Gustav Freytag
Die verlorene Handschrift
Gustav Freytag

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Siebentes Kapitel

Der Hummeln Zäsarenwahnsinn

Herr Hahn fuhr an seinem Gartenzaun dahin. Seine Seele war mit Dankbarkeit erfüllt; da diese aber verhindert wurde, durch das gewöhnliche Ventil freundlicher Rede auszuströmen, drang sie ihm in diejenige Kammer seines Hauptes, in welcher er die Pläne für Verschönerung des Gartens aufbewahrte. Der hochherzige Gegner von drüben feierte nächstens seinen Geburtstag, das hatte Herr Hahn auf weitem Umwege entdeckt. An diesem Tage durfte ihm vielleicht ein heimliches Zeichen der Achtung vor Augen gestellt werden. Der größte Schatz im Garten des Herrn Hahn waren seine Topfrosen, Bäumchen und Sträuche von jeder Größe und Farbe, prachtvolle Rosen, welche fast das ganze Jahr blühten und von den Vorübergehenden sehr bewundert wurden. Er trug sie eigenhändig im Garten hin und her und benutzte sie zum Ausputz verschiedener Gruppen. Diese Rosen beschloß er in stiller Huldigung zu widmen. Längst hatte er in der Mitte des feindlichen Gartens ein wüstes Rondel bedauert, das den ganzen Sommer tatlos dalag, als Lagerplatz für den roten Hund oder eine umherschweifende Katze. Wenn Herr Hummel an seinem Festtage in den Garten trat, sollte das runde Beet in eine blühende Rosengruppe verwandelt sein.

Dieser Gedanke verschaffte Herrn Hahn viele glückliche Stunden und erhob ihn ein wenig aus der Tiefe seines Kummers. Er trug also die Rosen in einen versteckten Winkel, stellte sie vor sich nach Größe und Farbe in Reihe und Glied und schrieb mit Kreide Nummern auf die Töpfe. Bei dem Hause des Parkwärters, welches jetzt als äußerster Vorposten der Stadt am Flusse stand, schwamm ein kleiner Kahn, diesen entlieh Herr Hahn in vertraulichster Weise für einige Nachtstunden. Vor dem ersten Morgengrau des feindlichen Geburtstages schlüpfte er aus seinem Hause, trug die Töpfe über den Parkweg in den Kahn und fuhr mit seiner Ladung bis zu der kleinen Treppe, welche aus dem Wasser in den Garten des Herrn Hummel führte. Er schlich mit seinen geliebten Rosen an das runde Beet, ordnete sie geräuschlos nach der Nummer, topfte jede einzelne aus und verwandelte die öde Stätte in ein prachtvolles Rosengebüsch. Als die Sperlinge in der Dachrinne ihre ersten Schimpfreden auf ihn hinabschrien, hatte er die Erde des Beetes wieder mit kleinem Rechen geebnet. Noch einen vergnügten Blick warf er auf sein Werk, einen zweiten auf die dämmrige Hauswand, hinter welcher Herr Hummel der Überraschung des Morgens entgegenschlummerte, dann schlich er mit Grabeisen und leeren Scherben wieder in seinen Kahn, ruderte bis zum Hause des Parkwärters und barg sich und sein Gartengerät auf dem eigenen Grunde, bevor das erste Sonnenlicht seinen Schornstein rosig malte.

Herr Hummel trat zur gewöhnlichen Stunde in die Wohnstube, empfing in guter Laune den Glückwunsch seiner Frauen, blickte gnädig auf den Festkuchen, welchen Frau Philippine neben seinen Kaffee gestellt, und auf die Reisetasche, welche ihm Laura gestickt, nahm seine Zeitung zur Hand und weihte sich durch Teilnahme an den politischen Angelegenheiten der Menschen für die Geschäfte seines eigenen Lebens. Alles ließ sich gut an, er nahm in der Fabrik und im Kontor die Gratulationen auf wie ein Lamm, er streichelte den knurrenden Hund und schrieb Geschäftsbriefe voll Hochachtung an seine Kunden.

Als er gegen Mittag zu seinen Frauen zurückkehrte, trat auch der Doktor von drüben in das Zimmer und brachte seinen Glückwunsch dar. Auf der sonnigen Stirn des Hausherrn lagerte sich eine dunkle Wolke und es wetterleuchtete unter seinen ambrosischen Brauen. »Sieh da, auch Saul unter den Propheten! Wollen Sie einen verlorenen Esel nach dem Hause Ihres Vaters holen? Damit können wir nicht aufwarten. Oder wollen Sie einen Vortrag halten über die Sprache des Orang-Utans im Kokoslande?«

»Meine Vorträge sind Ihnen noch nicht lästig geworden,« erwiderte der Doktor. »Ich komme nicht dazu, weil Ihre gastliche Zuvorkommenheit selbst die Mühe übernimmt, die Anwesenden durch Ergüsse Ihrer guten Laune zu unterhalten. Ich habe Ihnen bereits meinen Wunsch ausgedrückt, niemals Zielpunkt derselben zu sein.«

»So verteidigen Sie sich doch, wenn Sie können,« rief Herr Hummel.

»Nur die Rücksicht auf das Behagen der Anwesenden hindert mich,« versicherte der Doktor, »Ihnen in Ihren vier Wänden die Antwort zu geben, welche Sie zu wünschen scheinen.«

»Es würde mir leid tun, wenn Sie durch meine vier Wände in Nachteil gesetzt würden,« bedauerte Hummel. »Ich mache Ihnen den Vorschlag, stellen Sie sich mit mir auf gleichen Fuß, bleiben Sie drüben und stecken Sie den Kopf zum Fenster hinaus, ich werde dasselbe tun, wir können dann über die Straße einander ansingen wie zwei Kanarienvögel.«

»Jetzt aber bin ich hier,« sagte der Doktor mit einer Verbeugung, »und erhebe den Anspruch, dies Stück Geburtstagskuchen in Frieden und unter freundlichen Gesichtern zu verzehren.«

