Gustav Freytag
Die verlorene Handschrift
Gustav Freytag

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Viertes Kapitel

Unter den Studenten

Wer dem Professor von Herzen gut werden wollte, der mußte ihn sehen, wenn er im Kreise seiner Zuhörer saß, der gereifte Mann unter der aufblühenden Jugend, der mitteilende Lehrer vor bewundernden Schülern. Denn des akademischen Lehrers schönstes Vorrecht ist, daß er nicht nur durch sein Wissen, auch durch seine Persönlichkeit die Seelen des nächsten Geschlechtes adelt. Aus den vielen, welche einzelne Vorträge hören, schließt sich ein gewählter Kreis enger an den Gelehrten, im persönlichen Verkehr schließt sich ein Band um Lehrer und Schüler, leicht gewebt, aber dauerhaft, denn was den einen an den andern fesselt, oft den Fremden nach wenig Stunden zum Vertrauten macht, ist ihr frohes Bewußtsein, daß beide dasselbe für wahr, groß, gut halten.

Dieses Verhältnis, reizvoll und fruchtbar für beide Teile, ist die edle Poesie, welche die Wissenschaft ihren Bekennern gönnt. Fremde und spätere Menschen, welche den Wert eines Mannes nur nach seinen Büchern beurteilen, sie erhalten, wie hoch auch der Gelehrte selbst diese Art von Überlieferung schätzen möge, doch nur ein unvollständiges Bild des Entfernten; weit anders wird der lebendige Quell schöpferischer Kraft auf die Seelen solcher, welche von Lippe und Auge des Lehrers sein Wissen empfangen. Nicht nur der Inhalt seiner Lehre bildet sie, mehr noch seine Art, zu suchen und darzustellen, am meisten sein Charakter und die besondere Weise des Vortrags. Denn diese erwärmen dem Hörer das Herz und senken ihm Achtung und Neigung in das Gemüt. Solcher Abdruck eines menschlichen Lebens, der in vielen zurückbleibt, ist für Arbeitsweise und Charakter der Jüngeren oft wichtiger als der Inhalt empfangener Lehre. In den Schülern arbeitet das Wesen des Lehrers neues Leben schaffend fort, seine Vorzüge, zuweilen auch Eigenschaften und Schwächen. In jedem Hörer färbt sich anders das charakteristische Bild seines starken Meisters, und doch ist in jedem Schüler der Lehrer, der an dieser Seele formte, vielleicht bis zur kleinen Absonderlichkeit erkennbar.

Die Lehrstunde, welche Felix für seine Frau festgesetzt hatte, war nicht die einzige, welche er in seinem Hause gab. Ein Abend jeder Woche gehörte seinen Studenten. Da kamen zuerst einzelne, welche für ihre Arbeiten einen Wunsch hatten, mit Anfrage und Bitte. Später sammelte sich eine größere Zahl, auch Ilses Zimmer wurde geöffnet, Gabriel bot Tee und einfaches Abendbrot, eine Stunde verlief in zwanglosem Gespräch und einzelnen Gruppen, bis sich allmählich die Getreuen in das Arbeitszimmer des Lehrers zogen und den Kreis dichter um sein geehrtes Haupt schlossen. Dann saß der Professor inmitten seiner Schüler und das Zimmer wurde zuweilen enge. Auch hier formlose Unterhaltung, bald ein launiger Bericht über Erlebtes, bald eingehende Erörterung, wobei der Professor seine jungen Freunde zu tätiger Teilnahme anzuregen wußte; dazwischen schnelle Urteile über Menschen und Bücher in schlagender Rede und Antwort, wie solchen natürlich ist, die aus flüchtigem Anschlage eine lange Melodie erkennen. Felix erschloß in diesen Stunden sein Inneres mit einer Offenheit, die er in seinen Vorlesungen nicht zeigte, er sprach über sich und andere ohne Rückhalt und verhandelte behaglich, was ihm gerade auf der Seele lag. Aber wie verschieden die Unterhaltung dieser Abende dahinlief, immer waren es Männer derselben Wissenschaft, welche einander im großen und kleinen verstanden und selbst im Scherze ernster Geistesarbeit gedachten.

Auch Frau Ilse blieb dieser vertrauten Gesellschaft eine fremde Erscheinung. Die Teilnehmer, sämtlich ernsthafte Männer, ältere Studenten oder junge Doktoren, freuten sich der ansehnlichen Hausfrau, welche in ihrer einfachen Weise gern mit den einzelnen verkehrte. Im Jahre vorher war einmal ihre Freude an der Odyssee zutage gekommen, als sie die Herren zum Genuß einer Hinterkeule des erdaufwühlenden Ebers aufgefordert und den wohltuenden Wunsch ausgesprochen hatte, die Gesellschaft möge nicht verschmähen, ihre Hände nach dem bereiteten Mahle auszustrecken. Seitdem hieß sie in dem Kränzchen Frau Penelope, und sie wußte, daß dieser Beiname sich auch über die Wände des Hauses in die Studentenschaft verbreitet hatte.

