Gustav Freytag
Die verlorene Handschrift
Gustav Freytag

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Drittes Kapitel

Vielliebchen

Ilse stellte eines Abends die letzten Süßigkeiten der Weihnachtszeit auf den Tisch. Laura klapperte mit einer Knackmandel und fragte den Doktor ernsthaft, woher der ehrwürdige Gebrauch der Vielliebchen komme. Der Doktor bestritt das Ehrwürdige, wußte aber im Augenblick den Ursprung des Spiels nicht anzugeben und war über diese Unsicherheit sichtlich betroffen. Er vergaß deshalb seine Pflicht, zum gemeinsamen Genuß der Doppelmandel aufzufordern. Laura öffnete die Schale und legte nachlässig zwei Mandeln zwischen ihn und sich. »Da sind sie.«

»Soll's gelten?« rief der Doktor erheitert.

»Meinetwegen,« erwiderte Laura, »mit Geben und Nehmen, wie recht ist. Aber es darf nur Scherz sein,« fügte sie, des Vaters gedenkend hinzu, »und kein Geschenk.« Beide aßen mit dem rühmlichsten Entschluß, das Spiel zu verlieren. Die Folge war, daß das Geschäft nicht vorwärts gehen wollte. Laura überreichte dem Doktor in den nächsten Wochen Bücher, Teetassen, Teller mit aufgeschnittenem Braten, er war wie ein Stock, niemals sagte er: »Ich denke dran.« Hatte er den Vertrag vergessen, oder war's gewöhnliche Ritterlichkeit? Laura aber durfte ihm seine Vergeßlichkeit gar nicht zu Gemüt führen, sonst gewann sie das Vielliebchen. Sie wurde wieder einmal zornig auf ihn. »Mir reicht der gelehrte Herr gar nichts,« sagte sie zu Ilse, »er behandelt mich, als wäre ich eine Nessel.«

»Das ist Zufall,« versetzte Ilse, »er hat's längst vergessen.«

»Natürlich,« rief Laura, »für einen hübschen Scherz mit einer unbedeutenden Person hat er kein Gedächtnis.«

»Mach' ein Ende,« mahnte Ilse, »erinnere du ihn daran.«

Es fügte sich, daß der Doktor einmal nicht vermeiden konnte, ihr eine Schere aufzuheben und in die Hand zu reichen. »Ich denke dran,« sagte Laura schnippisch, »besser als Sie.«

Darauf bot sie dem Doktor die Zuckerbüchse, der Doktor holte sich ehrbar ein Stück Zucker heraus und schwieg. »Guten Morgen, Vielliebchen,« rief sie verächtlich. Der Doktor lachte und erklärte sich für überwunden. »Es ist gar nicht schön,« fuhr Laura eifrig fort, »daß Sie sich so wenig um Ihr Vielliebchen bekümmert haben, ich werde nie wieder eines mit Ihnen essen; gegen Herren, die so zerstreut sind, ist es keine Ehre zu gewinnen.«

Kurz darauf überreichte ihr der Doktor ein winziges gedrucktes Büchel in zierlichem Einband. Auf dem ersten Blatte stand: »Für Fräulein Laura,« und auf dem zweiten: »Die Entstehung der Vielliebchen, ein Märchen.« Es war die Geschichte der schönen Königstochter, welche sehr gern Knackmandeln aß, aber nicht heiraten wollte. Deshalb erfand sie folgendes. Sie ließ jedem Prinzen, der um ihre Hand warb – und es waren unzählige – die Hälfte einer Doppelmandel darbieten und sie speiste den andern Zwilling. »Und wenn Ew. Liebden mich von jetzt ab zwingen können, daß ich etwas aus Dero Hand nehme, ohne die Worte zu sprechen: ich denke dran, so bin ich zu jeder Vermählung bereit; wenn ich aber Ew. Liebden verleiten kann, etwas aus meiner Hand zu nehmen, ohne daß Ihnen die klugen Worte einfallen, so werden Dieselben an Dero fürstlichem Haupte unbedingt kahl geschoren und verlassen sofort meine Länder.« Es war aber eine Tücke bei diesem Vertrage. Nämlich der schönen Prinzessin durfte nach Hofsitte überhaupt niemand etwas in die Hand reichen, bei Todesstrafe, sondern er reichte es der Staatsdame und diese reichte es der Königstochter. Wenn aber die Königstochter selbst etwas wegnehmen oder überreichen wollte, wer konnte ihr das wehren? Es war also für die Freiwerber ein bitteres Vergnügen. Denn wie sie sich auch mühten, die Prinzessin zu verleiten, daß sie ohne Angebot etwas aus ihrer Hand nahm, immer fuhr die Staatsdame dazwischen und verdarb die besten Pläne. Wenn aber die Königstochter einen Freier abschaffen wollte, tat sie einen Tag holdselig gegen ihn, bis er ganz bezaubert war, und sobald er neben ihr saß und bereits vor Freude taumelte, dann ergriff sie wie von ungefähr etwas in ihrer Nähe, einen Granatapfel oder ein Ei, und sagte leise: »Behalten Sie dies zu meinem Angedenken.« Sobald nun der Prinz das Stück in die Hand nahm und vielleicht noch der rettenden Worte ein wenig gedachte, sprang das Ding auseinander und ein Frosch, eine Hornisse oder Fledermaus fuhr gegen seine Locken, daß er zurückschreckte und im Schreck die Worte vergaß. Und dann auf der Stelle geschoren und fort mit ihm.

Das war durch Jahre gegangen, und in allen Königshäusern trugen die Prinzen Perücken – auch diese sind seitdem bräuchlich geworden –, da traf sich's, daß ein fremder Königssohn zugereist kam in eigenen Geschäften und aus Zufall die Mandelkönigin sah. Er fand sie schön, und er merkte die Tücke. Aber ihm hatte ein befreundetes graues Männchen einen Apfel geschenkt, an den durfte er alle Jahre einmal riechen, dann kam ihm ein kluger Einfall. Und er war wegen der klugen Einfälle schon unter allen Königen sehr berühmt geworden. Jetzt war gerade die Zeit des Apfels gekommen, er roch und da fiel ihm ein: wenn du das Spiel mit Nehmen und Geben gewinnen willst, darfst du ihr niemals und unter keinen Umständen etwas geben oder nehmen. Er ließ sich also die Hände fest in den Gürtel binden, ging mit seinem Marschall zu Hofe und sagte, er wollte auch gern seine Mandel essen. Der Prinzessin gefiel er sehr und sie ließ ihm die Mandel reichen. Da fragte die Königstochter, was denn das vorstelle, und überhaupt, warum er die Hände immer im Gürtel trage. Und er antwortete, bei seinem Hofe sei der Brauch noch viel strenger als bei ihrem, er dürfe mit seinen Händen gar nichts nehmen und geben, höchstens mit den Füßen oder dem Kopfe. Da lachte die Prinzessin und sagte: »Auf diese Weise können wir ja niemals in unserm Spiel zusammenkommen.« Er zuckte die Achseln und antwortete: »Nur wenn Sie geruhen wollten, etwas von meinen Stiefeln zu nehmen.« »Das kann nie geschehen,« rief der ganze Hofstaat. »Wozu sind Sie hergekommen,« fragte die Prinzessin ärgerlich, »wenn Sie so dumme Gewohnheiten haben?« »Weil Sie sehr schön sind,« sagte der Prinz, »wenn ich Sie auch nicht gewinnen kann, ich will Sie doch ansehen.« »Dagegen kann ich nichts haben,« versetzte die Königstochter. Der Prinz blieb also am Hofe und gefiel ihr immer besser. Weil sie aber auch ihre Bosheit hatte, suchte sie ihn auf alle Art zu verführen, daß er die Hand aus dem Gürtel zog und doch etwas von ihr nahm. Sie unterhielt sich immer mit ihm und schenkte ihm Blumen, Bonbons und Riechfläschchen, und zuletzt gar ihr Armband, auch zuckte es ihm mehrmals in den Händen, aber da fühlte er die Bande und kam zur Besinnung, nickte dem Marschall und der sammelte ein und sagte: »Wir denken schon dran.« Dabei wurde endlich die Prinzessin ungeduldig und sie begann: »Mir ist mein Taschentuch heruntergefallen, Ew. Liebden könnten mir es aufheben.« Der Prinz faßte das Tuch mit der Fußspitze und schwenkte es gleichgültig, und die Prinzessin beugte sich nieder, nahm das Tuch von seinem Fuße und rief zornig: »Ich denke dran.« Darüber war ein Jahr vergangen und die Königstochter sagte zu sich selbst: So kann das nicht bleiben, hier muß Schicht gemacht werden, so oder so. Sie begann also zum Prinzen: »Ich habe den besten Garten der Welt, den will ich morgen Euer Liebden zeigen.« Aber der Prinz roch wieder an seinem Apfel. Und als sie in den Garten kamen, fing der Prinz an: »Hier ist's wunderschön. Damit wir aber in rechtem Frieden nebeneinander gehen und durchaus nicht durch unser Spiel gestört werden, bitte ich meine Herrin, daß dieselbe nur auf eine Stunde meine Hofsitte annehme und sich auch die Hände festbinden lasse. Dann sind wir eines des andern sicher und uns kann nichts Ärgerliches begegnen.« Der Prinzessin war dies nicht recht, aber er bat und sie wollte ihm doch die Kleinigkeit nicht abschlagen. So gingen sie allein miteinander, die Hände im Gürtel gebunden. Die Vögel sangen, die Sonne schien warm und vom Baum hingen die roten Kirschen bis auf die Wangen herunter. Die Prinzessin sah auf die Kirschen und rief: »Wie schade, daß Ew. Liebden mir keine davon pflücken können!« Der Prinz antwortete: »Not kennt kein Gebot,« er nahm eine Kirsche mit dem Munde und bot sie der Königstochter. Der Prinzessin blieb nichts übrig, sie mußte ihren Mund an den seinigen bringen, um die Kirsche zu fassen, und da sie die Frucht zwischen den Lippen hatte und seinen Kuß dazu, vermochte sie nicht im Augenblick zu sprechen: »Ich denke dran.« Da rief er laut: »Guten Morgen, Vielliebchen!« zog die Hände aus dem Gürtel und fiel ihr um den Hals. Und wenn sie nicht gestorben sind usw. Diese Geschichte hatte der Doktor lustig ausgeführt und eigens für Laura drucken lassen, so daß niemand dies Büchel haben konnte, als sie allein.

