts von dem Zuschauerraum, nur den Sitz des Fürsten gegenüber. Das Theater war sehr stattlich, Dekorationen und Kostüme viel reicher, als sie in der Universitätsstadt gesehen hatte, bei der Oper einige gute Sänger. Hingerissen von der Aufführung merkte sie nicht, wie neugierig das Publikum nach ihr hinsah, daß auch der Fürst sein Augenglas oft auf sie richtete. Bald kam sie zu der Ansicht, daß das Theater noch das beste Vergnügen der Residenz sei, und der Gatte hielt darauf, daß sie diese Zerstreuung nicht entbehrte, obgleich er selbst vielleicht vorgezogen hätte, über seinen Büchern zu bleiben oder ein Aktenbündel des Archivs zu durchsuchen. In den Zwischenakten sah Ilse dann neugierig hinunter auf die Menschen, die ihr alle fremd waren, und sagte zu Felix: »Hier ist doch die einzige Gelegenheit, wo ich noch Frauen in meiner Nähe habe.«

Denn in den Tagesstunden fühlte sie die Einsamkeit. Der Vater hatte einen Geschäftsfreund in der Stadt, sie war gleich am ersten Tage hingegangen, aber in der Familie des kleinen Kaufmanns fand sie niemand, der ihr zusagte: sie war nach Anweisung des Kammerherrn mit Felix bei den Damen des Hofes umhergefahren, ihren Besuch zu machen, in den meisten Häusern war niemand zu Hause gewesen und sie hatte Karten abgegeben. Spärlich kamen die Gegenbesuche, und es traf sich immer, daß Ilse, wenn sie einmal in die Stadt oder den Schloßgarten gegangen war, bei der Heimkehr die Karte einer Dame auf dem Tisch fand. Das war ihr gar nicht lieb, denn sie wollte wissen, wie sich mit den Frauen hier umgehen ließe. Zwar einige Herren des Hofes stellten sich in den Morgenstunden ein, der Kammerherr und der Hofmarschall, aber auch die Besuche des Kammerherrn wurden kürzer, er sah gedrückt aus und sprach fast nur von der anhaltenden Unpäßlichkeit des Erbprinzen.

Sehr begierig war Ilse, die Prinzessin kennenzulernen. Am zweiten Tage nach der Ankunft brachte der Kammerherr die Kunde, daß Ihre Hoheit Herrn und Madame Werner zu festgesetzter Stunde sehen wolle. Ilse stand neben dem Gatten unter Seide und Vergoldung eines fürstlichen Zimmers, die Tür flog auf, eine junge Dame in Halbtrauer schwebte herein. Ilse erkannte auf den ersten Blick die Schwester des Erbprinzen, eine feine, zierliche Gestalt, dieselben Augen, nur kecker und glänzender, um den feinen Mund ein reizendes Lächeln. Die Prinzessin neigte gegen sie ernst das kleine Haupt, sprach einige artige Worte zu ihr und wandte sich dann zu Felix, mit dem sie sogleich in lebhaftes Gespräch kam. Ilse sah mit Bewunderung auf die leichten Bewegungen, auf den Takt, mit welchem die Prinzeß Freundliches zu sagen wußte, sie merkte bald, daß aus der schönen Hülle ein lebhafter Geist hervorblickte, den Antworten des Gatten folgten blitzschnell gescheite Einfälle der erlauchten Dame. Zum Schluß wandte sich die Prinzessin wieder an Ilse und sagte, wie sehr ihr Bruder bedaure, daß seine Krankheit ihn des Vergnügens beraube, sie hier zu sehen. Worte und Ton waren sehr gütig, und doch lag etwas von Stolz und fürstlicher Würde darin, was Ilse weh tat. Als der Professor bei der Rückfahrt mit Wärme von der liebenswürdigen Dame sprach und ausrief: »Das ist ein ungewöhnlich klarer Geist, wie ihr Aussehen, ist auch ihre innere Arbeit von elfenhafter Anmut,« da schwieg Ilse still, sie fühlte, daß der Gatte recht hatte, aber ihr war, als hätte die Prinzessin sie ausgeschlossen von der Annäherung, welche sie ihrem Felix gestattete.