Nun hatte Ilse auch unter den jungen Gelehrten ihre Lieblinge. Zu diesen gehörte ein wackerer Student, nicht der bedeutendste von den Zuhörern des Professors, aber einer der fleißigsten. Er war ihr Landsmann und Ilse hatte zuerst an ihm erkannt, daß auch zarte Empfindung in der Brust eines Studenten zu finden sei. Unser Student hatte in den letzten Jahren mit Erfolg daran gearbeitet, den Krater seines Innern durch Kollegienhefte auszufüllen. Seiner Lyrik aber hatte er ziemlich entsagt; denn damals, wo der Professor ihm seine Gedichte zurückschickte, war er sehr in sich gegangen und hatte demütig um Entschuldigung gebeten; war auch seitdem mit Hilfe eines guten Stipendiums, das ihm Felix verschafft, zu einer weniger menschenfeindlichen Auffassung bürgerlicher Verhältnisse durchgedrungen. Er bewährte sich als ein treuer und anhänglicher Bursch und trug jetzt würdig den Titel Doctorandus, welcher nach Angabe unserer Grammatiker einen Mann bedeutet, der zum Doktor gemacht werden soll oder muß. Dabei hatte er auch bei der Studentenschaft eine gewisse Geltung, er bekleidete in der großen Verbindung Arminia ein Ehrenamt, trug noch immer ihre Farbenmütze und wurde dort zu den bevorzugten Weisen gerechnet, welche an Trinkabenden von lästiger Verpflichtung befreit sind und die Pausen, in denen stürmische Jugend Atem holt, durch ernstes Gespräch über Menschentugend ausfüllen.

An einem Studentenabend brodelte die Unterhaltung schon in Ilses Zimmer sehr laut und warf wissenschaftliche Blasen. Eine interessante Handschrift war in entlegener süddeutscher Bibliothek aufgefunden. Über den Fund und den Herausgeber wurde verhandelt, und Felix zählte behaglich mit einigen Auserwählten alle ähnlichen Entdeckungen auf, welche in den letzten zwanzig Jahren gemacht waren. Da begann unser Student, der gerade durch Frau Ilse eine Tasse Tee erhalten hatte, mit dem Löffel rührend, recht gemütlich: »Dürfte nicht auch in der Nähe noch manches zu finden sein? So steht in meiner Heimat eine alte Kiste, welche Bücher und Papiere aus dem Kloster Rossau enthalten soll. Es ist nicht unmöglich, daß darunter etwas Wertvolles steckt.«

Das sprach der Student und rührte mit dem Löffel, dem Knaben gleich, welcher den brennenden Span in einer gefüllten Bombe herumdreht.

Der Professor fuhr von seinem Stuhl in die Höhe und warf dem Studenten einen Flammenblick zu, daß dieser erschrak und die Tasse schnell hinsetzte, um bei dem, was kommen mußte, nichts zu beschütten. »Wo soll die Kiste stehen?«

»Wo? weiß ich nicht,« versetzte der Student betreten, »vor einigen Jahren hat mir ein Landsmann davon erzähl, er war in der Gegend von Rossau geboren« – der Student nannte den Namen und Ilse kannte die Familie. »Aber in unserm Fürstentum muß es sein, denn er hat dort als Hauslehrer an mehreren Orten gelebt.«

»War er denn Philolog?« fragte ein älterer Hörer ebensosehr im Jagdeifer als der Professor.

»Er war Theolog,« antwortete unser Student.

Ein bedauerndes Geräusch ging durch das Zimmer. »Dann ist die Nachricht doch unsicher,« schloß der Kritiker.

»Hat der Mann die Kiste selbst gesehen?« fragte der Professor

»Auch darüber bin ich nicht sicher,« erwiderte der Student, »ich hatte damals noch kein rechtes Verständnis für den Wert dieser Mitteilung. Aber er muß sie doch selbst gesehen haben, denn ich erinnere mich, er sagte, sie wäre dick mit Eisen beschlagen.«

»Unglücksmann,« rief der Professor, »schaffen Sie uns Kunde von diesem Kasten.« Er ging heftig im Zimmer auf und ab, die Studenten machten seiner Aufregung ehrerbietig Platz. »Die Nachricht ist wichtiger, als ich Ihnen jetzt sagen kann,« begann der Professor vor dem Studenten anhaltend. »Suchen Sie zunächst Ihre Erinnerungen zu sammeln. Hat Ihr Bekannter die Kiste offen gesehen?«

»Wenn ich mir alles zusammenhalte,« sagte der Student, »möchte ich glauben, er hat selbst gesehen, daß alte Klostersachen darin liegen.«

»Dann war sie also nicht mehr verschlossen?« fragte der Professor weiter. »Und wo ist jetzt Ihr Freund?«

»Er ist voriges Jahr mit einer Bauerstochter nach Amerika gegangen. Wo er sich aufhält, weiß ich nicht, das wird aber bei seinen Verwandten zu erfahren sein.«

Wieder ging ein mißbilligendes Geräusch durch das Zimmer.