Laura trug das Märchen in ihr Geheimzimmer, sah mit Stolz auf ihren gedruckten Namen und las immer wieder die kleine dumme Geschichte. Und sie ging nachdenkend auf und ab. Wenn sie sich so den ganzen Fritz Hahn überlegte, konnte sie doch kein recht gutes Gewissen haben. Von klein auf hatte er sie zu Dank verpflichtet, er war stets lieb und gut gegen sie gewesen, und sie, und ach noch mehr der Vater, hatten ihm immer wieder weh getan. Reuevoll überdachte sie die Vergangenheit bis zu den Katzenpfoten, was ihr schon bei dem Vielliebchen in der Seele gelegen hatte, das wurde ihr jetzt deutlich, sie konnte nicht unbefangen sein, wie sie doch sollte, und nicht gleichgültig, wie ihr ganz recht gewesen wäre, weil sie immer von ihm in den eisernen Banden einer Verpflichtung lag. »Ich muß mit ihm aufs reine kommen!« Ach, aber zwischen ihm und ihr stand als trennende Mauer das Verbot des Vaters. Sie überlegte, wie sie, ohne jenem Befehl entgegenzuhandeln, doch dem Doktor etwas Angenehmes erweisen könne. Ähnliches hatte sie schon einmal mit der Orange gewagt; wenn drüben niemand wußte, daß der Scherz von ihr kam, dann war keine Gefahr, es entstand kein zartes Verhältnis und keine Freundschaft, die der Vater doch nur vermeiden wollte. Sie eilte zu Ilse hinunter. »Die Verpflichtungen gegen den Doktor drücken mich mehr, als ich sagen kann, es ist unerträglich, immer in seiner Schuld zu sein. Jetzt habe ich etwas ausgedacht, was dies Verhältnis zum Ende bringt.«

»Nimm dich nur in acht,« sagte Ilse, »daß die Sache auch gründlich abgemacht wird.«

Darauf schlüpfte Laura in das Arbeitszimmer des Professors und bat: »Helfen Sie mir zu einem Scherz gegen den Mann von drüben, er sammelt ja allerlei alte Sachen, ich möchte etwas Seltenes für ihn erwerben, das ihm lieb wäre. Aber keine Seele darf wissen, daß ich dabei im Spiele bin, und er am wenigsten.«

Der Professor versprach, auf etwas zu denken.

Einige Zeit darauf legte er in Lauras Hände einen kleinen zerrissenen Band, der jämmerlich herabgekommen aussah. »Es sind Einzeldrucke alter Volkslieder,« sagte er, »die irgend einmal zusammengebunden sind, ich stieß durch einen glücklichen Zufall darauf. Das Büchlein ist teuer, für den Liebhaber ist sein Wert unverhältnismäßig größer als der Preis. Nehmen Sie keinen Anstoß an dem schlechten Kleide, Fritz wird doch die einzelnen Lieder voneinander lösen und in seine Sammlung ordnen. Ich bin überzeugt. Sie können ihm kein lieberes Geschenk machen.«

»Er soll es erhalten,« sagte Laura vergnügt, »aber soll gequält werden.«

Es ist eine schöne Sammlung, sehr seltene Stücke darunter, ein ganz unbekannter Druck des Liedes vom Ritter Tannhäuser, das Lied vom Räuber Stürzebecher und andere erfreuliche Blätter. Laura trug das Buch herauf und schnitt die gebundenen Bogen sorgfältig von dem Bindfaden, der sie locker zusammenhielt. Darauf setzte sie sich an den Schreibtisch und fuhr in der anonymen Briefstellerei fort, welche ihr die Tyrannei des Vaters aufgenötigt hatte, indem sie mit verstellter Hand folgendes schrieb: »Lieber Herr Doktor, ein Unbekannter sendet Ihnen dies Lied für Ihre Sammlung, er hat noch dreißig ähnliche, welche Ihnen bestimmt sind, doch unter Bedingungen. Erstens: Sie bewahren gegen jedermann, wer es auch sei, unverbrüchliches Schweigen. Zweitens: Sie senden für jedes Gedicht ein anderes, das Sie selbst gemacht haben, worüber es auch sei, unter Adresse O. W. auf die Stadtpost. Drittens: Wenn Sie bereit sind, in diesen Vertrag zu willigen, so gehen Sie an einem der drei nächsten Tage nachmittags um drei Uhr an Nr. 10 der Parkstraße vorüber, etwas Blühendes am Knopfloch. Der Absender wird sich innig freuen, wenn Sie auf diesen kleinen Scherz eingehen. Ihr ergebener N. N.« Diesem Briefe lag das Lied vom Stürzebecher bei.

Die Taschenuhr des Doktors zeigte, wie durch spätere Nachforschungen festgestellt wurde, neun Uhr fünf Minuten, als dieser Brief in sein Zimmer gebracht wurde; das Barometer war im Steigen, am Himmel leichtes Federgewölk, dazwischen die bleiche Mondsichel erkennbar. Der Doktor öffnete, ein alter Druckbogen stach gelblich vom grünen Postpapier eines Briefes ab. Er entfaltete hastig die gelben Blätter und las: »Stortebecker und Godeke Michael, de rowten alle beede.« Kein Zweifel, der niederdeutsche Text des berühmten Liedes, den die Welt bis dahin vermißt hatte, lag leibhaftig vor ihm. Ihm wurde so wohl zumute, wie dem Kinde vor der Einbescherung. Darauf las er den Brief, und als er am Ende angekommen war, las er ihn noch einmal. Er lachte. Offenbar war das ganze eine Schelmerei. Aber von wem? Seine Gedanken flogen um Laura, aber sie hatte ihn erst gestern abend durch kalte Nichtachtung verletzt. An Ilse war gar nicht zu denken, und dem Professor sah solch spielender Unfug vollends nicht ähnlich. Und was sollte das Haus Nr. 10? Die junge Schauspielerin, welche dort wohnte, galt sehr dafür, eine liebenswürdige und unternehmende Dame zu sein. War es möglich, daß sie ein Verständnis für Volkslieder hatte, und, das konnte der Doktor sich nicht verbergen, auch ein zartes Verständnis für ihn selbst? Dem ehrlichen Fritz begegnete, daß er einen Augenblick vor den Spiegel trat, aber er widersprach sogleich innerlich und zog sich lachend zu dem Schreibtische und dem Volksliede zurück. Er konnte auf den Scherz nicht eingehen, das war klar, aber es war sehr schade. Er legte den Stürzebecher beiseite und ergriff seine Arbeit. Aber nach einer Weile nahm er ihn wieder zur Hand. Dieses Prachtstück wenigstens war ihm ohne demütigende Bedingungen gesandt, vielleicht mochte er doch dies eine behalten. Er öffnete eine Mappe seiner alten Volkslieder und suchte die Stelle, wo das Gedicht eingereiht werden mußte, wenn es in der Tat sein Eigentum wurde. Er legte den Schatz in die Reihe, stellte die Mappe wieder in den Bücherschrank und dachte, es ist ja gleichgültig, wo der Bogen liegt.

In dieser Weise kämpfte der Doktor bis nach dem Mittagessen. Kurz vor drei Uhr war er zu einer ruhigen Auffassung gelangt. War es nur ein Scherz eines nahen Bekannten, so wollte er kein Spaßverderber sein; hatte die Sendung irgendeinen anderen Grund, so mußte auch das zutage kommen. Unterdes mochte er die seltenen Drucke wohl aufbewahren, aber er durfte sie nicht als sein Eigentum behandeln, bis das Recht des Absenders daran und der Zweck der Sendung deutlich war. Dies Bedenken mußte er dem Unbekannten zuerst mitteilen. Nachdem er diesen notdürftigen Vergleich zwischen seinem Gewissen und seinem Sammeltrieb zustande gebracht, holte er aus der Blumenstube des Vaters etwas Blühendes, steckte es in sein Knopfloch und trat auf die Straße. Unsicher blickte er nach den Fenstern des feindlichen Hauses, aber Laura war nirgends zu finden, denn sie lauschte hinter der Gardine und schnippte, als sie die Blumen im Knopfloch sah, mit den Fingern über den gelungenen Scherz. Der Doktor wurde verlegen, als er in die Nähe der vorgeschriebenen Hausnummer kam. Die Lage war doch demütigend und ihn reute seine Begehrlichkeit. Er sah in die Fenster des Unterstocks, und sieh! die junge Schauspielerin stand gerade an den Scheiben. Er blickte auf ein gescheites Gesicht mit einnehmenden Zügen, zog verbindlichst seinen Hut, nicht ohne schwaches Erröten; und das Fräulein dankte artig dem wohlbekannten Sohn des Nachbarhauses. Der Doktor ging noch ein wenig auf der Promenade umher, ihm erschien dies Abenteuer unheimlich. Es war doch nicht zufällig, daß die Künstlerin am Fenster stand und grüßte. Er wurde mit seinen Quergedanken nicht fertig, nur eines war ihm ganz klar geworden, er behielt vorläufig den Stürzebecher.