In dieser Stimmung war ihr eine Aufmerksamkeit überraschend und wertvoll. Seit jener Unterredung mit dem Fürsten überbrachte ihr der Hofgärtner jeden Morgen zu derselben Stunde eine Schüssel der prächtigsten Blumen im Auftrage des hohen Herrn. Dabei blieb es nicht, wenige Tage darauf kam der Fürst wieder heran, als Ilse vor der Tür saß. Er fragte, ob ein leiser Windzug nicht ratsam mache, in das Haus zu treten; sie geleitete ihn in die Zimmer, er saß dort nieder, forschte angelegentlich, wie sie sich unterhalte, ob sie Bekannte in der Stadt gefunden, und war so gütig um ihr Wohlbefinden bemüht, daß Ilse dem Gatten nach seiner Heimkehr sagte: »Wie trügerisch ist doch die Ansicht, die man sich über fremde Menschen bildet. Als ich hierher kam, dachte ich mir den Herrn als einen recht hinterhaltigen Mann, und er ist so freundlich und sieht aus wie ein recht guter Hausvater. Nun – Strenge mag bei der großen Wirtschaft hier wohl manchmal nötig sein.«

Das kurze Ansprechen des Fürsten wiederholte sich. Beim nächsten Mal traf er den Professor neben seiner Gattin. Diesmal war der Fürst ernster als sonst. »Wie waren Sie mit dem Erbprinzen zufrieden?« fragte er den Professor.

»Die Vortragenden rühmten seinen Fleiß, unter den Studenten hatte er Popularität gewonnen, man sah ihn allgemein mit Bedauern scheiden.«

Der Fürst horchte auf das Wort Popularität. »Wie hat der Prinz verstanden, sich diese zu erwerben?«

»Er hat Redlichkeit und entschiedenen Willen bewiesen, man hatte Zutrauen zu seinem Charakter.«

Der Fürst sah prüfend auf den Professor und erkannte aus der ruhigen Haltung, daß dies nicht unwahre Höflichkeit war.

»Die Zuneigung der Studenten hat sich auch beim Abgange des jungen Herrn durch ein feierliches Ständchen bewiesen,« fiel Ilse ein.

»Ich weiß,« versetzte der Fürst, »ich nahm an, daß Weidegg dabei etwas reichlich das Seine getan habe.«

»Es war freier Wille und warme Empfindung der Studentenschaft,« versicherte der Gelehrte.

Der Fürst schwieg.

»Auch uns Frauen ist der junge Herr lieb geworden,« setzte Ilse das Lob fort, »und in unserm Hause sahen wir traurig den Stuhl leer, auf dem Se. Hoheit an unseren Teeabenden gesessen hatte.«

Immer noch schwieg der Fürst, endlich begann er in herbem Ton: »Was Sie mir sagen, überrascht mich. Ich darf Sie als Lehrer des Prinzen betrachten und zu Ihnen offener sprechen als gegen meine Umgebung. Der Prinz ist eine schwache Natur und ich habe kein Vertrauen zu seiner Zukunft.«

»Bei uns machte er den Eindruck, daß hinter schüchterner Zurückhaltung doch Anlage zu einem wackern und charakterfesten Wesen vorhanden sei,« versetzte der Professor ehrerbietig.

Ilse dachte, daß jetzt der Augenblick sei, dem Prinzen etwas Gutes durchzusetzen. »Wenn ich wagen darf, vor Ew. Hoheit auszusprechen, was auch mein Gatte denkt, der Prinz wünschte sich nähere Kenntnis der Landwirtschaft; da ich auch vom Lande bin, so werden Ew. Hoheit mir verzeihen, wenn ich diese Schule unserem teuren jungen Herrn am liebsten gönnen würde.«

»Auf dem Gut Ihres Vaters?« fragte der Fürst kurz.

»Wo es auch sei,« versetzte Ilse arglos.