»Ermitteln Sie den Aufenthalt des Mannes, schreiben Sie ihm und fordern Sie genaue Auskunft,« rief der Professor. »Sie können mir keinen größern Dienst erweisen.«

Der Student versprach das menschenmögliche. Als die Herren sich entfernten, richtete Gabriel dem Studenten eine heimliche Einladung zu nächsten Mittag aus. Ilse wußte, daß ihrem Felix jetzt die Nähe des Vertrauten wohltun werde, der einen Bekannten besaß, der den Kasten gesehen hatte, der die Bücher von Rossau enthielt, unter welchen allerdings die Handschrift des Tacitus liegen konnte, wenn sie nicht irgendwo anders war.

Aber sie selbst hörte ohne Freude von der geheimnisvollen Kiste. Denn Ilse war leider in Sachen der Handschrift immer noch ungläubig, sie hatte einigemal den Gatten durch ihre Gleichgültigkeit verletzt und mied seit dem Unglück des Struvelius jede Erwähnung der Verlorenen. Dazu hatte sie noch einen besonderen Grund. Sie wußte, wie sehr der Gedanke und jede Erörterung ihren Felix aufregte. Er fuhr dann in die Höhe, sprach in heftigen Worten und seine Augen blitzten wie im Fieber. Zwar bändigte er sich selbst nach wenigen Augenblicken und lachte wohl über seinen Eifer, aber der Hausfrau war solcher Ausbruch geheimer Leidenschaft unbehaglich, denn sie empfand bei dem plötzlichen Auflodern, daß der Gedanke an den Kodex die Seele des geliebten Mannes wund drückte, und sie argwöhnte, daß er in der Stille oft darüber träumte und Feindseliges gegen die Mauern des Vaterhauses sann.

Auch heut hatte unser Student den Sturm aufgeregt. Noch spät wurde der Doktor gerufen, lange wurde erörtert und gestritten, Ilse war erfreut, daß der Doktor auf die Kiste nicht viel gab und durch verständige Einwürfe auch dem Professor wieder eine launige Bemerkung über seine heiße Jagdlust abnötigte.

Als der Student am nächsten Mittag die Briefe, welche er geschrieben hatte, als Zeichen seines Eifers mitbrachte, behandelte der Professor die Nachricht ruhiger. »Es ist eine unsichere Notiz,« sagte er, »selbst wenn der Erzähler Wahrheit sprach, mag noch jeder einzelne Umstand, sogar der Name des Klosters, unrichtig sein.« Als vollends aus der Heimat des Studenten die Kunde eintraf, der Theolog habe sich irgendwo im Staate Wisconsin als Apotheker niedergelassen, und der Brief des Studenten in eine unsichere Ferne gesandt werden mußte, da ermäßigte sich der Strudel, welchen die auftauchende Kiste erregt hatte, zu gefahrlosen kleinen Wellen.

Der größte Vorteil erwuchs aus diesem Vorfall zunächst unserm Studenten. Denn der Professor teilte die Nachricht dem Kammerherrn mit und gönnte diesem eine Andeutung, daß in dem Kasten Sachen von hohem Wert verpackt sein könnten. Der Kammerherr hatte früher einmal durch mehrere Jahre die Geschäfte eines Schloßhauptmanns besorgt und war mit dem alten Hausgerät einiger fürstlichen Schlösser bekannt, wußte jedoch auf keinem Boden etwas Verdächtiges zu finden. Da ihm aber der Student als Günstling des Hauses vor Augen trat, wollte er an dem jungen Mann seine Geneigtheit erweisen und forderte denselben auf, sich als Landeskind dem Erbprinzen vorzustellen. Das geschah. Eine Folge der Vorstellung war, daß unser Student zu einem Abend eingeladen wurde, an welchem der Prinz mehrere akademische Bekannte bei sich empfing.