Da seine Gewissensbisse nicht aufhörten, so rang er zwei Tage mit sich selbst, ob er sich auf weiteren Briefwechsel einlassen dürfe. Am dritten waren die letzten Bedenken zum Schweigen gebracht. Dreißig Volkslieder, sehr alte Drucke, die Versuchung war übermächtig! Er holte seine eigenen Verse heraus, Ergüsse seiner lyrischen Periode, musterte und verwarf; endlich fand er eine unschuldige Romanze, welche ihn in keiner Weise bloßstellte; sie wurde abgeschrieben und von einigen Zeilen begleitet, worin auch er seine Bedingung aussprach, daß er sich nur als Bewahrer der Lieder betrachten könne.

Einige Tage darauf erhielt er die zweite Sendung, es war ein wertes Mönchslied, worin die gebratene Martinsgans gefeiert wurde, dabei lag ein Zettel, welcher die ermunternden Worte enthielt: »Nicht übel, fahren Sie fort.«

Und wieder erhob sich Lauras Gestalt vor seinen Augen und er lachte die Martinsgans recht herzlich an. Das war auch ein alter Druck, der noch nirgend verzeichnet war! Er zog also diesmal eine Ode auf den Frühling aus seinen Poesien und gab diese mit den befohlenen Buchstaben O. W. zur Post.

Der Professor wunderte sich, daß der Doktor über das Liederbuch schwieg, und äußerte dies gegen Ilse, welche ein wenig im Geheimnis war. »Er darf nicht sprechen,« sagte diese, »sie behandelt ihn schlecht. Da er es ist, hat der Scherz für das kecke Mädchen keine Gefahr.«

Laura aber war selig über dies Schachspiel mit verdeckten Zügen. Sie hob die Gedichte des Doktors sorgfältig in ihrem Geheimbuch auf und sie fand, daß die Poesie der Hahns gar nicht so schlecht war, ja sie war ausgezeichnet. Aber fast noch lockender als der Schriftwechsel wurde ihrem Übermut der Gedanke, dem Doktor ein kleines artiges Verhältnis zu der Schauspielerin aufzuzwingen. Als sie wieder mit ihm bei Ilse zusammentraf und einer der Anwesenden das Talent der jungen Dame rühmte, erzählte sie unbefangen und gar nicht zum Doktor gewandt, was die Straße von bizarren Einfällen der Schauspielerin wußte, daß sie einst ihr Hündchen mit einer Nachthaube ans Fenster gesetzt, als ihr ein widerwärtiger Verehrer ein Ständchen angekündigt hatte, und daß sie eine Vorliebe für bettelnde Handwerksburschen habe und sich mit ihnen meisterhaft in der Mundart ihrer Landschaft zu unterhalten wisse.

Der arglose Doktor wurde nachdenklich. Sollte in der Tat die Schauspielerin mit ihm in brieflichem Verkehr stehen, ohne daß er es wußte? Und Fritz begann der Dame eine gewisse ruhige Beachtung zu gönnen.

Als Laura einst auf dem abonnierten Platz ihrer Mutter saß und einer Rolle der Künstlerin zusah, erkannte sie in der Loge gegenüber Fritz Hahn, sie beobachtete, daß er durch sein Opernglas angestrengt auf die Bühne starrte und einigemal lebhaften Beifall zu erkennen gab. – Nun, der war glücklich auf falsche Fährte gebracht.

Indes er mußte doch auch erfahren, daß der unbekannte Briefsender mehr verstand, als Adressen zu schreiben. Laura durchsuchte die Lieder, dachte lange nach über den Text des alten Gedichtes vom Ritter Tannhäuser, der bei Frau Venus im Berge verweilt, und sandte das Lied mit folgenden Zeilen:

»Während ich das Gedicht durchlese, überkommt mich Rührung und Schreck vor dem Sinn dieser alten Poesie. Was wird nach der Meinung des Dichters aus der Seele des armen Tannhäuser? Er hat sich von Frau Venus losgerissen und kehrt reuig zum Christenglauben zurück, und als ihm der harte Papst sagt: ›So wenig der Stock, den ich in der Hand halte, grün werden kann, so wenig kannst du noch selig werden,‹ da wankt er aus trotziger Verzweiflung zur Venus in den Berg zurück. Darauf erst ergrünt der Stab in der Hand des Papstes und vergebens sendet dieser seine Boten, den Ritter zurückzuholen. Wie versteht der Sänger den Rückfall des Tannhäuser? Wird die ewige Liebe und Barmherzigkeit dem Armen auch jetzt noch verzeihen, obgleich er sich der Teufelin zum zweitenmal ergibt? Ist also dieser alte Dichter so frei und groß gesinnt, daß er auch noch die Rückkehr zur Heidenfrau für verzeihlich hält? Oder ist Tannhäuser jetzt in seinen Augen für ewig verloren und soll der grünende Stab nur anzeigen, daß der Papst die Schuld trägt? Es würde mich freuen, darüber von Ihnen Aufklärung zu erhalten. Das Gedicht finde ich sehr schön und ergreifend, und in den einfachen Worten, wenn man sich erst hineingelesen hat, gewaltige Poesie. Aber ich habe Angst um das Schicksal des Tannhäuser. Ihr N. N.«

Der Doktor antwortete sogleich: »Es ist zuweilen schwer, aus der tiefen Empfindung und dem knappen Ausdruck alter Gedichte die Grundidee des Dichters zu verstehen. Am schwersten von einem Gedichte, welches, durch Jahrhunderte vom Volksmunde fortgetragen, zuverlässig in Wortlaut und Inhalt Änderungen erfahren hat. Das erste Motiv des Liedes, daß Sterbliche bei den alten Heidengöttern im Innern der Berge weilen, beruht auf einer Anschauung, die noch aus der Heidenzeit stammt. Die Idee, daß der Christengott milder ist als sein Stellvertreter auf Erden, wurde seit der Hohenstaufenzeit in Deutschland heimisch. Man darf den Ursprung des Gedichtes wohl auf diese Zeit zurückführen. In den uns überlieferten Formen mag es etwa aus der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts stammen, wo die Unzufriedenheit mit der Hierarchie in Deutschland bei hoch und niedrig allgemein war. Der hohe Gedanke dieser Auflehnung gegen die Macht der Geistlichen war: nicht der Priester kann die Sünden vergeben, nur Reue, Buße, Erhebung des eigenen Herzens. Der Druck, welchen Ihre Güte mir übersandt hat, stammt aus der ersten Zeit Luthers, aber wir wissen, daß das Lied älter ist, und wir besitzen verschiedene Texte, von denen einige noch stärker hervorheben, daß Tannhäuser auch nach seinem Rückfall der göttlichen Gnade vertrauen dürfe. Zuverlässig hielt der Sänger des übersandten Textes den armen Tannhäuser für verloren, wenn dieser sich nicht wieder von Frau Venus freimachte. In diesem Fall nicht. Der Volkssage nach ist Tannhäuser bei ihr geblieben. Aber den großen Gedanken, der auch unser Leben adelt, daß der Mensch, solange Geist und Gemüt ihm nicht ausgebrannt sind, in sich selbst die Kraft zur Erhebung über begangenes Unrecht trage, dürfen wir auch in diesem Gedicht erkennen, dessen poetischen Wert ich würdige wie Sie.«

Als Laura diese Antwort erhielt – Gabriel war auch hier der vertraute Bote – sprang sie vor Freude von ihrem Arbeitstisch hoch auf. Sie hatte mit Ilse die Leiden Tannhäusers beklagt und der Freundin eine Abschrift des Gedichtes gegeben, jetzt lief sie mit den Zeilen des Doktors hinunter, stolz, daß sie durch den kindischen Scherz, über welchen Ilse den Kopf geschüttelt hatte, zu einer geheimen wissenschaftlichen Erörterung gekommen war. Von diesem Tage an erhielt der geheime Briefwechsel für Laura und Fritz eine Bedeutung, an welche keines von beiden im Anfang gedacht hatte. Denn Laura wagte jetzt, wenn sie über etwas nicht mit sich aufs reine kommen konnte, oder wenn ein stilles Interesse sie beschäftigte, ihre Gedanken, die bis dahin im Schreibtisch verschlossen wurden, dem Nachbar mitzuteilen, und der Doktor sah mit Erstaunen und Freude ein weibliches Gemüt von kräftigem und eigenartigem Empfinden, das bei ihm Klarheit suchte und mit ungewöhnlichem Vertrauen sich aufschloß. Diese Stimmung war auch aus seinen Gedichten zu erkennen, sie waren nicht mehr aus der Mappe herausgeholt, sondern erhielten einen gewissermaßen persönlichen Charakter. Und Laura wurden die Augen feucht, als sie ein Blatt in der Hand hielt, welches in Versen seine Spannung und Ungeduld aussprach, den unbekannten Briefsteller kennenzulernen. Es war so reine Empfindung in den Zeilen, und man sah daraus so deutlich den guten und feinen Mann, daß man ein recht herzliches Vertrauen zu ihm haben mußte. Die alten Volkslieder, zuerst die Hauptsache, wurden allmählich nur die Begleiter des stillen Briefwechsels, und Lauras begeisterte Seele schwebte beflügelt über goldumsäumte Wolken, während unten Herr Hummel grollte und Herr Hahn mißtrauisch neue Angriffe des Feindes erwartete.