»Dann ersuche ich Sie, ohne übergroßen Schmerz auf mein Gesicht zu verzichten,« brummte Hummel. Er öffnete die Tür nach dem Garten und schritt unzufrieden die Stufen hinab. Schon von weitem sah er die junge Rosengruppe im Tageslicht unschuldig lächeln. Er umkreiste die Stätte, schüttelte den Kopf und lud seine Frauen in den Garten. »Wer von euch hat diesen Einfall gehabt?« fragte er. Die Frauen bezeugten so lebhaft ihre Überraschung, daß er von ihrer Unschuld überzeugt wurde; er rief den alten Schließer, den Buchhalter, alle bewiesen völlige Unwissenheit. Die Miene des Herrn Hummel wurde finster. »Was heißt das? Hier ist eingeschlichen worden, während wir schliefen, nächtlicher Gartenbau ist nicht nach meinem Geschmack; wer darf sich unterstehen, mein Grundstück ohne Erlaubnis zu betreten? Wer hat diese Naturprodukte eingeführt?«

Er ging unruhig die Wasserseite entlang, neben ihm schlich Speihahn. Der Hund kroch die Wassertreppe hinab, roch an einem braunen Holz, welches auf der letzten Stufe lag, stieg wieder zur Höhe, wandte sich gegen das Haus des Herrn Hahn und machte knurrend einen höhnischen Katzenbuckel. Es war so deutlich, als hätte er die freundlichen Worte gesprochen: »Wünsche wohl zu speisen.«

»Richtig,« rief Hummel, »der Einbrecher hat den Griff des Steuerruders zurückgelassen. Der braune Griff gehört zu dem Kahn des Parkwärters. Tragen Sie ihn hinüber, Klaus, ich fordere Antwort, wer gewagt hat, diesen Kahn hier anzulegen.« Der Schließer eilte mit dem Holze fort und brachte verlegen die Antwort, Herr Hahn habe sich in der Nacht den Kahn ausgebeten.

»Wenn es Ahnungen gibt,« zürnte Hummel, »so war dies eine. Nächtliche Schleicherei Ihres Vaters verbitte ich mir unter allen Umständen,« fuhr er den Doktor an.

»Ich weiß nichts davon,« entgegnete der Doktor. »Hat dies mein Vater getan, so ersuche ich Sie, auch wenn Ihnen an den Rosen nichts liegt, sich doch die gute Meinung gefallen zu lassen.«

»Ich protestiere gegen jede Rose, welche auf meinen Weg gestreut werden soll,« grollte Hummel. »Zuerst hatten wir giftige Klößchen aus übler Meinung und jetzt Rosenblätter aus guter. Ihr Vater sollte an etwas anderes denken, als an solche Possen. Noch ist der Grund und Boden mein, und dies Scharren der Hähne gedenke ich zu verhindern.« Er fuhr wild unter die Rosen, packte Stämmchen und Äste, riß sie aus dem Boden und warf sie in einen wüsten Haufen.

Der Doktor wandte sich finster ab, Laura aber eilte zu dem Vater und sah ihm zornig in das harte Gesicht. »Was du herausreißest,« sprach sie nachdrücklich, »ich setze es mit meinen Händen wieder ein, daß du's nur weißt.« Sie lief in eine Ecke des Gartens, trug Töpfe herzu, kniete am Boden und preßte die Stöcke mit ihren kleinen Erdballen wieder in die Gefäße, ebenso heftig, als der Vater ausrodete. »Ich will sie pflegen,« rief sie dem Doktor zu, »sagen Sie Ihrem lieben Vater, daß nicht alle in unserm Hause seine Freundlichkeit mißachten.«

»Tu, was du nicht lassen kannst,« versetzte Herr Hummel ruhiger. »Klaus, was stehen Sie da und glotzen auf Ihren Hinterbeinen wie eine Schildkröte? Helfen Sie Fräulein Hummel bei ihrer freundlichen Erdarbeit. Dann tragen Sie die ganze Einbescherung wieder hinüber zu dem jugendlichen Blumenzüchter. Eine Empfehlung, und er hätte im Dunkeln die Gärten verwechselt. Die Rosen möchte er selber begießen, bis wir jungen Mädchen miteinander zum Tanze gingen. Dann würde ich ihn um das Grünzeug zu einem Kranze bitten.« Er drehte der Gesellschaft den Rücken und ging mit starken Schritten nach seinem Kontor. Laura kauerte am Boden und arbeitete an den gemißhandelten Rosen mit gerötetem Antlitz und düsterer Entschlossenheit. Der Doktor half schweigend. Er hatte seinen Vater wohl hinter dem Zaune gesehen und wußte, wie tief der Arme den neuen Trotz des Gegners empfinden werde. Laura hörte nicht auf, bis alle Blumen so gut als möglich in den Töpfen geborgen waren, dann tauchte sie die Hände in das vorbeifließende Wasser, und ihre Tränen mischten sich mit der Flut. Sie zog den Doktor nach dem Zimmer. Dort rang sie außer sich die Hände. »Das Leben ist schrecklich, wir gehen beide unter in dem kleinlichen Hader. Es gibt nur eine Rettung für Sie und für mich, sind Sie ein Mann, so finden Sie, was uns löst von diesem Jammer.« Sie stürzte aus dem Zimmer, die Mutter winkte heftig dem Doktor zurückzubleiben, als dieser folgen wollte.

»Sie ist außer sich,« rief Fritz, »was meinen ihre Worte? was fordert sie von mir?«

Die Mutter setzte sich verlegen auf ihren Sorgenstuhl, räusperte sich und zupfte an ihren Ärmeln. »Ich muß Ihnen etwas vertrauen,»Herr Doktor, begann sie zögernd, »was für uns beide sehr schmerzlich ist, und doch weiß ich mir keine Hilfe, und alle Vorstellungen, die ich meinem unglücklichen Kinde mache, sind vergebens. Um Ihnen nichts zu verschweigen, es ist eine große Verirrung, und ich hätte nie erwartet, daß so etwas möglich wäre.« Sie hielt an und suchte Kraft in ihrem Taschentuche. Fritz sah ängstlich auf die verstörte Frau Hummel, ein Geheimnis Lauras, das er seit Wochen geahnt, sollte jetzt vernichtend auf seine Hoffnungen fallen.