Es war für den Studenten ein bangsamer Abend, und der Armine hatte allerlei Ursache, argwöhnisch zu sein. Denn in diesem Jahre gärte es heftig in der Studentenschaft. Gerade die Händel zwischen dem Korps der Markomannen und der großen Genossenschaft Arminia hatten den Sturm aufgewirbelt. Und die letzte Veranlassung des Unwetters war seltsam und lehrreich für jeden, der die geheime Verknotung irdischer Ereignisse beachtete. Jener Zwist der Professoren, welcher die Vertreter der Altertumswissenschaft voneinander schied, der Kampf zwischen Werner und Struvelius, hatte zu seiner Zeit die akademische Jugend durchaus nicht aufgeregt. Aber kurz darauf war unter den Studenten ein Lied aufgetaucht, in welchem die Abenteuer des Struvelius respektwidrig besungen wurden. Dies Lied war als Kunstwerk schwächlich, es lief im Bänkeltone und war mit einem wiederkehrenden Schlußreim geziert, welcher lautete: »Struvelius, Struvelius, heraus mit deinem Fidibus, wer sich verbrennt, der hat Verdruß.« Der Dichter ist nie ermittelt worden. Wenn man aber erwägt, daß dieses Lied, soweit sein possenhafter Inhalt erkennen ließ, feindselig gegen Struvelius und zu Werners Ruhm gedichtet war, und wenn man ferner erwägt, daß es zuerst unter den Arminen aufkam und daß unter den Kindern Armins einer mit lyrischer Vergangenheit war, daß dieser eine zu Werners Kränzchen gehörte und daß im Kränzchen das Pergament einigemal verächtlich als Fidibus behandelt wurde, so kann man die vorsichtige Vermutung nicht unterdrücken, daß unser Student seine scheidende Muse, als sie gerade zur Tür hinausgehen wollte, noch zu dieser niedrigen Leistung entwürdigt habe.

Das leichtfertige Lied war bei den Arminen heimisch, sein Schlußreim wurde zuweilen in stiller Nacht auf der Straße gehört, es war den Professoren sehr ärgerlich und nicht zuletzt dem Teetisch Werners, aber mit Gewalt ließ sich nicht dagegen ankämpfen. Den Markomannen und ihren Bundesgenossen blieb das Lied und seine Veranlassung gleichgültig, aber sie sangen die Verse nicht, weil diese einem Trinkliede der Arminen nachgebildet waren. Gerade da Werner sein Rektorat antrat, saßen in einer Gastwirtschaft Studenten aller Parteien durcheinander. Als ein Markomanne seine Pfeife an der Gasflamme anzündete und sich dabei das Korpsband versengte, sangen einige Arminen höhnend den Schlußreim. Die Markomannen sprangen auf und geboten Schweigen. Die natürliche Folge waren zahlreiche Forderungen. Leider blieb es dabei nicht. Ein Haufe Arminen war vor das Lager der Markomannen gezogen und hatte auf der Heerstraße dieselbe unfreundliche Weise angestimmt, es war zu bedauerlichen Zusammenstößen zwischen den Parteien und der Stadtpolizei gekommen, Untersuchungen und ernste Strafen waren das Ende gewesen. Werner selbst hatte in vertraulicher Besprechung mit einzelnen Häuptern alles getan, das leidige Lied zu dämpfen, und seinem Ansehen war gelungen, den Gesang wenigstens auf der Straße zu bändigen. Aber der Groll war in den Herzen zurückgeblieben. Durch allerlei widerwärtige Vorfälle wurde bemerkbar, daß die akademischen Bürger uneiniger als gewöhnlich und in widersetzlicher Stimmung waren.

Dies alles wälzte der Armine in besorgtem Gemüt, als er im Vorzimmer des Prinzen seine Mütze neben die Kopfzierden großer Markomannenhäuptlinge hing. Indes verlief der Abend besser als er dachte. Die Markomannen beobachteten in dem geweihten Raume anständige Höflichkeit. Ja, das Zusammentreffen erhielt eine Bedeutung. Denn gerade in dieser Zeit war Veranlassung, ein Fest der Universität durch solennen Kommers zu feiern. Aber wie häufig große Angelegenheiten unserer Nation, drohte auch dieses Trinkfest durch den Zwist der Stämme vereitelt zu werden. Jetzt, wo der Armine unter den Markomannen Eispunsch trank, äußerte der Erbprinz, daß er gern einmal einen feierlichen Kommers ansehen würde, und Beppo, Führer der Markomannen, sprach gegen den Arminen eine Ansicht aus, wie der Zwist beigelegt werden konnte. Der Armine erbot sich, diese Vorschläge seinem Stamme zu überbringen. Als der Kammerherr Bedenken gegen eine Teilnahme des Erbprinzen am Kommers erhob, versicherte der Sohn Armins, von Punsch und Gespräch begeistert, daß auch sein Volk gemütvoll die Ehre empfinden werde, die der Prinz dem Fest durch seine Gegenwart erweise.