Aber dies poetische Verhältnis zum Nachbarsohn, welches Lauras Unternehmungsgeist geschaffen hatte, litt an derselben Gefahr, welche allen poetischen Stimmungen droht, die rauhe Wirklichkeit konnte es jeden Augenblick zerstören. Niemals durfte der Doktor wissen, daß sie es war, die Tochter der Feinde, sein alltäglicher Anblick, das kindische Mädchen, das in Ilses Zimmer mit ihm um Butterbrote und Knackmandeln zankte. Wenn sie mit ihm Auge gegen Auge zusammentraf, war er ihr der Doktor mit der Brille von sonst und sie die kleine borstige Hummel, welche mehr von der Unart ihres Vaters hatte als Gabriel zugeben wollte. Das Schmollen und die Neckerei des Tages lief zwischen beiden fort wie früher. Dennoch war unvermeidlich, daß zuweilen aus Lauras Augen ein Strahl warmer Empfindung brach, und daß sich der freundliche Humor, mit dem sie den Doktor im Innern betrachtete, einmal durch flüchtige Worte verriet. Fritz wandelte deshalb in einer Unsicherheit dahin, über die er im stillen lachte, und die ihn doch quälte. Immer sah er Laura vor sich, wenn er einige Zeilen der gut verstellten Hand auf seinem Zimmer las, doch sobald er die Nachbarin beim Freund traf, sorgte sie durch eine spöttische Bemerkung und durch spröde Zurückhaltung dafür, daß er wieder unsicher wurde. Sie zwang die Not zu solcher Koketterie, er aber wurde immer aufs neue kühl davon angeweht, und dann fiel ihm aufs Herz: sie ist es doch nicht, kann es denn die Schauspielerin sein?

Am Teetisch entstand allgemeines Erstaunen, als der Doktor einst fallen ließ, er sei zu einem Maskenball eingeladen und nicht abgeneigt, sich in das Getümmel zu stürzen. Der Ball wurde von einer großen Ressource ansehnlicher Bürger gegeben, zu welcher auch Herr Hummel gehörte, die Gesellschaft war dafür bekannt, daß die ersten Schauspieler der Stadtbühne sich dort als willkommene Gäste im Kreise ihrer Verehrer bewegten. Da der Doktor sonst nie für diese Art geselliger Unterhaltung ein Herz bewiesen hatte, sah auch der Professor verwundert auf den Freund, nur Laura ahnte den Zusammenhang, aber alle ließen sich schweigend die Ankündigung eines bevorstehenden Exzesses gefallen.

Herr Hummel war nicht der Ansicht, daß ein Maskenball die Stätte sei, wo die Tüchtigkeit des deutschen Bürgers Triumphe feiert, er hatte widerwillig den schmeichelnden Bitten seiner Frauen nachgegeben und stand jetzt unter den Masken im Saale. Den kleinen schwarzen Domino hatte er wie ein Priestermäntelchen nachlässig auf den Rücken geschoben, den Hut in die Augen gedrückt, sein breites Gesicht überragte auf allen Seiten den Florbart der Seidenlarve und war so unverkennbar wie ein Vollmond hinter dünnem Gewölke. Spöttisch sah er in das Gedränge der Masken, welche beieinander vorbeistrichen, etwas weniger behaglich und etwas schweigsamer, als sie ohne Larve und bunten Rock gewesen wären. Und vor andern zuwider waren ihm die eingestreuten Harlekine, welche beim Beginn des Festes eine Ausgelassenheit heuchelten, die ihnen nicht natürlich war. Herr Hummel hatte gute Augen, nur ging es ihm wie andern auch: wenn jemand maskiert war, vermochte er ihn nicht zu erkennen. Aber alle Welt erkannte ihn. Hinten zupfte etwas. »Was macht denn Ihr Hund Speihahn?« frug mit einer Verbeugung ein Herr in Rokoko. Hummel verneigte sich wieder. »Danke für gütige Nachfrage, ich hätte ihn mitgebracht, Sie in Ihre Waden zu beißen, wenn Sie mit diesem Artikel versehen wären.« – »Kann diese Hummel auch stechen?« frug ein grüner Domino im Falsett. »Ersparen Sie sich Ihre Bemerkungen, Fistulant,« entgegnete Herr Hummel grollend, »Ihre Stimme ist ja ins Weibliche umgeschlagen, sollte Ihnen etwas fehlen, so bedaure ich aufrichtig Ihre Familie.« Er steuerte weiter. »Kaufst du eine Partie Hasenhaare, Bruder Hummel?« frug ein wandernder Tabulettkrämer. »Ich danke, Bruder,« versetzte Hummel grimmig, »du kannst mir aber die Eselshaare ablassen, welche dir deine Frau beim letzten Zanke ausgerissen hat.«

»Das ist der grobe Filz,« rief naseweis ein kleiner Pierrot und schlug Herrn Hummel mit der Pritsche über den Bauch. Das war Herrn Hummel zu viel, er faßte den Pierrot beim Kragen, nahm ihm die Pritsche weg und hielt den Widersetzlichen an sein Knie. »Warte, mein Söhnchen,« rief er, »dir wäre jetzt gut, den Filz anderswo zu tragen als auf dem Kopfe.« Aber ein beleibter Türke fiel ihm in den Arm. »Herr, wie können Sie sich unterstehen, meinen Sohn anzufallen?« »Ist dieses Besteck Ihre Arbeit,« frug Herr Hummel zornig, »schämen Sie sich. Ihre löschpapierne Physiognomie ist mir nicht bekannt. Wenn Sie sich als Türke der Anfertigung von ungezogenen Hanswürsten widmen, so müssen Sie sich auch türkischen Bambus auf dem Rücken Ihrer Produkte gefallen lassen, das ist Völkerrecht. Sollten Sie dieses nicht verstehen, so melden Sie sich morgen auf meinem Kontor, ich werde Sie darüber ins klare setzen und Ihnen eine Rechnung überreichen wegen des Uhrglases, das mir das Subjekt aus Ihrem Harem in der Tasche zerbrochen hat.« Und damit warf er den Pierrot dem Türken in die Arme, die Pritsche auf die Erde und schritt schwerfällig durch die Masken, welche ihn umringten. »Keine menschliche Seele,« grollte er vor sich hin, »man ist wie Robinson unter den Wilden.« Er bewegte sich in den Tanzsaal, unbekümmert um die weißen Schultern und blitzenden Augen, welche neben ihm auftauchten und wieder verschwanden. Endlich erblickte er zwei graue Fledermäuse, die er persönlich zu kennen glaubte, denn es schienen ihm die Masken seiner Frau und Tochter. Er ging auf sie zu, sie aber wichen ihm scheu aus und verloren sich im Gedränge. Es waren allerdings die Frauen seines Hauses, aber sie hatten Absicht, unerkannt zu bleiben, und sie wußten, daß das neben Herrn Hummel unmöglich sei. So wandte sich der verlassene Hausherr kurz um, ging in ein Nebenzimmer, setzte sich einsam an einen der leeren Tische, nahm die Larve ab, bestellte sich eine Flasche Wein, frug nach dem Tageblatt und zündete eine Zigarre an. »Vergebung, Herr Hummel,« rief ein kleiner Kellner, »hier wird nicht geraucht.«

»Auch du?« versetzte Hummel trübe, »du siehst, es wird geraucht. Dies ist auch ein Maskenscherz. Denn heut wird alle Humanität und menschliche Rücksicht aus Langerweile mit Füßen getreten, und das ist's gerade, was man bal masqué nennt.«

Unterdes schlüpfte Laura unter den Masken umher, sie suchte den Doktor. Auch Fritz Hahn war für scharfe Augen leicht erkennbar, er trug über der Larve gemütlich seine Brille. Er stand als blauer Domino neben einer eleganten Dame in rotem Mantel. Laura drängte sich in die Nähe. Fritz schrieb der Dame etwas in die Hand, jedenfalls ihren Namen, denn sie nickte gleichgültig, darauf schrieb er wieder etwas in ihre Hand und wies auf sich selbst, wahrscheinlich war es sein eigener Name, denn die Dame nickte und Laura glaubte zu erkennen, wie sie unter ihrem Flor lachte. Und Laura hörte, wie der Doktor die Dame mit dem Namen der Rolle anredete, in welcher er sie neulich auf der Bühne gesehen hatte und außerdem mit du. Das war zwar Maskenrecht, aber nötig war es nicht. Der Doktor aber sprach seine Freude aus, daß die Künstlerin bei der Balkonszene so gut verstanden habe, die aufglühende Empfindung in den schwierigen Versen darzustellen. Der rote Mantel wurde aufmerksam, wandte sich ganz dem Doktor zu und begann über die Rolle zu sprechen. Die Dame redete eine Weile, und dann wieder Doktor Romeo und noch länger. Dabei trat die Schauspielerin einige Schritte zurück an einen Pfeiler, der Doktor folgte ihr dahin, und Laura sah, wie der rote Mantel einige andere Herrenmasken kurz abfertigte und sich wieder zum Doktor wandte. Endlich setzte sich die Künstlerin gar hinter den Pfeiler, wo sie wenig von fremden Blicken gesehen wurde, und der Doktor stand an den Stein gelehnt neben ihr und setzte die Unterhaltung fort. Laura schob sich zu dem Pfeiler und hörte, wie lebhaft die Unterhaltung von beiden geführt wurde. Es war von Leidenschaft die Rede. – Nun, es war noch nicht die Leidenschaft, welche beide füreinander entflammte, sondern vorläufig die der Bühne – aber auch das war mehr, als ein Freund des Doktors billigen konnte.