»Ich will Ihnen ja alles gestehen, lieber Herr Doktor,« fuhr die Mutter mit vielem Seufzen fort, »Laura schätzt Sie unendlich und der Gedanke, Ihre Frau zu werden, ist ihr, ich darf es im Vertrauen sagen, nicht fremdartig und auch nicht gerade unangenehm. Aber sie hat sich etwas in den Kopf gesetzt, was fürchterlich ist und was ich mich schäme über meine Lippen zu bringen.«

»Sprechen Sie es aus,« rief der Doktor in Verzweiflung.

»Laura will von Ihnen entführt werden.«

Fritz saß starr.

»Es ist unmenschlich, daß ich als Mutter diesen Wunsch gegen Sie aussprechen muß, aber ich weiß mir keinen Rat mehr.«

»Aber wozu?« fragte der Doktor, immer noch betäubt.

»Das gerade ist das Schmerzlichste von allem, und das soll sie Ihnen selbst bekennen. Wie sie auf den Gedanken gekommen ist, durch Dichtungen oder durch Zeitungsberichte aus der großen Welt, ich weiß es nicht. Aber in ihrer Stimmung, welche immer aufgeregt und tragisch ist, kann ich ihr keinen Widerstand leisten. Ich fürchte mich, meinem Mann darüber eine Mitteilung zu machen, ich beschwöre Sie, tun Sie das Ihrige, mein Kind zu beruhigen. Sie ist von Gefühlen zerrissen und ich vermag den innern Kampf dieser jungfräulichen Brust nicht mehr widerstrebend anzusehen.«

»Ich bitte um Erlaubnis,« versetzte der Doktor, »darüber sogleich mit Laura zu sprechen.« Ohne die Antwort der Mutter abzuwarten, eilte er die Treppe zu Lauras Zimmer hinauf. Er pochte. Als ihm keine Antwort wurde, riß er die Tür auf. Laura saß an ihrem Schreibtisch und schluchzte recht herzlich.

»Liebe, süße Laura,« rief der Doktor an ihrer Seite, »ich habe mit Ihrer Mutter gesprochen, lassen Sie mich alles wissen.«

Laura fuhr auf. »Jede warme Empfindung wird mit Hohn beworfen, jede Stunde, in der ich Sie sehe, wird mir durch die Feindseligkeit des Vaters verbittert. Dem ärmsten Mädchen geht das Herz auf, wenn sie die Stimme des geliebten Mannes hört, ich aber muß fragen, ist das die Seligkeit der Liebe? Wenn ich Sie nicht sehe, bangt mir nach Ihnen, und wenn Sie zu uns kommen, fühle ich mich gequält und lausche ängstlich auf jedes Wort des Vaters. Sie selbst sehe ich freudenlos und niedergeschlagen. Fritz, Ihre Liebe zu mir macht Sie unglücklich!«

»Geduld, Laura,« sagte der Doktor, »halten wir aus. Mein Vertrauen zu dem Herzen des Vaters ist besser als das Ihre. Allmählich wird er sich mit meinem Anblick versöhnen.«

»Nachdem uns beiden der Mut gebrochen ist, eine große Neigung durch zahllose kleine Widerwärtigkeiten zerdrückt ist. Ich kann Ihre Frau nicht werden, Fritz, auf diesem Wege, zwischen den Händeln unserer feindlichen Häuser, mich verdirbt die enge Straße und der alte Haß. Oft habe ich hier gesessen und mich abgehärmt, daß ich kein Mann bin, der herauskann, sich selbst sein Glück zu suchen. Hören Sie ein Geheimnis, Fritz,« rief sie vor ihn tretend, und rang wieder die Hände, »ich werde hier hochmütig, boshaft und schlecht.«

»Davon habe ich noch wenig gemerkt,« erwiderte Fritz erstaunt.

»Ich verberge es Ihnen,« rief Laura, »aber ich kämpfe täglich mit unreinen Gedanken; ich bin gleichgültig gegen die Liebe der Eltern: wenn der Vater mich auf den Kopf drückt, so schreit der Teufel in mir, er könnt' es auch lassen; wenn die Mutter mich in ihrer Weise zur Geduld ermahnt, so ist mir ihre Rede in der Stille ärgerlich, weil sie vielleicht schönere Worte gebraucht als nötig wäre. Den Hund hasse ich so, daß ich ihn manchmal ohne Veranlassung knuffe. Das Gespräch am Sonntagstisch, die Geschichten des alten Schauspielers, der ewige kleine Klatsch der Straße erscheinen mir unerträglich. Ich fühle, daß ich ein garstiges Kind bin und ich habe manchmal auf dieser Stelle über mich geweint und mich selbst gehaßt. Aber die schlechten Anwandlungen kehren wieder und werden mächtiger. Das wird hier nicht besser, wo wir beide im Banne leben als zwei verwöhnte Kinder. Wir versinken, Fritz, in dieser Umgebung! Auch die liebende Sorge der Eltern hört auf zu beglücken. Was die Frau Base über den und über die klagt, und daß man sich nicht nasse Füße macht, wollene Strümpfe, und des Sonntags Kuchen mit Zuckerguß: – das alle Jahre, das ganze Leben hindurch!« Sie riß ihr Memoirenbuch auf und hielt ihm ein Bündel Gedichte und Briefe entgegen. »Hier sind Ihre Briefe, durch diese habe ich Sie liebgewonnen, denn hier sind Sie, wie ich Sie verehre. So will ich Sie immer haben. Wenn ich Sie dann wiederfinde zwischen Ihrem und unserm Hause, wie Sie die Schelte des Vaters ertragen müssen, wie Sie sich ängstlich mühen, es allen Teilen recht zu machen, und wenn ich merke, daß Sie bei jedem rauhen Lüftchen doppelte Schals tragen, so wird mir heiß und bange auch um Sie, und ich sehe Sie als einen recht verwöhnten Stubengelehrten vor mir und mich als eine kleine dicke Frau mit einer großen Haube und einem nichtssagenden Gesicht, welche bei der Kaffeetasse sitzt und sich über die täglichen Spaziergänger aufhält, und dieser Gedanke schnürt mir das Herz zusammen.«