Die Bemühungen unseres Studenten hatten Erfolg: das Kriegsbeil wurde begraben, die akademische Jugend rüstete sich zu einem gemeinsamen Feste. Ein großer Saal, reich verziert mit den Farben aller Genossenschaften, welche an dem Kommers teilnahmen, war mit langen Tafeln besetzt. An den Enden standen im Festschmuck die Präsiden mit ihren Schlägern, auf den Stühlen saßen mehrere hundert Studenten nach Verbindungen gereiht; unter den Markomannen der Prinz und sein Kammerherr, und der Prinz trug heut der Verbindung zu Ehren ihre Abzeichen. Rauschende Musik trug den vollen Klang der Lieder weit in die Runde, es war ein guter Anblick, so viele Männer, Hoffnung und Kraft des nächsten Geschlechts, in festlichem Gesange und den alten Bräuchen der Akademie beieinander zusehen. Ohne Störung verlief das Fest bis gegen das Ende. Als der Kammerherr bemerkte, daß die Wangen glühten, der Gesang wilder dahinfuhr und die Musik dem akademischen Pulsschlag nicht schnell genug tönte, mahnte er in der Pause zum Aufbruch. Der Prinz erhob sich, selbst erregt durch Gesang und Wein, vor ihm schritt der gesamte Adel der Markomannen, das wogende Volk zu teilen. Sie mußten sich durch die Menge drängen, welche von den Stühlen aufgestanden war und durcheinanderschwirrte. So geschah es, daß der Prinz von seinem akademischen Hofstaat abgeschnitten wurde und mit einem trotzigen Arminen zusammenstieß, der, durch Wein gestärkt und durch unsanfte Berührung der Vorausschreitenden erbittert, den Weg nicht räumte, sondern mit den Ellbogen unbillig verengte und den Rauch seiner Pfeife ruhig vor sich hinblies, so daß der Dampf dem Prinzen um den kleinen Bart fuhr. Da hatte der Prinz die Unbesonnenheit, den Studenten anzustoßen und zu sagen: »Sie sind ein unverschämter Wicht.« Und der Armine sprach mit lauter Stimme das verhängnisvolle Wort aus, welches nach akademischer Sitte einen Zweikampf oder Ehrlosigkeit des Geschmähten zur Folge hat. Er war im Nu von den düstern Gestalten der Markomannen umdrängt und dasselbe Schmähwort regnete von allen Seiten wie Hagel gegen seine dreiste Stirn. Er aber zog höhnend seine Schreibtafel und rief: »Einer nach dem andern, daß keiner von dem Hofstaat fehlt, wie der Herr, so das Gesinde.« Und da der Andrang größer wurde, schrie er hinter sich: »Hierher ihr Arminen!« und begann im wilden Basse den Schlachtruf seines Stammes: »Struvelius, Struvelius, heraus mit deinem Fidibus!« Im Saale brach das Getümmel los, über Stuhl und Tisch sprangen die Arminen ihrem gefährdeten Krieger zu Hilfe – nicht mehr einzelne, sondern wie Heckenfeuer flogen die schmähenden Worte und Forderungen hin und her. Vergebens riefen die Präsiden zu den Plätzen, vergebens fiel die Musik ein, zwischen das Geschmetter der Fanfare klangen die zornigen Rufe der streitenden Parteien. Zwar eilten die Präsiden auf einen Hauf zusammen und trennten, im Zuge dazwischenfahrend, die Zankenden. Aber auf das wilde Toben folgten leidenschaftliche Erörterungen, die Verbindungen standen getrennt, die einzelnen Haufen verhöhnten einander und suchten nach altem Kriegsbrauch die Gegner allmählich bis zum äußersten Worte zu treiben, schon waren einige Ausdrücke gefallen, welche durch den Sittenkodex der Akademie gänzlich verboten sind, die Schläger blitzten in der Luft und mehr als eine Faust packte statt der Waffe die Weinflasche. Die Musik stimmte das Vaterlandslied an, doch die Weise klang den Empörten widerwärtig in ihren Zorn, von allen Seiten donnerte der Ruf: »Aufhören.« Die verschüchterten Musiker schwiegen und der neue Ausbruch eines ungeheuren Tumultes schien unvermeidlich. Da sprang ein alter Häuptling der Teutonen, der sein Volk kannte, auf das Orchester, ergriff eine Geige, stellte sich als Dirigent hoch auf einen Stuhl und begann die kindische Melodie: »Ach, du lieber Augustin, alles ist hin.« Die Musik fiel in klagenden Tönen ein. Jeder sah nach der Höhe, man erkannte den ansehnlichen Mann, der angestrengt auf der Geige kratzte, die Stimmung schlug plötzlich um, es entstand ein allgemeines Gelächter. Die Präsiden schmetterten mit ihren Klingen auf die Tische, daß mehr als eine zersprang, und geboten Ruhe, die Führer aller Verbindungen traten zusammen, erklärten den Kommers für aufgehoben und forderten ruhigen Heimgang der Stämme, weil sie selbst alles weitere in die Hand nehmen würden. Zornig drängte die Studentenschaft zum Saale hinaus und zerstreute sich zu ihren Sammelplätzen. Aber in jedem Haufen wurden die Vorfälle mit leidenschaftlicher Erbitterung besprochen und eilige Gesandtschaften schritten durch die Nacht von einem Lager zum andern.