»Mir selbst hat er nie etwas von solchen Wünschen gesagt,« schloß der Fürst, sich erhebend. »In jedem Falle bin ich Ihnen für den Anteil dankbar, den Sie an seiner Zukunft nehmen.«

Er entfernte sich mit gehaltenem Gruß zu den Geschäften des Tages. Der Tag wurde hart für alle, welche mit ihm zu tun hatten. Er ritt mit seinem Adjutanten weit hinaus in eine hügelige Waldlandschaft, wo seine Soldaten nach einem Nachtmarsch Felddienst übten. Sonst kümmerte er sich wenig um militärische Einzelheiten, heut hetzte er die Leute und seine Adjutanten durch plötzliche Änderungen der Disposition weit umher. Als die Soldaten ermattet heimzogen, besichtigte er noch ein entferntes Gestüt und eine Waldpflanzung und strich stundenlang auf rauhen Bergwegen einher. Niemand machte es ihm zu Dank, nur Tadel und bittere Bemerkungen fielen von seinen Lippen. Am Abend war Hofkonzert, todmüde stand der Adjutant im Saale und zählte die Minuten bis zu seinem Rückzuge. Da forderte ihn der Fürst, als er den Hof entließ, noch in sein Arbeitszimmer. Hier setzte sich der Fürst auf einen Lehnsessel in die Nähe des Kamins und sah in die Flamme, legte zuweilen ein Scheit an, hielt den silbernen Griff des Feuerhakens in der Hand und schlug nach längern Pausen mit dem eisernen Haken an die metallene Einfassung des Feuerrahmens. Unterdes stand der Adjutant einige Schritt hinter ihm, eine Stunde, zwei Stunden, einer Ohnmacht nah, erst mitten in der Nacht erhob sich der Fürst und sagte: »Sie werden müde sein, ich will Sie nicht länger aufhalten.« Er sprach das mit sanftem Tone, aber in seinen Augen glitzerte ein unheimlicher Schein, und der Adjutant gestand später seinen nächsten Freunden, er werde den Blick nicht vergessen, solange er lebe.

»Zum drittenmal hat der Fürst den Pavillon besucht,« berichtete der Kammerherr dem Erbprinzen, welcher mit verhülltem Hals in seinem Zimmer saß. Der Erbprinz sah auf das Buch nieder, das er vor sich hingelegt hatte. »Fühlen sich die Gäste wohl in ihrer Umgebung?«

»Von Frau Professorin möchte ich das nicht behaupten, ich fürchte, sie gerät hier in eine schwierige Lage. Die auffallende Auszeichnung, welche des Fürsten Hoheit ihr zuteil werden läßt, und gewisse alte Erinnerungen, welche sich an den Pavillon knüpfen –«

Der Prinz stand auf und sah den Kammerherrn so finster an, daß dieser verstummte.

»Der Fürst war heute sehr ungnädig,« fuhr der Kammerherr gedrückt fort. »Als ich über Ew. Hoheit Befinden berichtete, fand ich eine Aufnahme, welche nicht ermutigend war.«

Der Erbprinz trat an das Fenster. »Die Luft ist mild, Weidegg, ich will versuchen, morgen auszugehen.«

Der Kammerherr war sehr unsicher, welche Aufnahme dieser Entschluß des Erbprinzen finden werde, er entfernte sich schweigend.

Als der Prinz allein war, riß er den Schal von seiner Brust und warf ihn in eine Ecke. »Tor, der ich war, ich wollte sie vor dem Geschwätz bewahren und habe Schlimmeres herbeigeführt. Ich selbst sitze hier in der Kartause und der Fürst macht ihr an meiner Statt seine Besuche. Es war ein feiges Mittel. Vermag ich nicht abzuwenden, was über die Arme heraufzieht, so will auch ich meine Rolle in dem Stück spielen, das hier beginnt.«

Als der Prinz am nächsten Morgen bei seinem Vater eintrat, begann dieser mit ruhiger Kälte: »Ich höre von Fremden, daß du dir Einblick in eine Landwirtschaft ersehnt hast. Der Wunsch ist verständig. Ich will daran denken, wie du Gelegenheit erhältst, diese Kenntnisse irgendwo auf dem Lande zu erwerben. Das wird auch für deine Gesundheit vorteilhaft sein und deiner Neigung zu poetischem Stilleben entsprechen.«

»Ich werde tun, was mein lieber Vater mir befiehlt,« antwortete der Erbprinz und verließ das Zimmer.