Laura trat rasch hervor, stellte sich neben Fritz Hahn und hob warnend den Finger in die Höhe. Der Doktor sah verwundert auf die Fledermaus und zuckte die Achseln. Da ergriff sie seine Hand und schrieb seinen Namen ein. Der Doktor machte eine Verbeugung, darauf hielt sie ihre Hand hin. Wie konnte er sie in der entstellenden Hülle erkennen? Er gab starke Zeichen seiner vollen Unwissenheit und wandte sich wieder zu der Dame im roten Mantel. Laura trat zurück und ihre Schläfen röteten sich unter der Maske. Auch im Zorn auf sich selbst! Denn sie hatte dem Unglücklichen diese Gefahr gebracht, und sie hatte darauf bestanden, den Ball heimlich vor ihm und in einer Tracht zu besuchen, welche das Erkennen so schwer machte.

Sie zog sich zu ihrer Mutter zurück, welche endlich das Glück gehabt hatte, in der Frau Pate eine Gesellschafterin zu finden und eine Ecke des Maskensaales benutzte, um Beobachtungen über die körperliche Entwicklung des getauften kleinen Fritz auszutauschen. Laura setzte sich neben die Mutter und sah teilnahmlos auf die tanzenden Masken. Plötzlich sprang sie wie von Federn geschnellt in die Höhe, denn Fritz Hahn tanzte mit der Dame im roten Mantel vorüber. War das möglich? Längst hatte er das Tanzen abgeschworen, mehr als einmal hatte er Laura wegen ihrer Freude daran verspottet, auch sie selbst hatte vor ihrem Geheimbuch Stunden gehabt, wo ihr diese einförmige kreisende Bewegung kindisch und mit einer edleren Auffassung des Lebens unerträglich erschien. Und jetzt drehte er sich wie ein Kreisel. »Was sehe ich?« rief auch ihre Mutter – »ist das nicht – und die rote ist ja gar –« »Es ist gleichgültig, mit wem er tanzt,« unterbrach Laura, um nicht die verhaßte Bestätigung zu hören.

Aber sie kannte Fritz Hahn, und sie wußte, daß dieser Walzer etwas zu bedeuten hatte. Julia gefiel ihm sehr, sonst hätte er's nicht getan, ihr selbst war diese Auszeichnung nie zuteil geworden. Der alte Komiker der Stadtbühne trat als Pantalon zu ihnen, er hatte endlich die zwei einflußreichen Damen aufgefunden, er trippelte, machte groteske Verbeugungen und fing an die Mama mit einem kleinen Geklätsch zu unterhalten. Und eine seiner ersten Bemerkungen war: »Man hört, der junge Hahn wird zum Theater gehen, er studiert mit unserer Primadonna seine Liebhaberrolle ein.« Laura wandte sich mit Widerwillen von der platten Bemerkung ab.

Ihre letzte Hoffnung war die Zeit des Demaskierens, ungeduldig erwartete sie den Augenblick. Endlich trat eine Pause ein, die Larven fielen. Sie nahm den Arm der Mutter, mit ihr durch den Saal zu gehen und die Bekannten zu grüßen; es dauerte lange, bis sie in die Nähe von Fritz Hahn kamen, und er sah nicht einmal nach ihnen hin. Laura zuckte mit der Hand, ihn leise anzurühren, aber sie preßte die Finger fest und ging, mit großen Augen auf ihn blickend, vorüber. Jetzt endlich tat er, was längst seine Schuldigkeit gewesen wäre, er erkannte sie. Sie sah die Freude auf seinem Gesicht und ihr wurde leichter zumute. Sie blieb stehen, während er sich vor der Mutter verbeugte und einige höfliche Worte mit dieser wechselte, und sie wartete, daß er anerkennen werde, wie sie ihn bereits gegrüßt. Er sprach kein Wort von der Begegnung. Hatten ihm so viele den Namen in die Hand geschrieben, daß er eine einzelne arme Fledermaus nicht im Gedächtnis behalten konnte? Und als er sich zu ihr wandte, lobte er die Ballmusik.

Das war die Beachtung, die er ihr gönnte! Mit Julia hatte er gesprochen, was zwischen freien Seelen der Rede wert ist, und ihr gegenüber schnurrte er gleichgültige Phrase. Ihre Augen bekamen den düstern Hummelblick, als sie entgegnete: »Sie hatten sonst wenig Wohlgefallen an dem großen Hackebrett dort oben, das die Puppen hüpfen macht.« Der Doktor lächelte befangen und bat um den nächsten Tanz. Das war so ungeschickt als möglich. Laura antwortete bitter: »Die graue Fledermaus war bereits so dreist, an Romeo heranzuflattern, damals hatte er keinen Tanz für sie frei, jetzt tun ihr von dem hellen Licht die Augen weh.« Sie neigte ihr Köpfchen wie eine Königin, nahm den Arm ihrer Mutter und ließ ihn hinter sich zurück.

Was noch kam, war eitel Herzeleid. Noch einmal tanzte der Doktor mit der Dame im Mantel, und Laura sah jetzt, wie freundlich die Verführerin ihn anlachte, und er tanzte sonst mit niemand. Um sie aber kümmerte er sich nicht weiter; und es war ein Glück, daß bald darauf Hummel zu den Seinen trat und sagte: »Es hielt schwer, euch zu finden. Erst als ich die Leute nach den zwei häßlichsten Verputzungen fragte, wurde auf euch gewiesen. Es wäre mir lieb, wenn ihr morgen ohne Kopfschmerz erwachtet, wir haben heut des Vergnügens genug ausgestanden.« Laura war froh, als der Wagen an der Hausschwelle hielt, sie stürzte in ihr Zimmer, riß ihr Buch aus der Schublade und schrieb mit fliegender Hast hinein: »Fluch meiner Tat und Fluch dem frevelhaften Scherz! Die Drachenzähne hab' ich mir ins Land gestreut. In Waffen wächst ein Heer von Feinden und bedräut mit scharfem Stahle mir das warme Herz.« Und sie wischte dabei über die Tränen, die ihr auf das Papier rollten.

Das klare Licht des nächsten Morgens übte auch auf ihre scheu flatternden Gedanken seine beruhigende Macht. Dort drüben lag Fritz Hahn wohl noch in seinem Bett. Der gute Junge war gestern müde geworden. Es mochte doch noch mancher Tropfen Wasser zum Meere fließen, bevor Freund Fritz sich entschloß, sein Geschick mit dem einer tragischen Künstlerin zu verbinden. Sie holte ihren Vorrat von alten Druckbogen heraus und wählte. Da war ja ein recht lustiges Lied: die Käferhochzeit, worin der Käfer auf dem Zaune die Jungfer Fliege auffordert, ihn zu heiraten. Viele kleine Vögel bemühen sich ernsthaft um die Hochzeit, diese aber wird zuletzt durch ein unrühmliches Privatvergnügen des Bräutigams verdorben. »Gut,« sagte Laura, »mein Käfer Fritz, ehe du die leichte Fliege Juliette heiratest, sollen noch andere Vögel ihr Stimmchen dazugeben.« Sie legte das Lied zusammen und schrieb dazu auf einen kleinen Zettel: »Sie vermuten falsch. Der dies sendet, war niemals Julia.« Als sie den Brief schloß, sagte sie beruhigt zu sich selbst: »Wenn er jetzt nicht merkt, daß er im Irrtum war, so muß man an seinem Urteil verzweifeln.«

Der Doktor saß noch ein wenig betäubt bei seinen Büchern, als dieser Brief bei ihm einfiel. Er warf einen Blick auf die Käferhochzeit; alte Einzeldrucke waren ihm überhaupt noch nicht davon vorgekommen und er sah schon bei schnellem Überfliegen, daß manche Verse ganz anders lauteten als in unserm landläufigen Text. Dann nahm er den Zettel und suchte den Orakelspruch desselben zu verstehen. Allerdings, jetzt war unzweifelhaft, daß die Sendung von der Schauspielerin kam, denn wer sonst konnte wissen, daß er sie mit Julia angeredet hatte, und daß lange von dieser Rolle die Rede gewesen war. Aber was sollten die Worte: Sie vermuten falsch? Auch darüber ging ihm ein blendendes Licht auf. Er hatte behauptet, daß die Darstellung der Leidenschaft dem Künstler nur bis zu einem gewissen Grade möglich sei, wenn ihm nicht einmal das Leben selbst eine ähnliche Kette von Empfindungen durch die Seele gezogen hätte. Das hatte die Schauspielerin geleugnet, und sie hatten sich darüber zu vereinigen gesucht. Ihre Worte bedeuteten also offenbar, daß sie die Julia gegeben, ohne je eine große Leidenschaft gefühlt zu haben. Nun, dies war ein Geständnis, das wieder viel Vertrauen zeigte, ja vielleicht noch mehr. Der Doktor saß lange vor dem Blatt. Aber er wurde jetzt ziemlich sicher, mit wem er Briefwechsel führe, und die Entdeckung machte ihn nicht froh. Denn wie er sich auch mit verständigen Gründen gesträubt hatte, es waren doch immer Lauras Augen gewesen, die ihm von dem Papier entgegenstrahlten, freilich ein ganz anderer Blick, als sie ihm gestern vergönnt hatte. Er legte die Käferhochzeit still zu den andern Liedern, und wieder fragte er sich, ob er den Briefwechsel jetzt noch fortsetzen dürfe. Endlich packte er als Antwort die fällige Abgabe ein, etwas aus dem verblühten Vorrat seiner Mappe, und schrieb nichts weiter dazu.