Fritz erkannte seine Briefe. Längst war ihm zweifellos, daß Laura die stille Vertraute gewesen, aber als er jetzt auf die Geliebte blickte, welche den geheimnisvollen Briefwechsel in die Höhe hielt, da dachte er nicht mehr der Laune, welche ihm soeben wehe getan hatte, er fühlte nur ihre Treue und die Poesie des zarten Verhältnisses. »Liebe, liebe Laura,« rief er, sie umschlingend, »unruhig pochendes Herz. Wo ist der fröhliche Übermut hin, der dir damals die Hand führte, als du dem armen Sammler das Seil um den Nacken legtest? Mir sind zwei Seelen, mit denen ich innig verkehrte, zu einer geworden, du aber zerlegst mich und dich selbst jetzt klagend in Alltagsmenschen und in höher berechtigte Naturen. Was hat dir dein fröhliches Vertrauen genommen?«

»Unsere Not, Fritz, und der Schmerz, ohne Freude Sie zu sehen, ohne Erhebung Ihre Stimme zu hören. Sie sind bei mir und Sie sind mir oft ferner als in jenen Tagen, wo ich Sie gar nicht sah oder nur in Gesellschaft der Freunde.« Sie löste sich aus seiner Umarmung. »Liebst du mich und bist du der Mann, der dies geschrieben, so wage, mich aus dieser Enge hinauszuziehen. Fange mit mir ein neues Leben an, ich will mit dir arbeiten und entbehren, du sollst sehen, daß ich Kraft habe, ich will Tag und Nacht darauf denken, wie ich den Tagesbedarf verdiene, damit du ungestört durch die kleine Not in deiner Wissenschaft weilen kannst. Sei frisch und keck, wirf die ewigen Bedenken von dir, wage einmal zu tun, was andere mit Achselzucken betrachten.«

»Wenn ich es täte,« antwortete Fritz ernst, »für mich ist das Wagnis gering. Für dich steht auf dem Spiel, woran du jetzt nicht denkst. Wie magst du wähnen, daß ein gewagter Entschluß dir heilsam sei, wenn er einen neuen Mißklang in deine Seele wirft und dich für dein ganzes Leben mit einer Schuld gegen andere belastet?«

»Wenn ich ein Unrecht auf mich nehme,« rief Laura finster, »ich tue es nicht nur für mich. Ich fühle, daß es ein Unrecht ist, ach sehr. Aber ich wage es für unsere Liebe. Niemals wird mein Vater mit gutem Willen Ihre Hand in meine legen. Er weiß, wie ich an Ihnen hänge, und ist nicht so hart, mein Unglück zu wollen, aber er vermag seine Abneigung nicht zu bekämpfen. Heut hat er sich zu der Ansicht gezwungen, daß Sie der Mann sind, dem ich angehöre, morgen kommt ihm wieder die gallige Empfindung, wie sehr ihm das verhaßt ist. Wagen Sie ihm zu trotzen, und Sie werden ihm selbst einen Gefallen tun, beweisen Sie festen Willen, er wird zürnen, aber er wird sich dem Mutigen leichter versöhnen. Er liebt mich,« sagte sie leise, »aber er ist fürchterlich hart gegen andere.«

»Ist er das immer?« fragte der Doktor. »Nun, so kennt die Tochter doch nicht den ganzen Wert ihres Vaters. Ich würde in dieser Stunde ein Unrecht gegen ihn und dich begehen, wenn ich dir verschwiege, was nach seinem Willen für dich Geheimnis bleiben soll. Höre denn: als mein armer Vater in Verzweiflung neben mir saß, da trat dein Vater in unser Haus und gab uns in einer großartigen Weise die Mittel, um den drohenden Sturz abzuhalten. Weißt du nicht, daß sein Schmollen und Zanken oft Ausdruck eines rauhen Humors ist?«

Lauras Augen hingen an seinem Mund, als wollte sie die Worte von seinen Lippen stehlen. »Das hat der Vater getan?« rief sie außer sich, hob die Arme zum Himmel und warf sich zu ihrem Memoirentisch nieder. Fritz wollte sie aufheben. »Laß mich,« bat sie leidenschaftlich, »es wird vorübergehen, ich bin glücklich, laß mich jetzt allein, Geliebter.«

Der Doktor schloß leise die Tür und ging hinab zur Mutter, welche noch immer in Kummer versunken auf dem Sofa saß und alle aufregenden Szenen der Entführung in mütterlicher Angst durchkostete. »Ich bitte Sie, Laura jetzt nicht durch Vorstellungen zu ängstigen,« sagte er, »sie selbst wird die Ruhe wiederfinden, vertrauen wir ihrem wackeren Herzen.« Mit diesen klugen Worten suchte der Doktor sich selbst zu trösten.

Unterdes lag Laura auf den Sessel gestützt und bat dem Vater in Gedanken immer wieder ab, wo sie ihm unrecht getan. Seit Jahren trug sie den Schmerz mit sich herum, der für das Herz eines Kindes am bittersten ist, heut war der Druck von der Seele genommen. Endlich sprang sie auf, zog ihr Tagebuch hervor, riß ein Blatt und wieder eins heraus, ballte die Blätter zusammen und errichtete in dem Ofen ein kleines Opferfeuer, sie sah zu, bis die letzten Funken am schwarzen Zunder hin und her liefen, dann schloß sie die Ofentür und eilte aus dem Zimmer.