Der Fürst sah ihm nach und murmelte: »Kein anderer Laut in seiner Kehle als feige Ergebung, stets dieselbe unterwürfige Geduld. Ihm zuckte keine Miene, keine Wimper, als ich das Unwillkommene befahl. Ist möglich, daß dieser schlaffe Knabe in der Verstellung ein Meister ist, der mich und uns alle hintergeht?«

Wenn Ilse trotz der Auszeichnung, welche der Fürst ihr zuteil werden ließ, doch etwas von den dunkeln Schatten ahnte, welche über dem Pavillon lagen, weit anders war die Stimmung ihres Gatten. Er lebte bereits mitten in kleinen reizvollen Untersuchungen, zu denen ihm das Antikenkabinett Veranlassung gab, und die Poesie seines ernsten Geistes arbeitete geschäftig, ihm den Aufenthalt in der Residenz mit glänzendem Schein zu umziehen. Er war ein Jäger, der, reine Bergluft atmend, mit leichtem Schritt auf seinem Jagdgrund schreitet, während um ihn der Sonnenstrahl Moosgrund und Heidekraut vergoldet. Jetzt war für ihn die Zeit gekommen, wo in den Bereich seiner Hand kam, was er seit Jahren geträumt hatte. Zwar die neue Spur der Handschrift blieb undeutlich. Was aus jenen Truhen geworden war, die in dem alten Briefe erwähnt wurden, war noch nicht zu ermitteln. In der Bibliothek des Fürsten, in einer Büchersammlung der Stadt fanden sich weder Handschriften noch andere Bücher, welche aus der Habe des Klosters Rossau eingereiht sein konnten. Er hatte die Bekanntschaft mit dem Oberjägermeister erneuert, auch dieser wußte keinen Raum zu nennen, wo altes Jagdgerät aufbewahrt werde. Er durchlief alte Verzeichnisse des Marschallamtes, nirgend waren die Kisten zu erkennen. Aber befremdlicher blieb, daß der Name eines fürstlichen Schlosses Solitude auch in der Residenz ganz unbekannt war, kein Druckwerk, kein altes Papier enthielt den Namen. Wenn auch durch einen Brand in der Hofkanzlei viele Akten vernichtet waren, aus dem Erhaltenen mußte sich doch eine Kunde auffinden lassen. Doch das Schloß war, wie aus einer alten Sage, verschwunden und versunken; auch außerhalb des fürstlichen Gebietes, in angrenzender Landschaft haftete nirgend dieser Name. Offenbar war er wenig bekannt und bald mit einem andern vertauscht worden. Wie seltsam aber auch dieser Umstand war, durch die Nachricht des Studenten hatte jener alte Brief des Beamten eine Bedeutung gewonnen, die dem Suchenden guten Erfolg wahrscheinlich machte. Denn erst vor wenig Jahren hatte jemand, der von dem Wert solcher Nachrichten nichts wußte, die Kiste von Rossau gesehen, sie war nicht mehr ein täuschendes Bild aus ferner Vergangenheit, jeden Tag konnte ein glücklicher Zufall darauf führen. Vorläufig nur ein Zufall. Aber wenn der Professor auf das Schieferdach des fürstlichen Schlosses blickte und die großen Treppen hinaufstieg, kam ihm immer eine frohe Ahnung, daß er jetzt seinem Fund nahe sei. Mit Hilfe des Kastellans hatte er bereits den ganzen Schloßboden durchsucht, er war unter den mächtigen Balkenlagen des alten Baues herumgeklettert wie ein Marder und hatte alte Dachkammern geöffnet, deren Schlüsselbart vielleicht seit einem Menschenalter nicht im Schlosse gedreht war. Er hatte nichts gefunden. Aber es gab noch andere Häuser des Fürsten in der Stadt und Umgegend, und sein Entschluß stand fest, in der Stille eines nach dem andern zu durchsuchen.