Einige Tage darauf ging der Professor mit Ilse durch die Straße, und als sie bei der Wohnung der Schauspielerin vorbeikamen, sahen beide den Freund am Fenster der Heldin stehen, und Fritz nickte ihnen hinter den Scheiben zu.

»Wie kommt er zu dieser Bekanntschaft?« fragte der Professor, »gilt die junge Dame nicht für sehr emanzipiert?« »Ich fürchte,« antwortete Ilse bekümmert.

Zu Madame Hummel aber kam Frau Knips, welche der Schauspielerin gegenüber wohnte, mit noch feuchter Wäsche gelaufen und erzählte, daß am Abend zuvor ein ganzer Korb Champagner zu dem Fräulein geschafft worden sei, und daß man in der Nacht den lauten Gesang einer wilden Gesellschaft über die ganze Straße gehört habe, und der junge Herr Hahn sei mitten darunter gewesen!

Am Sonntag war der Komiker zum Mittagsbraten des Herrn Hummel geladen, und eine seiner ersten Anekdoten war, daß er von einer lustigen Gesellschaft erzählte, die bei der Schauspielerin gewesen war. Mit der Bosheit, welche auch Genossen derselben Kunst einander zuteil werden lassen, setzte er hinzu: »Sie hat einen neuen Verehrer gefunden, den Sohn von drüben. Nun, das Geld seines Vaters wird doch auf diesem Wege der Kunst zu Hilfe kommen.« Herr Hummel machte große Augen und schüttelte den Kopf, sagte aber weiter nichts als: »Also auch Fritz Hahn ist unter die Schauspieler gegangen und liederlich geworden, er wäre der letzte gewesen, dem ich so etwas zugetraut hätte.« Frau Hummel aber suchte ihre Erinnerungen vom Ball zusammen und fand darin traurige Bestätigung, als Laura, welche heut sehr bleich und schweigsam dasaß, gegen den Mimen heftig herausfuhr: »Ich leide nicht, daß Sie an unserm Tische in solchem Ton vom Herrn Doktor sprechen. Wir kennen ihn gut genug, um zu wissen, daß er in Benehmen und Grundsätzen ein edler Mensch ist. Er ist Herr über sein Tun, und wenn ihm das Fräulein lieb geworden ist und er sie zuweilen besucht, so geht das keinen dritten etwas an. Und es ist boshafte Verleumdung zu sagen, daß er dort etwas Unehrenhaftes begehen wird und Geld ausgeben, das ihm nicht gehört.«

Dem Komiker kam vor Schrecken eine Brotkrume in die falsche Kehle, er versank in den heftigsten Bühnenhusten seines Lebens, die Mutter aber versetzte, um den genialen Mann zu entschuldigen: »Du selbst hast zuweilen gefühlt, daß das Benehmen des Doktors nicht das richtige war.«

»Wenn ich in törichtem Unmut so etwas gesagt habe,«rief Laura, »war es ein Unrecht, und es schmerzt mich sehr; ich habe nur die Entschuldigung, daß es niemals böse gemeint war. Von andern aber ertrage ich keine Kränkung unseres Nachbars.« Und sie stand vom Tische auf und verließ das Zimmer.

Der Komiker rechtfertigte sich gegen die Mutter, Herr Hummel aber faßte an sein Weinglas und sagte, mit zugedrückten Augen seiner Tochter nachsehend: »Sie ist bei trübem Tageslicht gar nicht von mir zu unterscheiden.«

Die Missetat des Doktors machte ihm selbst wenig Kummer. Er hatte seiner Tänzerin vom Ball einen Besuch gemacht, denselben, wobei er am Fenster gesehen wurde. Einer seiner Schulfreunde, jetzt zweiter Tenor der Bühne, war dazugekommen und hatte mit der Künstlerin beschlossen, an ihrem nahen Geburtstage ein kleines Picknick einzurichten, so war Fritz aufgefordert worden, teilzunehmen. Es war eine lustige Gesellschaft gewesen, der Doktor hatte sich unter den leichtbeschwingten Vögeln der Bühne sehr gut unterhalten und mit der Ruhe eines Weisen über den guten Takt gefreut, welcher in der zwanglosen Weise ihres Verkehrs sichtbar wurde. Auch manches verständige Wort wurde den Abend gesprochen, und er ging mit der Ansicht nach Hause, daß es für seinesgleichen recht erfrischend sei, sich einmal zu der lustigen Kunst zu gesellen. Aber er versuchte an demselben Abend auch durch eine Kriegslist seine bekannte Briefschreiberin zu ermitteln. Als man kleine Lieder sang und mit munterer Grazie komische Reime hersagte, hatte er das Käferlied auf das Tapet gebracht und ehrbar angefangen: »Der Käfer auf dem Zaune saß, brumm, brumm, die Fliege, die darunter saß, summ, summ.« Einige hatten eingestimmt, die Dame im Mantel aber kannte das Lied gar nicht, nur ein ähnliches aus einer alten Rolle, und als der Bassist dem Doktor die Melodie aus dem Munde nahm und bei den folgenden Versen jeden der auftretenden Vögel durch Gebärde und komische Veränderungen der Melodie zu porträtieren wußte, da hatte die Wirtin so unbefangen gelacht und sich vorgenommen, das Lied zu lernen, daß der Doktor wieder sehr zweifelhaft wurde, bei der Heimkehr auf seiner Hausschwelle stehenblieb und bedeutsam nach dem Hause des Herrn Hummel hinübersah. Und wenn man in diesem Falle genau untersucht hätte, weshalb er nach diesem Käferlied selbst laut und übermütig wurde wie die andern, der hätte vielleicht gefunden, daß ihm durch jene Unbefangenheit der Schauspielerin ein kleiner Stein vom Herzen geschnellt war.

Aber das alles half ihm wenig gegenüber Brumm und Summ der Nachbarn. Die Parkstraße hatte ihrem Fritz Hahn in der letzten Zeit erhöhte Beachtung gegönnt, sein Bild war unter die ernsten Gelehrten ihres Albums eingereiht, welche sie täglich betrachtete und besprach. Jetzt schien ein fremder Zug in das bekannte Gesicht gekommen, und die Straße wollte nicht dulden, daß eines ihrer Kinder einmal anders aussah, als ihr geläufig war. Deshalb fand viel Raunen und Kopfschütteln statt, Herr und Frau Hahn erfuhren das, nicht zuletzt der Doktor. Er lachte darüber, aber ganz recht war es ihm nicht.

»Tannhäuser, edler Rittersmann, du liegst in Frau Venus' Banden, ich selbst war der arge Papst Urban, ich häufte dir Jammer und Schande.« So klagte Laura in ihrem Zimmer, aber sie verbarg den großen Schmerz, auch gegen Ilse sprach sie kein Wort über die Gefahren des Doktors, und als diese einmal eine leise Anspielung auf die neue Verbindung des Freundes wagte, zerriß Laura den Faden ihrer Stickerei und sagte, während ihr das Blut heiß zum Herzen drang: »Warum soll der Doktor nicht hinübergehen? Er ist ein junger Mann, dem es gut tut, verschiedene Menschen zu sehen, er sitzt ohnedies zu viel in der Stube und bei seinen Eltern, wäre ich ein Mann wie er, ich hätte längst mein Bündel geschnürt und wäre in die Welt gelaufen, denn diese engen Hausmauern machen kleinmütig und pedantisch.«

Am Teetisch brachte einer der Anwesenden das Gespräch auf die Schauspielerin und zuckte die Achseln über ihr freies Wesen. Laura empfand die Pein des Doktors: da saß der arme Fritz und mußte das verwerfende Urteil anhören, die näheren Bekannten schwiegen und sahen bedeutsam auf ihn, seine Lage war schrecklich, denn jeder Narr benutzte des Fräuleins schutzlose Stellung, um sich als Kato zu erweisen. »Ich wundere mich,« rief sie, »daß die Herren so strenge über kleine Streiche einer Künstlerin urteilen, das sollten sie doch uns überlassen. Einer solchen Dame darf man noch viel mehr zugute halten, denn ihr fehlt aller Schutz und alle Freude, welche uns die Familie gibt. Ich bin überzeugt, daß sie ein wackeres und feinfühlendes Mädchen ist.«

Der Doktor sah dankbar zu ihr hinüber und bestätigte ihre Worte. Er merkte nichts, aber es war gekommen, wie in seinem Kindermärchen, Laura bog sich bereits zu seiner Fußspitze herab und hob das Taschentuch auf.