Herr Hummel saß in seinem Warenlager vor einem Bataillon neuer Hüte mit breiter Krempe und runder Kappe, welche zur Musterung vor sein Feldherrnauge gestellt waren, und er sprach strafend zu seinem Buchhalter: »Es ist das reine Barbierbecken. Der Mensch verliert seine Hoheit. Allerdings, bei diesen Deckeln wird verdient, niemand merkt die Katzenhaare, die darin sind; aber sie rauben dem Kopf des deutschen Bürgers den letzten Rest von freier Luft, den er bis jetzt in seinem Zylinder heimlich mit sich herumtrug. In meiner Jugend erkannte man einen Bürger an drei Stücken: auf dem Leibe trug er einen Rock von blauem Tuch, auf dem Kopfe einen schwarzen Hut und in der Tasche einen großen Hausschlüssel, mit dessen Bart er bei nächtlichem Überfall die Nasen der Meuchelmörder abdrehte. Jetzt schießt er in grauer Joppe auf sein Bockbier los, die Haustüren öffnet man mit kleinen Korkziehern und die letzten Zylinder werden nächstens für die Kunstsammlungen als Rarität aufgekauft. Sie können nur gleich eine Partie von unserm Fabrikat für die Altertumsforscher zurückstellen.«

Dies behagliche Gebrumm wurde durch Laura unterbrochen, welche heftig eintrat, den Vater mit flehendem Blick bei der Hand faßte und aus dem Warenlager in sein kleines Kontor zog. Herr Hummel unterwarf sich dieser Führung geduldig wie Lot, den der Engel aus den brennbaren Stoffen des Tales entführte. Als Laura mit dem Vater allein war, fiel sie ihm um den Hals, küßte ihm die Wange und brachte lange nichts heraus, als: »mein guter edler Vater.« Herr Hummel ließ sich diese stürmischen Liebkosungen eine Weile gefallen. »Höre auf mit dem Edelmut. Was willst du? Diese Einleitung ist zu großartig für einen neuen Sonnenschirm oder ein Konzertbillett.«

»Vater,« rief Laura, »ich weiß alles, was du an unsern Nachbarn getan hast, ich bitte dich um Verzeihung, ich Unglückliche habe dein Herz verkannt und in vielen Stunden gegen deine Härte gegrollt.« Sie küßte ihm unter Tränen die Hände.

»Hat dieser Duckmäuser von drüben geschwatzt?« fragte Hummel.

»Er mußte mir's sagen, und es war eine selige Stunde für mich. Jetzt will ich dir alles bekennen, in Scham und Reue. Vergib mir,« sie sank an ihm nieder. »Vater, ich bin krank geworden in diesen Jahren, ich habe dich für lieblos gehalten, das ewige Gesumm und die Feindschaft mit den Nachbarn haben mich sehr unglücklich gemacht, und mir ist das Leben hier oft zur Qual geworden.«

Herr Hummel setzte sich ernsthaft zurecht, doch ein wenig betroffen über das Bekenntnis seines Kindes, und ihm war dunkel, als hätte er in Widerhaarigkeit allerdings etwas zu viel geleistet. »Jetzt ist's genug,« sagte er. »Das ist alles aufgeregtes Zeug und Phantasterei. Wenn ich mich durch diese Jahre geärgert habe, mir ist es nicht schlecht bekommen, und ich denke, den drüben auch nicht. Was ist das für eine unpassende Schwermut, daß du jetzt darüber Lamento erregst.«

»Habe Nachsicht mit mir,« bat Laura. »Es ist mir in die Seele gekommen als unwiderstehliche Sehnsucht, einmal hinauszuspringen aus dieser engen Straße. Vater, ich möchte mit einem Satze hinein in die Welt.«

»Nicht übel,« meinte Herr Hummel, »ich möchte auch einen Satz machen, wenn ich nur wüßte, wo diese lustige Welt zu finden ist.«

»Vater, du hast mir oft erzählt, daß du als Wanderbursch aus der kleinen Stadt zogst, wie leicht dir damals im Herzen war, und daß du durch das Wandern zu einem Mann geworden bist.«

»Das ist richtig,« bestätigte Hummel, »es war ein schöner Morgen und es waren acht Groschen in der Tasche. Mir war zumute wie einem geflügelten Spitz.«

»Vater, ich möchte auch wandern.«

»Du?« fragte Hummel. »Mein Ränzel habe ich aufgehoben, es hat nur noch wenig Haare, aber du kannst dir die Stiefel darüberbinden, dann sieht man's nicht.«

»Gut, Vater, auch ich will ausziehen und singen, ich gehe unter fremde Leute und suche, die mir gefallen, ich fange dort an, mein Nest zu bauen, ich prüfe meine Kraft und schlage mich durch auf meine eigene Faust.«

»Zieh dir Hosen an,« sagte Hummel, »du kannst doch nicht allein auf die Wanderschaft gehen.«

»Ich will mir auch jemanden mitnehmen,« antwortete Laura leise.

»Unser Mädchen Susanne? sie kann dir die Laterne tragen: die Wege in dieser Welt sind zuweilen kotig.«

»Nein, Vater, ich meine den Doktor.« Sie erhob sich zu seinem Ohr und flüsterte hinein: »Ich will mich vom Doktor entführen lassen.«

»Pfui Spinne!« rief Hummel verwundert, »du vom Doktor? Wenn du den Doktor entführtest, dann wäre noch eher Verstand darin.«

»Das will ich auch,« versicherte Laura.

»Also Gegenseitigkeit,« sagte Hummel. »Höre, die Sache wird ernst, laß deine Umarmungen unterwegs, halt' die Hände an den Leib und mache ein Gesicht, wie einer Bürgerstochter geziemt, und nicht wie eine Komödiantin.« Er drückte sie auf ein Stühlchen in der Fensternische. »Jetzt rede deutlich. Also du willst den Doktor entführen. Ich frage, womit? Denn dein Taschengeld reicht nicht weit und dort drüben ist auch nicht viel für solche Sonntagsvergnügen übrig. Ich frage, warum? Willst du ihn vorher heiraten, so würde dir die Entführung sehr verdacht werden, denn ich habe noch nicht gehört, daß eine Frau ihren angetrauten Mann gewaltsam entführt hat. Willst du ihn nicht heiraten, so gibt es etwas, was du von deiner Mutter her kennen mußt, und was man Sittsamkeit nennt. Also heraus.«

»Ich will ihn zum Manne,« bat Laura leise.