Den Prinzen hatte der Kammerherr nach dem ersten Zusammenstoß aus dem Gewühl gerettet. Der Prinz saß in seinem Zimmer, bleich und entsetzt über den Unfall und die Folgen, die er zu haben drohte. Auch der Kammerherr war bestürzt, denn auf sein Haupt fiel die Verantwortung für diesen Skandal. Dabei sah er mit wirklicher Teilnahme auf den jungen Fürsten, der die Kränkung seiner Ehre so tief empfand und wie gebrochen vor sich hinstarrte, unempfänglich für den Trost, daß der Plebejer seine fürstliche Ehre so wenig zu kränken vermöge wie der Sperling auf dem Baum.

Nach einer schlaflosen Nacht empfing der Prinz die Ältesten der Markomannen, welche kamen, um den Beschluß ihres Stammes zu verkünden. Sie erklärten, daß ihr erster Häuptling Beppo erwählt sei, die Stelle des Prinzen bei den weiteren Verhandlungen mit den Arminen zu vertreten, und der Senior bat ritterlich, ihm diese Ehre zu bewilligen. Er fügte hinzu: nach der Meinung seiner Genossenschaft habe der Armine überhaupt keine Ansprüche auf den Vorzug, daß dem verruchten Schmähwort eine Forderung folge, und wenn der Prinz jedes weitere Eingehen verweigere, würden die Markomannen alle Folgen auf ihre Genossenschaft nehmen. Aber sie wollten nicht verbergen, daß sie mit dieser Ansicht allein stünden, daß sie in ihrem eignen Korps Widerspruch gefunden hätten. Und alles erwägend hielten sie für die beste Auskunft, wenn der Prinz dem akademischen Brauch ein Zugeständnis mache, dessen Größe sie allerdings tief empfänden.

Der Prinz war noch fassungslos, der Kammerherr bat die Herren, Sr. Hoheit einige Stunden Zeit zur Erwägung zu lassen.

Unterdes trug unser Student, den die Rücksicht auf seine Dissertation gebändigt und vor persönlichen Verwicklungen bewahrt hatte, die Kunde des Unheils bestürzt an den Doktor, da er sich in dieser Angelegenheit vor den Rektor nicht traute. Der Doktor eilte zum Freunde, der bereits durch die Pedelle und Berichte der Polizei von dem unerfreulichen Ereignis wußte. »Über den persönlichen Streitfall des Prinzen ist mir bis jetzt keine Anzeige geworden, es ist vielleicht für ihn selbst und für die Universität wünschenswert. daß eine solche nicht erfolgt. Ich werde wachsam sein und weitere Ausschreitungen zu verhüten suchen, und ich werde meine Amtspflicht nach jeder Richtung auf das strengste tun, sorgt aber dafür, daß ich über diese Angelegenheit nur erfahre, was mir Grundlage zu amtlichem Eingreifen werden kann.«

Fast in derselben Lage wie unser Student war der Kammerherr, auch er stellte sich sorgenvoll beim Doktor ein, erzählte den Streit und fragte, was der Doktor von der Verpflichtung des Prinzen halte, sich durch seinen Stellvertreter aus einen Zweikampf einzulassen. Der Doktor erwiderte mit Zurückhaltung: »Jedes Duell ist Unsinn und Unrecht. Wenn der Erbprinz von dieser Ansicht durchdrungen ist und die Folgen derselben für sein Leben und dereinst für seine Regierung auf sich nehmen will, so werde ich der letzte sein, der gegen dies Martyrium etwas einwendet. Steht aber Ihr junger Herr nicht so sicher und frei über den Vorurteilen seines Kreises und ist auch ihm die stille Ansicht eingepflanzt, daß es für Kavaliere und Militärs eine bestimmte Ehre gibt, welche noch etwas anderes bedeutet als die Ehre eines Ehrenmannes, und welche in gewissen Fällen ein Duell nötig macht, sollte Ihr Prinz nach solchen Anschauungen urteilen und dereinst regieren wollen, so will ich Ihnen allerdings bekennen, daß ich ihm das Recht nicht zugestehe, den Ehrbegriffen unserer akademischen Jugend entgegenzutreten.«

»Sie sind also der Meinung,« fragte der Kammerherr, »daß der Prinz sich auf die angebotene Stellvertretung einlassen müsse?«

»Ich habe weder Recht noch Wunsch, hier eine Meinung auszusprechen,« versetzte der Doktor. »Ich kann nur sagen, daß mir die Stellvertretung auch nicht gefällt. Mir scheint die Sache so zu liegen: entweder Vernunft oder wenigstens persönlicher Mut.«