In dieser Zeit treibender Unruhe, wo die Phantasie stets neue Aussichten öffnete, war ihm der Verkehr mit gefälligen Menschen sehr erfreulich. Er selbst innerlich angeregt, zeigte sich als guter Gesellschafter und beobachtete mit heiterem Anteil das Treiben seiner Umgebung. Der Fürst zeichnete ihn auffallend aus, die Kavaliere waren zuvorkommend, er schritt sicher und ohne Ansprüche neben ihnen dahin.

Der Kammerherr berichtete dem Professor, wie gut er der Prinzessin gefallen habe, und Felix freute sich, daß an einem Vormittage auch sie mit ihrer Hofdame das Antikenkabinett besuchte und um seine Führung bat. Als die Prinzessin sich dankend entfernte, bat sie ihn noch, ihr Bücher anzuweisen, aus denen sie sich selbst ein wenig über den Teil des antiken Lebens unterrichten könne, dessen Trümmer er ihr gewiesen, sie erzählte ihm von einer antiken Vase, die sie besitze, und forderte ihn auf, diese bei ihr anzusehen.

Jetzt stand der Gelehrte neben der Prinzessin vor der aufgestellten Vase. Er erklärte ihr den Inhalt des Bildes und erzählte einiges über altgriechische Töpferarbeit. Die Prinzessin führte ihn in ein anderes Zimmer und wies ihm wertvolle Handzeichnungen: »Damit Sie alles sehen, was ich von Kunstsachen besitze.« Während er diese ansah, begann sie plötzlich: »Sie haben jetzt etwas von uns kennengelernt, wie sind Sie mit uns zufrieden?«

»Man ist mir sehr freundlich entgegengekommen,« erwiderte der Professor, »das tut dem Selbstgefühl wohl, mir macht Freude ein Tagesleben zu sehen, das von dem meines Kreises abweicht, und Menschen, welche anders geformt sind.«

»Und worin finden Sie uns anders geformt?« fragte die Prinzessin angelegentlich.

»Die Gewöhnung, sich in jedem Augenblick schicklich darzustellen und unter andern seine Stellung zu behaupten, gibt den Personen eine leichte Sicherheit, welche sehr wohltuend wirkt.«

»Das wäre ein Vorzug, den wir mit jedem erträglichen Schauspieler teilen,« versetzte die Prinzessin.

»In jedem Fall ist es ein Vorteil, immer dieselbe Rolle zu spielen.«

»Sie meinen, es ist deshalb reine Kunst, wenn wir Gewandtheit erwerben und unsere Sache besser machen,« fiel die Prinzessin lächelnd ein, »aber darin liegt auch eine Gefahr, wir werden von klein auf sehr daran gewöhnt, uns angemessen zu erweisen, daß unsere Aufrichtigkeit zuweilen in Gefahr kommt, wir beobachten die Wirkung unserer Worte und wir denken leicht mehr an die gute Wirkung als den wahrhaften Inhalt der Reden. Ich selbst, während ich mit Ihnen spreche, bemerke mit Vergnügen, wie ich Ihnen gefalle, ich bin auch nichts weiter als eine arme Prinzessin. Aber wenn Ihnen an uns die Meisterschaft im Darstellen der eigenen Person gefällt, uns zieht ebensosehr ein Wesen an, das sicher in sich ruht, ohne auf Wirkung zu achten, und wir finden vielleicht Mängel in der Form, einen kräftigen Ausdruck und dergleichen gerade anziehend, immer vorausgesetzt, daß man uns nicht verletzt, denn darin sind wir empfindlich. Wer uns auf die Dauer gefallen will, der tut gut, unsere Ansprüche jeden Augenblick zu schonen. Ich will nicht, daß Sie mich so behandeln,« unterbrach sie sich, »aber ich denke dabei doch an Sie. Gestern hörte ich, wie Sie dem Fürsten geradezu widersprachen. Bitte, schonen Sie unsere Schwäche, ich möchte, daß Sie sich recht lange bei uns gefielen.«