»Ah, so pfeift die Drossel. Und war dein Doktor bereit, dich vor einer anständigen Hochzeit zu bewahren und mit dir wegzulaufen?«

»Nein, er sprach wie du und erinnerte mich, daß ich dir den Schmerz nicht machen dürfe.«

»Er ist in einzelnen Stunden menschlich,« versetzte Hummel, »ich bin ihm für die gute Meinung verbunden. Endlich frage ich, wohin willst du ihn entführen?«

»Nach Bielstein, Vater, auf das Gut. Dort ist die Kirche, in welcher Ilse getraut wurde.«

»Ich verstehe,« nickte Hummel, »unsere sind zu geräumig, und was nachher? Wollt ihr auf dem Gute in Tagelohn arbeiten?«

»Vater, wenn wir reisen dürften,« flehte Laura.

»Warum nicht?« entgegnete Hummel ironisch, »etwa nach Amerika als Kollegen des Knips junior. Du bist toll wie ein Märzhase. Die rechtmäßige und einzige Tochter von H. Hummel will mit dem Nachbarsohn, der ebenfalls in seiner Art rechtmäßig und einzig ist, ins Schlaraffenland laufen, von Vater und Mutter, aus einem massiven Hause und einem blühenden Geschäft. Daß diese Stunde in meinem Kalender stehen würde, hätte ich niemals gedacht.« Er ging bekümmert auf und ab. »Jetzt also höre deinen Vater. Wärst du ein Junge, ich hätte dich gestenzt und getriezt nach meiner Art, welche die Leute eine grobe Art nennen; du aber bist ein Mädchen geworden, die Mutter hat dich nach ihren Grundsätzen gebildet. Jetzt sehe ich mit Schrecken, daß wir dir zuviel Willen gelassen haben und daß du recht unglücklich werden könntest für dein ganzes Leben. Du hast dir den Doktor in den Kopf gesetzt, du hättest ebensogut auf einen liederlichen tragischen Helden oder auf einen Prinzen verfallen können, und mir wird greulich, wenn ich daran denke.«

»Ich bin aber nicht darauf verfallen,« äußerte Laura kleinlaut, »denn ich bin meines Vaters Tochter.«

Hummel packte ihre Haarflechten und betrachtete sie kritisch. »Dickkopf,« sagte er, »aber die Mischung ist anders, es ist etwas von höherer Weiblichkeit dabei, Phantasie mit mimischen Einfällen. Jetzt ist das Unglück da. Und hier ist ein kräftiger Bürstenstrich nötig.« Diese Worte wiederholte er einigemal und setzte sich nachdenkend auf seinen Stuhl. »Also du willst meine Einwilligung zu einer kleinen Entführung? Ich gebe sie dir. Unter einer Bedingung. Die Sache bleibt zwischen uns beiden, du tust nichts ohne meinen Willen, auch deine Mutter darf nicht wissen, daß du mit mir davon gesprochen. Du sollst in die Welt kutschieren, aber wie ich haben will. Im übrigen danke ich dir für dies Angebinde, das du mir zu meinem Geburtstage machst. Du bist ein schönes Veilchen, das ich mir gezogen habe. Hat man je gehört, daß ein solches Gewächs sich selbst beim Kopfe packt und aus dem Boden reißt?«

Laura umschlang ihn wieder und weinte. »Setze dein Pumpwerk nicht in Bewegung,« rief Herr Hummel ungerührt, »das kann uns beiden nichts mehr helfen. Glückliche Reise, Fräulein Hummel.«

Laura aber ging nicht, sondern blieb an seinem Halse hängen. Der Vater küßte sie auf die Stirn. »Mach dich fort, ich muß mir überlegen, mit welcher Bürste ich dich glattstreiche.«

Laura verließ das Zimmer, Herr Hummel saß lange allein an seinem Pulte und hielt seinen Kopf mit beiden Händen. Endlich begann er wieder leise den alten Dessauer zu pfeifen, für den eintretenden Buchhalter ein Zeichen, daß weiche Gefühle in ihm überhandnahmen. »Springen Sie hinüber zu dem Doktor, ich lasse ihn ersuchen, sich sogleich hierher zu bemühen.«

Der Doktor trat in das Kontor. Herr Hummel griff in sein Pult und brachte ein kleines Papier hervor. »Hier gebe ich Ihnen das Geschenk zurück, das Sie mir einmal gemacht haben.« Der Doktor öffnete, zwei kleine Handschuhe lagen darin.

»Sie können die Handschuhe meiner Tochter an dem Tage geben, wo Sie mit ihr getraut werden, und können ihr sagen, sie kämen von ihrem Vater, dem sie entlaufen wäre.« Er wandte sich ab, trat an das Fenster und trommelte auf den Scheiben.

»Ich habe Ihnen bereits früher gesagt, Herr Hummel, daß ich diese Handschuhe nicht zurücknehme. Am wenigsten tue ich es zu diesem Zwecke. Wenn mir der glückliche Tag heraufsteigt, wo ich Laura heimführen darf, so wird es nur so geschehen, daß Sie selbst die Hand der Tochter in die meine legen. Ich bitte, lieber Herr Hummel, heben Sie die Handschuhe bis zu diesem Tage auf.«

»Sehr verbunden,« versetzte Hummel, »Sie sind ein erbärmlicher Don Juan. Ich bin verpflichtet,« fuhr er in seinem gewöhnlichen Ton fort, »Ihnen eine Mitteilung zu machen, welche Sie nahe genug angeht: meine Tochter Laura wünscht Sie zu entführen.«

»Was jetzt in Laura stürmt,« antwortete der Doktor, »und ihr diesen wilden Gedanken eingegeben hat, ist wohl auch Ihnen kein Geheimnis. Sie fühlt sich gedrückt durch das schwierige Verhältnis, in welchem wir beide zueinander stehen. Ich hoffe, die Aufregung wird vorübergehen.«

»Darf ich mir die bescheidene Frage erlauben«, fragte Hummel, »ob Sie die Absicht haben, sich auf ihren Plan einzulassen?«

»Ich werde es nicht tun,« entgegnete der Doktor.