Noch mehr wurde ihr zugemutet. Der Monat März begann in der Welt seine Theaterstreiche. Erst hatte er eine Schneelandschaft aus grauen Wolkensoffitten heruntergelassen, Dächer mit Eiszapfen, weiße Kristalle an den Bäumen und wildes Sturmgeheul hinter der Szene, plötzlich war alles verwandelt, ein lauer Südwind wehte, die Knospen der Bäume schwollen, auf den Wiesen hob sich junges Grün über die dürren Stiele; die Kinder liefen in den Stadtwald und trugen große Bündel der ersten Frühlingsblumen heim, fröhliche Menschen zogen in unabsehbarer Wallfahrt durch die Parkstraße dem warmen Sonnenschein entgegen.

Auch über Herrn Hummel kam das Frühlingsahnen. Dies äußerte sich jährlich dadurch, daß er Farbe für den Kahn mischte und an einem kluggewählten Nachmittag mit Frau und Tochter in einem entlegenen Kaffeegarten lustwandelte. Für Laura war die festliche Reise ein mäßiges Vergnügen, denn Herr Hummel spazierte den Frauen mit starken Schritten voraus, er freute sich ganz in der Stille darüber, wie alles in der alten Natur wieder instand kam und gönnte den Seinen nur dann eine Bemerkung über die Schulter, wenn ihn eine Veränderung im Pflanzenwuchs ärgerte. Aber Laura wußte, daß der Vater auf diese Märzfreude hielt und eilte auch in diesem Jahre neben der Mutter hinter ihm her, einem einsamen Dorfe zu, wo Herr Hummel seine Pfeife rauchte, die Hühner fütterte, den Kellner abkanzelte, mit dem Wirt ein Gespräch über die Saaten führte und der Sonne gestattete, sich auch ihrerseits über das gute Aussehen ihres alten Bekannten Hummel zu freuen. Denn Herr Hummel, sonst keineswegs menschenscheu, liebte in der Natur allein zu sein und haßte die Sammelplätze der Städter auf dem Lande, wo der Duft von frischem Kuchen und gebackenen Kräpfeln alle Natur wegräucherte.

Als er mit seinen Frauen den Kaffeegarten betrat, sah er unzufrieden, daß bereits andere Gäste vorhanden waren. Er warf einen zweiten tadelnden Blick auf die lustige Gesellschaft, welche seinen gewöhnlichen Platz in Besitz genommen hatte, und erkannte die junge Schauspielerin, andere Mitglieder der Bühne, mitten unter ihnen den Sohn seines Gegners. Da wandte er sich zu seiner Tochter und sagte blinzelnd: »Heut wirst du recht zufrieden sein, hier hast du ja außer dem Naturgenuß auch noch die Kunst zur Hand.« Laura erschrak vor der harten Zumutung, welche ihrer Kraft gestellt wurde, aber sie hob stolz das Haupt und schritt mit den Eltern in eine Ecke des Gartens. Dort setzte sie sich mit dem Rücken gegen die Fremden. Dennoch merkte sie mehr von ihrem Treiben, als für die Fassung gut war, sie vernahm Lachen und lustiges Gebrumm der Käferversammlung; je weniger sie sah, um so peinlicher wurde der Lärm, und jedes Geräusch wurde in der tiefen Stille fühlbar, denn auch Ohr und Auge der Mutter hing gespannt an der andern Gesellschaft. Nach einer Weile brach die laute Unterhaltung der Künstler ab, aus den leisen Reden glaubte sie ihren Namen zu hören. Gleich darauf knirschte hinter ihr der Kies, sie dachte sich, daß der Doktor in ihrem Rücken war.

Er trat an den Tisch, grüßte stumm den Vater, machte der Mutter eine freundliche Bemerkung über das Wetter und war gerade im Begriff sich an Laura zu wenden, mit einem Zwange, den sie ihm wohl ansah, als Herr Hummel, der bis dahin den Einbruch des Feindes schweigend ertragen hatte, die Pfeife aus dem Munde nahm und mit sanfter Stimme begann: »Ist denn möglich, was man über Sie hört, Herr Doktor? Sie wollen sich verändern?« Laura fuhr mit dem Sonnenschirm heftig in den Kies.

»Ich weiß nichts davon,« versetzte der Doktor kühl.

»Es geht das Gerücht,« fuhr Herr Hummel fort, »Sie wollen Ihren Büchern Lebewohl sagen und dramatischer Künstler werden. Sollte dies doch der Fall sein, so bitte ich Sie freundlich, auch meines kleinen Geschäftes zu gedenken. Jede Art von künstlerischer Kopftracht, für Liebhaberrollen feiner Biber, für Lakaien mit Tressen, und wenn Sie einmal den Bajazzo machen, eine weiße Filzmütze. Aber Sie werden lieber Clown heißen wollen. Es ist jetzt eine gute Karriere geworden, Hanswurst ist aus der Mode, man wird Sie auch Herr Clown anreden.«

»Ich habe nicht die Absicht, zur Bühne zu gehen,« erwiderte der Doktor. »Wenn ich ja auf den Einfall käme, würde ich Sie nicht um die Kunstwerke Ihrer Fabrik bitten, sondern um eine Unterweisung in dem, was Sie für gute Lebensart halten. Ich würde dann auf der Bühne wenigstens wissen, was sich unter Männern von Anstandsgefühl nicht schickt.« Er grüßte die Frauen und entfernte sich.

»Immer Humboldt,« sagte Herr Hummel, ihm nachblickend.

Laura rührte sich nicht, aber ihre dunkeln Augenbrauen zogen sich so drohend zusammen, daß auch Herr Hummel davon Kenntnis nahm. »Ich bin ganz deiner Meinung,« sagte er behaglich zu seiner Tochter, »es ist schade um ihn; wäre er nicht in dieser Strohhütte verdorben, es hätte wohl etwas aus ihm werden können. Der ist nun auch dahin.« Dabei nahm er Kuchenbrocken und bot sie einem Löwenhündchen, welches vor ihm auf den Hinterbeinen saß und die Vorderpfoten bittend auf und ab bewegte.

»Billy,« rief eine Frauenstimme durch den Garten. Aber Hund Billy achtete nicht darauf, sondern fuhr fort, Herrn Hummel seine Ergebenheit zu beweisen, und dieser, der für Tiere ein weicheres Gemüt hatte als für Menschen, fütterte den Kleinen.

Die Schauspielerin kam eilig heran. »Bitte geben Sie dem unartigen Tiere keinen Kuchen, es sind Mandeln darin,« bat die Künstlerin und wehrte dem Hündchen.

»Ein hübscher Hund,« bemerkte Herr Hummel sitzend.

»Wenn Sie erst wüßten, wie gescheit er ist,« sagte das Fräulein, »er versteht alle Kunststücke. Zeige dem Herrn, was du gelernt hast.« Sie hielt den Sonnenschirm hin, Billy sprang eifrig darüber weg und sofort mit einem Satze auf den Schoß des Herrn Hummel, dort wedelte er mit dem Schweif und versuchte ihm das Gesicht zu lecken.

»Er will Sie küssen,« sagte die Schauspielerin, »darauf dürfen Sie sich etwas einbilden, denn das tut er gar nicht jedermann.«

»Es ist auch nicht jedermanns Sache,« versetzte Herr Hummel und streichelte den Kleinen.

»Sei dem Herrn nicht lästig, Billy,« schalt das Fräulein.

Herr Hummel stand auf und überreichte den Hund, der auf seinen Kuß nicht verzichten wollte und immer noch nach dem Gesicht des Hausbesitzers züngelte. »Er ist treuherzig,« sagte Herr Hummel, »und hat ganz die Farbe des meinigen.«

Das Fräulein liebkoste den Kleinen. »Der Schelm ist leider sehr verzogen; er kriecht in meinen Muff, sooft ich in das Theater gehe, und ich muß ihn mitnehmen, obgleich das nicht geschehen soll. Erst neulich stand ich seinetwegen Todesangst aus, denn während ich als Klärchen unter den Bürgern jammerte, war Billy aus der Garderobe gelaufen, wedelte zwischen den Kulissen und machte mir Männchen.«

»Es war ein ergreifendes Spiel,« begann Frau Hummel.

»Ich fuhr wohl mehr umher als sonst,« entgegnete die Schauspielerin, »denn ich mußte bei jeder Wendung in die Kulisse rufen: Kusch, Billy!«

»Gut,« nickte Herr Hummel, »immer Besonnenheit.«

»Heut bin ich dem Unartigen dankbar,« fuhr das Fräulein fort, »denn er verschaffte mir hier auf dem Lande die Freude, meine Nachbarn zu begrüßen. Herr Hummel, wie ich höre.«

Herr Hummel verneigte sich schwerfällig. Die Schauspielerin wandte sich mit einer Verbeugung zu den Damen, welche stumm ihren Gruß erwiderten.