Der Professor verneigte sich. »Wenn ich im Widerspruch wärmer wurde als nötig war, so bin ich einer Versuchung unterlegen, welche Männern meines Berufes gefährlich wird. Disputieren ist die Schwäche der Gelehrten.«

»Gut, wir rechnen mit unsern Eigenheiten gegeneinander ab. Sie aber sind in der glücklichen Lage, stets frischweg anzugreifen, wir immer in der entgegengesetzten, uns vorsichtig zu verteidigen. Die große Sorge, welche uns von Jugend auf jeden Augenblick am Kleide zieht, ist die, daß wir uns nichts hergeben. Bei Ihnen streitet man sich wahrscheinlich selten um den Vorrang, ich fürchte, auch Ihnen ist sehr gleichgültig, welche Stufe Sie in unserer Rangordnung entnehmen, uns ist dergleichen große Angelegenheit, nicht nur unserm Hofstaat, noch mehr uns selbst. Viele von uns sind tagelang unglücklich, weil sie nicht bei Tafel den Platz erhalten, den sie beanspruchen. Mancher Besuch unterbleibt deshalb, alte Verbindungen werden abgebrochen, und es gibt allerlei unfreundliches Gezänk hinter der Szene. Treten wir einmal klugen Leuten von Ihrer Art gegenüber, dann lachen wir wohl selbst über die Schwäche, aber wenige sind frei davon. Auch ich habe schon um meinen Platz bei der Tafel gefochten und mit dem Fächer Wind gemacht,« setzte sie mit mutwilliger Offenheit hinzu.

»Niemand mag sich in jedem Augenblick von den Anschauungen seiner Umgebung frei erhalten,« versetzte artig der Professor. »Vor hundert Jahren war im Leben des Bürgers derselbe peinliche Eifer um Rang und gesellige Bevorzugung. Bei uns ist das anders geworden, seit unser Leben einen stärkern geistigen Inhalt erhielt. In Zukunft wird man auch bei Hof über dergleichen als veralteten Trödelkram lächeln.«

Die Prinzeß hob drohend den kleinen Finger. »Herr Werner, das sprach wieder der Gelehrte, verbindlich war das nicht. Wir bewegen uns nicht so sehr im Nachtrabe der Mode und guten Lebensart, daß wir hinter den Menschen zurückgeblieben sind, von denen wir uns gesellschaftlich abschließen.«

»Vielleicht gerade deshalb,« sagte der Professor, »weil man sich abschließt. Der wärmste Herzschlag unserer Nation war von je in der Mitte zwischen oben und unten, von da aus verbreiten sich Bildung und neue Ideen allmählich zu den Fürsten und in das Volk. Sogar Eigentümlichkeiten und Schwächen einer Zeitbildung steigen in der Regel ein halbes Menschenalter, nachdem die Gebildeten in der Mitte des Volkes darunter gelitten haben, auf die Throne, sie erlangen dort erst Geltung, wenn sie im Volke durch neue Zeitrichtung bereits überwunden sind. Auch deshalb wird es zuweilen schwer, daß sich Fürst und Volk in ernsten Dingen verstehen.«

»O wie haben Sie recht,« rief die Prinzessin und trat näher an ihn. »Das ist Verhängnis der Fürsten, unser aller Unglück, daß die tüchtigste Bildung unserer Zeit selten freundlich auf uns wirkt. Die frische Luft fehlt dem Kreis, in dem wir leben, wir alle sind weich und stubenkrank. Was uns nahetritt, muß sich unsern Vorurteilen anbequemen, und wir gewöhnen uns, die Menschen nur nach der künstlichen Ordnung zu schätzen, die wir selbst für sie erdacht. Haben Sie früher einmal mit einem unserer großen Herren in Verbindung gestanden?«

»Nein,« entgegnete der Professor.

»Haben Sie auch niemals, was Sie geschrieben, einem hohen Herrn übersandt?«

»Ich hatte dazu keine Veranlassung,« versetzte der Professor.