»Warum nicht?« fragte Hummel kalt, »ich für meinen Teil habe nichts dagegen.«

»Das ist für mich ein Grund mehr, Ihnen gegenüber keine Unbesonnenheit zu begehen und keine zuzugeben.«

»Ich könnte mein Geld dem Spital vermachen,« spottete Herr Hummel.

»Auf diese Bemerkung habe ich nur eine Antwort,« erwiderte der Doktor, »Sie selbst glauben nicht, daß dieser Umstand mein Tun bestimmt.«

»Leider,« versetzte Hummel, »ihr seid beide unpraktisches Volk. Sie hoffen also, daß ich Ihnen zuletzt auch ohne Entführung meinen Segen gebe?«

»Ja, ich hoffe darauf,« rief der Doktor, »wie Sie sich auch gegen mich stellen, ich vertraue, daß die Güte Ihres Herzens größer sein wird als Ihre Abneigung.«

»Verlassen Sie sich nicht auf meine Nachgiebigkeit, Herr Doktor, ich glaube nicht, daß ich Ihnen jemals den Hochzeitsschmaus ausrichten werde. Mein Kind gibt sich mit Vertrauen in Ihre Hand, greifen Sie zu.«

»Nein, Herr Hummel,« sagte der Doktor entschieden, »ich tue es dennoch nicht.«

»Ist meine Tochter im Preis gesunken, weil sie so bereit ist, Ihre Frau zu werden?« fragte Herr Hummel bitter und seine Stimme klang rauh. »Das arme Mädchen hat in der gelehrten Bekanntschaft allerlei Ideen bekommen, die zu dem einfachen Leben ihres Vaters nicht passen.«

»Das ist ungerecht gegen uns alle, auch gegen die abwesenden Freunde,« rief der Doktor unwillig. »Was Laura jetzt stört, ist nur ein wenig Schwärmerei, noch hängt etwas von der kindlichen Poesie der ersten Mädchenjahre in ihr. Wer sie liebt, der mag ihrer lauteren Seele in allem vertrauen. Nur in einem muß er ihr gegenüber festes Urteil behaupten, er wird hier und da milde Kritik ihrer poetischen Einfälle ausüben müssen. Ich aber wäre der Liebe ihres reinen Herzens nicht wert, wenn ich eine übereilte Handlung zugeben wollte, die ihr später Schmerzen bereiten muß. Laura soll nichts tun, was ihrer selbst unwürdig ist.«

»Dies also ist indisch?« bemerkte Herr Hummel, »es ist ein Funke von gesundem Menschenverstand in Ihren Botokuden und Brahminen. Wissen Ihre gelehrten Bücher auch eine Entschuldigung dafür, daß die Tochter sich im Hause ihrer Eltern nicht wohlfühlt?«

»Daran sind Sie allein schuld, Herr Hummel,« sagte der Doktor ernsthaft.

»Hoho,« rief Herr Hummel, »auch dieses noch.«

»Verzeihen Sie mir eine offene Rede,« fuhr der Doktor fort. »Lauras Vater hat die Art, bei aller Liebe für die Seinen ein wenig zu sehr den Tyrannen des Hauses zu spielen. Laura ist von klein auf gewöhnt, mit furchtsamer Scheu auf Ihre kräftige Natur zu blicken, deshalb fehlt ihr die unbefangene Auffassung Ihres Wesens und die Freude an Ihrer närrischen Laune, welche wohl Fernstehende empfanden. Hätten Sie Lauras Entzücken gesehen, als ich ihr bekannte, was Sie an meinem Vater getan, Sie würden niemals an Ihrem Herzen zweifeln. Jetzt ist ihr die Angst um unsere Zukunft übermächtig geworden. Seien Sie aber überzeugt, wenn Laura ihrer Phantasie nachgeben und sich von dem elterlichen Hause lösen dürfte, das nächste Gefühl würde ihr nagende Reue und Sehnsucht nach den Eltern sein. Auch deshalb handelt der Mann, welchem sie jetzt ein Opfer bringen will, nicht nur ehrlich, sondern auch klug, wenn er sich dagegen auflehnt.«

Herr Hummel sah grimmig auf den Doktor. »Da steht der alte Petz an einen Pfahl gebunden, die jungen Hündlein zausen ihm das Fell und die Hähne krähen über seinem Haupt. Lassen Sie sich warnen durch mein Schicksal. Vermeiden Sie unter allen Umständen weibliche Nachkommenschaft.« Er schlug mit der Faust auf die Handschuhe, packte sie wieder ein, strich das Papier glatt und verschloß das Päckchen in seinem Schreibtisch. »So sperre ich mein Rabenkind wieder ein; im übrigen bleibe ich Ihr ergebener Diener. Also Ihre alten Inder sagen Ihnen, daß ich ein drolliger Kauz bin und für fremde Leute ein lustiger Lebemann. Ist das Ihre Meinung von meinen natürlichen Gaben?«

»Nun,« entgegnete der Doktor mit einer Verbeugung, »ganz so harmlos sind Sie nicht. Gegen mich waren Sie immer ausgezeichnet grob.«

»Ich zanke mich mit niemand lieber als mit Ihnen,« warf Herr Hammel anerkennend dazwischen.