Der Kammerherr stand schnell auf. »Das ist ganz unmöglich; es wäre nicht nur eine unerhörte Abweichung von dem Herkommen und würde für den Prinzen neue peinliche Verwicklungen herbeiführen, es ist auch so vollständig gegen meine Überzeugung von dem, was einem Fürsten erlaubt ist, daß davon unter keinen Umständen die Rede sein kann.«

Der Kammerherr entfernte sich, nicht angenehm von der radikalen Auffassung des Doktors berührt. Nach der Heimkehr sagte er dem Prinzen: »Die Angelegenheit muß schnell beendet werden, bevor der Fürst davon erfährt. Höchstderselbe wird bei der Persönlichkeit des Gegners Ew. Hoheit jede Nachgiebigkeit auf das strengste untersagen; und doch sehe ich, daß die Beziehungen meines gnädigsten Prinzen zu der Studentenschaft und vielleicht sogar andere persönliche Verhältnisse auf das äußerste gefährdet sind, wenn es nicht gelingt, den hier üblichen Ansichten einigermaßen zu entsprechen. Darf ich deshalb Ew. Hoheit einen Rat geben, so ist es immer der, daß Höchstsie dem Kreise, in welchem wir einmal leben, eine große Bewilligung machen und Herrn von Halling als Vertreter annehmen.«

Der Prinz sah gedrückt vor sich nieder und sagte endlich: »Das wird wohl das beste sein.«

Der große Häuptling Beppo, eine der besten Klingen der Universität, sollte sich also für den Erbprinzen schlagen. Nun erwies sich aber, daß die Arminen mit dieser Vertretung keineswegs zufrieden waren, sondern den unverschämten Anspruch erhoben, den Prinzen selbst in Fausthandschuhen und Batisthemd vor sich zu sehen. Namentlich Ulf der Dicke, Urheber des ganzen Skandals, erklärte, daß er den Markomannenführer ohnedies in seiner Brieftasche finde und nicht auf die fröhliche Aussicht verzichten wolle, mit ihm in Privatangelegenheiten einen Gang unter kleinen Mützen abzumachen.

Das war nicht zu leugnen; indes ein großer Rat aller Senioren, welchen die Markomannen schnell zusammenriefen, entschied dafür, daß der Stellvertreter anzunehmen sei. Dagegen wurde die listige Forderung der Markomannen abgelehnt, daß der Armine zuerst gegen ihre Korpsgenossen auf die Kreide trete. Sie wollten dadurch den Prinzen der ganzen Sache überheben, da anzunehmen war, daß auch die stämmige Kraft des Arminen lange beseitigt sein würde, bevor nur die Hälfte der Namen in seiner Brieftafel getilgt war. Es blieb also nichts übrig, als daß die beiden Kämpfer zu zwei verschiedenen Malen aufeinander loshieben, der Markomanne zuerst im Namen des Prinzen. »Wir wollen uns beide Mühe geben, daß das zweite Mal nicht nötig wird,« sagte der Markomanne beim Aufbruch bedeutsam zum Vertreter des Arminen.

Jede Vorkehrung war getroffen, den verhängnisvollen Zweikampf geheimzuhalten, nur die Beteiligten wußten die Stunde, selbst den Stammgenossen wurde von andern Tagen gesprochen, denn die Pedelle waren wachsam, die Universität bereits von der höchsten Behörde aufgefordert, mit allen Mitteln weitere Folgen zu verhindern.

Am Mittag vor dem Zweikampf lud der Prinz die Markomannen zu Tische, es war dabei so viel von ähnlichen Geschäften die Rede, daß selbst dem Kammerherrn unheimlich wurde. Kurz vor dem Aufbruch stand der Prinz mit dem Senior in einer Fensternische, plötzlich faßte er die Hand des jungen Mannes, hielt sie fest und ein heftiges Schluchzen erschütterte ihm die Glieder. Bewegt sah der tapfere Knabe auf den Prinzen: »Es wird alles gut gehen, Hoheit,« sagte er tröstend.

»Für dich, aber nicht für mich,« erwiderte der Prinz und wandte sich ab.

Als gegen Abend der Erbprinz unstet durch die Zimmer ging, machte der Kammerherr, der selbst trübe Gedanken loswerden wollte, den Vorschlag, heut abend das Haus des Rektors zu besuchen. Dies war der einzige Ort, wo er sicher war, nichts von der widerwärtigen Geschichte zu hören, und er war scharfsinnig genug, zu ahnen, daß auch dem Prinzen dieser Besuch am ersten wohltun werde.