An der Dame war manches, was Herrn Hummel gefiel. Sie war hübsch, sah aus klugen Augen fröhlich in die Welt und trug etwas auf dem Kopf, was er persönlich kannte. Er ergriff also einen Stuhl und sagte mit einer zweiten Verbeugung: »Wollen Sie nicht die Güte haben, Platz zu nehmen?« Die Fremde nickte ihm zu und wandte sich an Laura. »Ich freue mich, Sie endlich so nahe zu sehen, Sie sind mir keine Fremde mehr, ich habe manchmal an Ihnen rechte Freude gehabt, und es ist mir lieb, daß ich Ihnen heut dafür danken kann.«

»Wo war das doch?« fragte Laura beklommen.

»Wo Sie gewiß nicht daran dachten,« versetzte die andere. »Ich habe ein scharfes Auge und erkenne über die Lampen jedes Gesicht der Zuschauer. Sie glauben nicht, wie sehr das zuweilen peinigt. Da Sie einen festen Platz haben, ist mir oft Erholung gewesen, auf Ihren Zügen auszuruhen und den lebendigen Ausdruck zu betrachten. Und mehr als einmal habe ich, ohne daß Sie es wußten, für Sie allein gespielt.«

»Ha,« dachte Laura, »das ist keine Fliege, das ist Frau Venus.« Aber sie fühlte eine Saite anschlagen, die reinen Ton gab. Sie sagte der Schauspielerin, wie ungern sie eine ihrer Rollen versäume, und daß in ihrem Hause die erste Frage vor dem neuen Theaterzettel sei, ob das Fräulein mitspiele.

Dies gab der Mutter Gelegenheit, sich an der Unterhaltung zu beteiligen. Dagegen rühmte die Schauspielerin, wie gütig man ihr überall entgegengekommen sei. »Denn das Reizvollste unserer Kunst,« fuhr sie fort, »sind die stillen Freunde, welche wir in den Stunden des Spiels gewinnen, Menschen, die man sonst vielleicht nie sieht, deren Namen man nicht weiß, und welche doch unser Leben mit Teilnahme begleiten. Lernt man bei Gelegenheit einmal dieses Wohlwollen Fremder kennen, so wird es reiche Entschädigung für die Leiden unseres Berufes, unter denen die zudringliche Huldigung gemeiner Menschen vielleicht das größte ist.«

Nun, die Huldigung des Doktors durfte sie zu diesen Leiden sicher nicht zählen.

Während die Frauen in solcher Weise miteinander sprachen und Herr Hummel beifällig zuhörte, traten auch einzelne Herren dem Tisch näher. Frau Hummel begrüßte zuvorkommend den zweiten Tenor, der im Hause der Frau Pate bisweilen ein Lied sang, und der würdige Vater der Bühne, welcher Herrn Hummel aus der Ressource kannte, begann mit diesem ein Gespräch über den Bau eines neuen Theaters. Darüber hatte Hummel als Bürger sehr bestimmte Ansichten, welche mit denen des würdigen Vaters ganz übereinstimmten.

So verschmolzen die beiden getrennten Gesellschaften, und der Tisch des Herrn Hummel wurde ein Mittelpunkt, den die Kinder Thalias umschwärmten. Während die Schauspielerin mit Frau Hummel recht ehrbar und hausmütterlich die Übelstände ihrer Wohnung besprach, sah Laura nach dem Doktor. Er stand mehrere Schritte von der Gesellschaft an einem Baum und sah nachdenkend vor sich hin. Schnell trat Laura zu ihm und begann mit fliegender Eile: »Mein Vater hat Sie beleidigt, ich bitte Sie um Verzeihung.«

Der Doktor sah auf. »Es tat nicht weh,« sagte er gutherzig, »ich kenne ja seine Art.«

»Ich habe sie gesprochen,« fuhr Laura mit bebender Stimme fort, »sie ist gescheit und liebenswürdig und hat eine unwiderstehliche Freundlichkeit.«

»Wer?« fragte der Doktor, »die Schauspielerin?«

»Verstellen Sie sich nicht gegen mich,« fuhr Laura fort, »das ist zwischen uns nicht nötig, es gibt niemand auf Erden, der Ihr Glück so von Herzen wünscht als ich. Betrüben Sie sich nicht über das Kopfschütteln anderer; wenn Sie der Liebe des Fräuleins sicher sind, ist alles übrige Nebensache.«

Der Doktor erstaunte immer mehr: »Ich will ja aber das Fräulein gar nicht heiraten!«

»Leugnen Sie nicht, Fritz Hahn, das steht Ihrem wahrhaftigen Wesen schlecht,« rief die leidenschaftliche Laura wieder. »Ich merke wohl, wie sehr das Fräulein zu Ihnen paßt. Seit ich sie gesehen, bin ich überzeugt, für alles Gute und Große finden Sie bei ihr Verständnis. Bedenken Sie sich nicht und wagen Sie mutig Ihrem Herzen zu folgen. Denn sehen Sie, Fritz, eine Sorge habe ich um Sie. Ihr Gefühl ist warm und Ihr Urteil ist sicher, aber Sie hängen zu fest in den Banden Ihrer Umgebung. Ich zittere davor, daß Sie darum unglücklich werden können, weil Sie vielleicht nicht in der rechten Stunde einen Entschluß fassen, der Ihrer Familie ungewöhnlich erscheint. Ich kenne Sie von meiner ersten Kindheit und weiß sehr gut, daß Ihre Gefahr immer war, sich selbst für andere zu vergessen. Darüber können Sie zu einem opfervollen Dasein kommen, und der Gedanke ist mir schrecklich. Denn ich möchte, daß Ihnen alles Gute zuteil wird, was Ihr redliches Herz verdient.« Die Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie ihn liebevoll ansah.

Jedes Wort, das sie sprach, klang dem Doktor wie Lerchentriller und Geschwirr der Heimchen. Leise sprach er: »Ich liebe das Fräulein nicht, ich habe nie den Gedanken gehabt, ihre Zukunft an die meine zu fesseln.«

Laura trat zurück, über ihr Antlitz zog hohe Röte.

»Es ist eine flüchtige Bekanntschaft, nichts weiter für jene und mich, ihr Leben gehört der Kunst und schwerlich jemals ruhiger Häuslichkeit. Wenn ich für mich ein Herz zu begehren wagte, so wäre es nicht das ihre, sondern ein anderes.« Er sah nach dem Tisch hinüber, wo gerade ein lautes Lachen Herrn Hummel andeutete, und sprach die letzten Worte so leise, daß sie kaum bis in Lauras Ohr drangen, dabei blickte er schmerzlich vor sich hin, auf die Knospe des Fliederstrauches, in welcher noch die junge Blüte verborgen lag.

Laura stand unbeweglich, wie vom Stabe eines Zauberers berührt, aber die Tränen liefen noch immer von ihrer Wange herab. Sie war nahe daran, die Kirsche ihres Vielliebchens mit den Lippen zu fassen.

Da summten die lustigen Käfer heran, die Schauspielerin winkte ihr lächelnd zu, der Vater rief, das Märchen war zu Ende. Laura hörte noch, wie das Fräulein siegreich zum Doktor sagte: »Er hat mir doch einen Stuhl angeboten, er ist gar kein Brummbär, er war sehr gut gegen Billy.«

Als Fritz in seine Wohnung kam, schleuderte er Hut und Überrock von sich, sprang an den Schreibtisch und holte die kleinen Briefe der unbekannten Hand heraus. »Sie ist es,« rief er laut, »ich Tor, nur einen Augenblick zu zweifeln.« Er las jeden der Briefe wieder durch und nickte bei jedem mit dem Kopfe. Das war sein hochsinniges, wackeres Mädchen; wie sie sich sonst auch stellte, heut hatte sie ihm ihr wahres Antlitz gezeigt. Er wartete ungeduldig auf die Stunde, wo er Laura bei den Freunden treffen würde. Sie trat spät ein, grüßte ihn ruhig und war den Abend schweigsamer und weicher als sonst. Wenn sie sich an ihn wandte, sprach sie zu ihm ernsthaft wie zu einem bewährten Freunde. Sehr gut stand ihr die milde Ruhe. Jetzt gab sie sich ihm, wie sie war, ein begeistertes Fühlen, ein reiches Gemüt. Sprödigkeit und neckende Laune, die alten Schalen, welche den süßen Kern verdeckt hatten, waren zerbrochen. Auch die ruhige Vorsicht freute ihn, mit der sie unter den Freunden ihre Empfindung barg. Wenn die nächste Liedersendung kam, dann sprach sie zu ihm, wie jetzt beiden ums Herz war, oder sie gab doch ihm das Recht, offen an sie zu schreiben. Der Doktor zählte am nächsten Morgen die Minuten, bis der Briefträger sein Haus betrat. Er riß die Tür auf und eilte dem Manne entgegen. Fritz hielt einen neuen Brief in der Hand, er löste ungeduldig das Kuvert, keine Zeile des Absenders lag bei, er entfaltete den alten Druckbogen und las die Worte des groben Liedes:

»Hei ha ho. Steck' an den Schweinebraten, darzu die Hühner jung! darauf mag uns geraten ein frischer freier Trunk. Hol' Wein, schenk' ein, trink' mein liebes Brüderlein, heute muß alles verschlemmet sein,« und der ehrliche einfältige Doktor fragte wieder: ist sie es? oder wäre möglich, daß sie es nicht ist?


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