»Dann sind Sie sogar unbekannt mit der Skala von Huldbezeigungen, welche wir den Herren Gelehrten gegenüber feststellen. Jetzt mache ich die schöne Belehrung über Tonvasen quitt, die ich von Ihnen erhalten, auch ich gebe Ihnen Unterricht. Setzen Sie sich mir gegenüber, Sie sind jetzt mein Scholar.« Die Prinzeß lehnte sich in dem Sessel zurück und zog ihr Gesicht in ernste Falten. »Wir nehmen an, Sie sind fromm und gut und schauen ehrerbietig nach dem Stiele des Reichsapfels hin, den wir in der Hand halten. Ihre erste Sendung kommt, ein ansehnliches Buch; der Titel wird aufgeschlagen: Über antike Tonvasen. – Hm hm, wer ist der Mann? Man erkundigt sich ein wenig, es ist gut, wenn bereits gedruckte Notizen über Sie zu haben sind. Darauf anerkennende Antwort aus dem Kabinett, kurze Variation nach dem Formular Numero 1. Ihre zweite Sendung erscheint, ein hübscher Einband, ein angenehmer Eindruck, deshalb wärmere Anerkennung in verbindlichen Ausdrücken nach Formular 2. Dritte Sendung, wieder dick, der Goldschnitt ist untadelhaft, das Kabinett nimmt das Buch in die Hand und erwägt. Ist der Verfasser eine kleine Leuchte, so tritt er in das Stadium der Busennadel, ist er höherer Beachtung wert, durch bekannten Namen, oder was uns sicherer ist, durch einen Titel, so gelangt er in den Gesichtskreis des Ordens. Ein Orden hat Klassen, welche an Fremde genau nach ihrem Titel ausgeteilt werden. Aber wer beharrlich ist und nicht nachläßt, immer aufs neue zu verpflichten, der hüpft allmählich wie der Laubfrosch in Jahreszwischenräumen nach der Höhe.«

»Ehrerbietigen Dank für die Belehrung,« erwiderte der Professor, »es sei mir gestattet, in diesem Fall das Kabinett in Schutz zu nehmen. Was sollen die erlauchten Herren zuletzt aus gleichgültige Sendungen anderes tun, zumal wenn sie in Menge einlaufen?«

»Es war nur ein gutmütiges Beispiel,« sagte die Prinzessin, »wie hübsch wir die Stufen zu unserer Gnade nach allen Richtungen gezimmert haben. Übrigens sind wir bei dem, was wir Männern austeilen, nicht nur artig, sondern auch haushälterisch für uns selbst besorgt. Wer nicht bunte Bänder zu verschenken hat, fühlt sich sehr geniert. Aber,« fuhr sie in verändertem Ton fort, »in derselben Weise ist ein großer Teil unserer Tätigkeit auf eiteln Schein und leere Form gerichtet; und weil Hunderte so schwach und abhängig sind, daß sie sich dadurch anziehen lassen, meinen wir Millionen an uns fesseln zu können.«

»Manch kleiner Vorteil wird damit erreicht,« versetzte der Professor, »nur ein Irrtum ist in der Rechnung: wer die Menschen durch ihre Schwäche, Eitelkeit und Hoffart an sich bindet, der erwirbt den besten Teil ihres Lebens doch nicht; in ruhigen Zeiten ist dieses beflissene Anziehen unnötig, in der Gefahr erweist es nur die Stärke eines Strohseils.«

Die Prinzeß nickte eifrig mit dem Haupt. »Man weiß das auch recht gut,« sagte sie vertraulich, »und man fühlt sich gar nicht wohl und sicher, trotz dem massenhaften Ausstreuen von Huld. Was ich zu Ihnen sage. würde meinen erlauchten Verwandten wie Hochverrat klingen, nur weil ich es ausspreche, nicht weil ich so denke. Halten Sie mich nicht für einen weißen Raben, es gibt Klügere als ich, die in der Stille ebenso urteilen, aber wir finden uns aus den Schranken nicht heraus, und wir klammern uns daran, obgleich wir wissen, daß die Stütze schwach ist. Denn wie der Kolibri die Schlange, so betrachten wir das Antlitz, welches uns die neue Zeit entgegenhält, mit Schauder und hilfloser Erwartung.« Sie erhob sich. »Doch ich bin ein Weib und habe kein Recht, über diese großen Verhältnisse mitzusprechen. Wenn mir einmal bange wird, gebrauche ich das Vorrecht der Frauen, zu klagen, das habe ich Ihnen gegenüber reichlich getan. Denn mir liegt ernstlich daran, Ihnen zu gefallen, Herr Werner. Ich wünsche, daß auch Sie mich als ein Weib betrachten, welches Besseres verdient als gefällige Worte und höfliche Nichtigkeiten. Gönnen Sie mir recht oft die Freude, an Ihrem Urteil das meine zu berichtigen.«