Der Doktor verneigte sich wieder. »Wenn Sie mit andern Menschen spielen wie mit Kätzchen, so lassen sich die andern solche Behandlung nur darum gefallen, weil sie im Grunde hinter Ihrem unwirschen Wesen die gute Meinung merken. Ich gerade kann Ihnen das sagen, weil ich zu den wenigen Menschen gehöre, denen Sie wirkliche Abneigung gönnen. Und da Sie nebenbei hartnäckig sind, so weiß ich sehr wohl, daß ich noch manchen Strauß mit Ihnen ausfechten muß, und ich bin gar nicht sicher, wie es zuletzt noch zwischen uns werden soll. Das hindert mich übrigens nicht, die verbissene Liebenswürdigkeit Ihrer Natur anzuerkennen.«

»Ich verbitte mir jede weitere Beleuchtung meiner Innerlichkeit,« rief Herr Hummel. »Ich erhebe Widerspruch dagegen, daß Sie mich wie einen Floh im Schattenspiel an die Wand malen. Sie haben eine nichtswürdige Weise, Ihre Mitmenschen mikroskopisch zu behandeln. Was Ihre Tätigkeit als Liebhaber meiner Tochter betrifft, so bin ich damit zufrieden. Sie wollen mein Kind nicht in der Art haben, wie sie zu haben ist? Ich danke Ihnen für Ihre Bedenken. Wir sind darin ganz einer Meinung, und Sie sollen sie jetzt gar nicht haben.« Der Doktor wollte ihn unterbrechen, Hummel winkte mit der Hand: »Jede weitere Rede ist unnütz, Sie verzichten auf die Tochter, aber Sie haben die Achtung des Vaters gerettet und Sie haben außerdem das Gefühl, zu Lauras Bestem zu handeln. Da Sie ein so großer Biedermann sind, werden Sie sich damit beruhigen. Sie wollen sich dem Zölibat ergeben, ich würde Sie beneiden, wenn mich nicht die Rücksicht auf Madame Hummel daran hinderte.«

»Das hilft Ihnen nichts, Herr Hummel,« versetzte der Doktor, »ich bin durchaus nicht gesonnen, auf Lauras Hand zu verzichten.«

»Ich verstehe,« erwiderte Herr Hummel, »Sie wollen fortfahren, mein Kind über die Straße anzuschwärmen. Dies stille Vergnügen kann ich Ihnen leider nicht mehr lange gestatten, denn ich bin allerdings der Meinung, daß Laura auf einige Zeit aus meinem Hause gehen soll. Und da Sie sich statt der Tochter die Hochachtung des Vaters erwählt haben, so wollen wir diesen Punkt in gutem Einvernehmen besprechen. Denn in einem irren Sie, wenn Sie meinen, daß meine Tochter Laura ihre Phantasien auf gutes Zureden unterdrückt. Haben Sie nicht auch mir zuweilen ins Gewissen geredet? Es war wirklich für Ihre Jahre alles mögliche und es hat Ihnen bei mir gar nichts genützt. Gerade so ist's mit diesem hartnäckigen Kinde. Deswegen bin ich als Vater der Meinung, daß wir wenigstens in etwas dem Unsinn meines Wurms nachgeben. Überlegen Sie, wieweit Sie uns gefällig sein können. Sie will zu der Professorin. Nach dieser Residenz, wo mein Mieter kein Hauswesen hat, soll sie nicht, aber nach Bielstein ist sie mehrmals eingeladen.«

Der Doktor antwortete: »Ich habe dringende Veranlassung, in den nächsten Tagen meinen Freund aufzusuchen, gern werde ich den Umweg über Bielstein wählen, wenn Sie mir gestatten, für diese Fahrt Lauras Reisebegleiter zu sein. Ein Geheimnis aus der Reise mache ich nicht, am wenigsten meinen Eltern.«

»Diese Entführung ist so ruppig,« unterbrach Hummel, »daß ich als Mädchen mich schämen würde, dabei mitzuspielen. Aber man darf von Ihnen nicht viel verlangen. Ich will nicht zu Hause sein, wenn diese Abfahrt vor sich geht, das werden Sie natürlich finden. Über die nächste Zukunst meines Kindes habe ich bereits meinen Plan gemacht. Für die Reise übergebe ich Ihnen mein Kind mit Vertrauen.«

»Herr Hummel,« rief der Doktor unruhig, »ich erbitte größeres Vertrauen. Wie haben Sie über Lauras nächste Zukunft bestimmt?«

»Da Sie sich entschlossen haben, mich hochzuachten, so ersuche ich Sie, mit der vertraulichen Andeutung zufrieden zu sein, daß ich gar nicht gesonnen bin, Ihnen darüber eine Mitteilung zu machen. Sie behalten meine Wertschätzung und ich behalte meine Tochter. Unser Vertrag ist geschlossen.«

»Der Vertrag ist mir aber durchaus nicht recht, Herr Hummel,« warf der Doktor ein.

»Schweigen Sie. Wenn Sie infolge dieses Vergleiches Ihre Theaterlaufbahn wieder aufnehmen, so gebe ich Ihnen nur den Rat, spielen Sie niemals Liebhaberrollen: die Zuschauer laufen Ihnen zu allen Türen hinaus. Also ich behandle die Leute wie Kätzchen? Dann wird also auch Ihr Vater, der behandelte Kater von heut früh wissen, daß ich nur mit ihm gespielt habe. Sie können ihm darüber eine Andeutung machen. Meine Frau hat heut zum Geburtstag einige Hähne gerupft; sollte dieser Braten Ihnen nicht peinliche Gefühle erregen, so wird mich freuen, Sie zu Mittag bei mir zu sehen. Sie werden nicht in die Verlegenheit kommen, mit meiner Tochter allein zu sprechen, denn der Hausmime ist eingeladen, er besorgt die Unterhaltung, Sie können stillsitzen. Guten Morgen, Herr Doktor.«

Wieder streckte ihm der Doktor die Hand entgegen, Herr Hummel schüttelte sie eine Weile und brummte dazu. Als er wieder allein in seinem Kontor saß, klang aufs neue die Melodie des alten Dessauers in dem engen Raume, und jetzt frisch und herzhaft. Nicht lange, und die zweite der beiden Arien, über deren Töne Herr Hummel unbeschränkt verfügte, brach aus seinem Innern, er ließ auch das liebe Veilchen blühen. Endlich mischte er gar die Trommelschläge des Dessauers und das Veilchen zu einem künstlerischen Mus. Der Buchhalter, welcher wußte, daß dieses Potpourri einen Zustand höchster Frühlingswärme bezeichnete, steckte ehrerbietig lächelnd seinen Kopf in das Kontor.

»Sie mögen heut auch zu Tisch kommen,« befahl Herr Hummel gnädig.


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