Sie hielt dem Gelehrten mit herzlichem Vertrauen die Hand entgegen. Werner beugte sich tief herab und verließ das Zimmer. Die Prinzeß sah ihm fröhlich nach.

Der Professor trat warm von dem Gespräch in den Pavillon und erzählte seiner Frau den ganzen Verlauf. »Ich habe nicht für möglich gehalten,« rief er, »daß in Frauen dieses Kreises ein so freies, hochsinniges Verständnis ihrer Stellung zu finden sei. Das Schönste war die heitere Unbefangenheit ihres Wesens, ein Liebreiz, der sich jeden Augenblick in Akzent und Bewegung aussprach. Die kleine Dame hat mich bezaubert. Ich will ihr sogleich das Buch zurechtmachen, das sie sich gewünscht hat.« Er setzte sich an den Tisch, strich gedruckte Stellen an und schrieb Bemerkungen auf kleine Zettel, die er hineinlegte.

Ilse saß am Fenster und sah mit großen Augen auf den Gatten. Es war kein Wunder, daß die Prinzeß ihm gefiel, Ilse selbst hatte mit dem Scharfsinn einer Frau erkannt, wie fein sie zu gewinnen wußte. Hier war eine Seele, die sich unter dem Zwang ihres Hofes nach dem Verkehr mit einem freigebildeten Mann sehnte, hier war ein kräftiger Geist, der sich über die Vorurteile seines Ranges erhob, gewandt, leicht beflügelt, mit schnellem Verständnis. Jetzt hatte diese Frau einen Mann gefunden, zu dem sie aufsehen mußte, und sie legte mit ihrer kleinen Hand die Fesseln um seine Brust.

Es wurde dunkel im Zimmer, noch saß Felix, machte Zeichen und schrieb. Die Strahlen der Abendsonne lagen auf seinem Haupt, um Ilse schwebten die dunkeln Schatten des fremden Raumes. Im Rücken des Gatten erhob sie sich von ihrem Stuhl.

»Er ist gut gegen mich,« klang es in ihr, »er liebt mich, wie man an jemandem hängt, den man sich gezogen und zum Vertrauten gemacht hat. Er ist nicht wie andere Männer, daß er meine Rechte hinwerfen wird an eine Fremde, er ist arglos wie ein Kind und merkt nichts von der Gefahr, die ihm und mir droht. Hüte dich, Ilse, daß du den Nachtwandler nicht weckst.«

»Ich Törin! Welches Recht habe ich, zu klagen, wenn auch einer andern seine reiche Seele zugute kommt? Bleibt nicht genug von dem Schatz seines Lebens noch für mich? Nein,« rief sie und schlang die Hände um den Hals des Gatten, »du gehörst mir und ganz will ich dich haben.«

Der Professor sah auf, sein erstaunter Blick brachte Ilse zur Besinnung. »Verzeih,« sagte sie tonlos, »ich war in Gedanken.«

»Was hast du, Ilse?« fragte er gutherzig. »Deine Wange ist heiß, bist du krank?«

»Es wird vorübergehen, habe Geduld mit mir.«

Der Professor verließ sein Buch und beschäftigte sich ängstlich mit seiner Frau. »Öffne das Fenster,« bat sie leise, »die Luft in dem verschlossenen Raume legt sich schwer auf die Brust.«

Er war so herzlich um sie bemüht, daß sie wieder heiter auf ihn sah: »Es war eine törichte Schwäche, Felix, sie ist vorüber.«


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