Ilse wußte alles. Unser Student, der wider Willen die Elster gespielt hatte, welche Unheil stiftend zwischen den Parteien auf und ab lief, umkreiste immer noch ängstlich das Haus des Rektors, er wagte an einem Studentenabend bei Frau Penelope zurückzubleiben, als sich die Anwesenden in das Zimmer des Rektors zogen, erzählte der Fragenden den ganzen Streit, schilderte die gefährliche Lage des Prinzen und flehte, Sr. Magnifizenz nichts von dem Vorfall zu sagen. Als heut der Prinz eintrat, war unter den Anwesenden eine Spannung bemerkbar, welche solchen, die in gefährliche Geschäfte verstrickt sind, die Unbefangenheit nicht zu erhöhen pflegt. Der Kammerherr war liebenswürdiger als je und erzählte hübsche Hofgeschichten, aber er machte keine Wirkung. Der Prinz saß verlegen auf seinem Platz neben Frau Ilse, auch aus ihren freundlichen Worten fühlte er den Ernst, er sah, wie ihr Blick traurig auf ihm ruhte und sich schnell abwandte, als er die Augen aufschlug. Endlich begann er mit unsicherer Stimme: »Sie haben mir früher die Köpfe berühmter Männer gezeigt, darf ich Sie bitten, mir den Band noch einmal zu weisen?«

Ilse sah ihn an und stand auf. Der Prinz folgte ihr wie neulich zu der Lampe des Nebenzimmers. Sie legte den Band vor ihn, er sah teilnahmslos darüber weg und begann endlich leise: »Mir lag nichts an den Köpfen, nur mit Ihnen allein zu sein. Ich bin hilflos und sehr unglücklich. Ich habe keinen Menschen auf Erden, der mir ehrlich rät, was ich tun soll. Ich habe einen Studenten gekränkt und bin schwer von ihm beleidigt. Jetzt soll ein anderer für mich den Streit ausfechten.«

»Arme Hoheit!« rief Ilse.

»Sprechen Sie nicht so zu mir, gnädige Frau, wie ein Weib das ansieht, sondern als ob Sie mein Freund wären. Daß ich Ihnen mit meiner Angst zur Last falle, macht mich in diesem Augenblicke vor mir selbst verächtlich, und ich fürchte, ich werde es auch Ihnen sein.« Er sah finster vor sich nieder.

Ilse sprach leise: »Ich kann nur reden, wie mir ums Herz ist, haben Hoheit ein Unrecht getan, so bitten Sie es ab, sind Sie beleidigt worden, so verzeihen Sie.«

Der Prinz schüttelte das Haupt. »Das würde nichts nutzen, er würde mich aufs neue beschimpfen vor allen andern und vor mir selbst. Nicht darum frage ich Sie. Nur eines will ich wissen, darf ich einen andern meinen Streit auskämpfen lassen, weil ich ein Prinz bin? Alle sagen mir, ich müßte es tun, ich habe zu keinem Zutrauen, nur zu Ihnen.«

Ilse stieg das Blut in das Antlitz: »Ew. Hoheit legen eine Verantwortung auf meine Seele, vor der ich erschrecke.«

»Sie haben einmal zu mir die Wahrheit gesprochen,« sagte der Prinz finster, »wie noch niemals ein Mensch auf Erden, und jedes Wort aus Ihrem Munde war gut und herzlich. Und deshalb fordere ich auch, daß Sie mir heut Ihre wahre Meinung sagen.«

»Dann also,« rief Ilse, ihn groß ansehend, und das alte Sachsenblut wallte in ihr auf, »wenn Ew. Hoheit Streit angefangen, so müssen Sie ihn auch selbst als Mann zu Ende führen, und Sie selbst müssen dafür sorgen, daß es in ehrenvoller Weise geschehe. Ew. Hoheit dürfen nicht zugeben, daß ein anderer um Ihres Unrechts willen Ihrem Gegner trotzt und seine gesunden Glieder in Gefahr setzt. Denn einen Fremden zu Unrecht verleiten und in Gefahr stürzen und dabei ruhig zusehen, das ist das schrecklichste von allem.«

Der Prinz versetzte kleinlaut: »Er ist mutig und dem Gegner überlegen.«

»Und wie dürfen Ew. Hoheit Ihren Gegner einer fremden Kraft preisgeben, die stärker ist als die Ihre? Wenn Ihr Stellvertreter gewinnt oder verliert, Sie werden ihm mehr schuldig, als man einem Fremden schuldig sein darf, und durch Ihr ganzes Leben wird Sie der Gedanke drücken, daß er Mut bewiesen hat, wo Sie ihn nicht gezeigt haben.«

Der Prinz wurde bleich und schwieg. »Ich fühle ebenso,« sagte er endlich.

»Furchtbar ist alles, was auf diesem Wege liegt,« fuhr Ilse mit gerungenen Händen fort, »Frevel hier und dort und blutdürstige Rache. Aber ist Ihnen unmöglich, ein Unrecht zu verhindern, so besteht doch Ihre Pflicht zu sorgen, daß es nicht größer werde und daß seine Folgen nicht auf anderer Haupt sinken, nur aus das Ihre. Und alles in mir ruft: Sie selbst müssen tun, wo nicht, was recht ist, doch was am wenigsten unrecht ist.«

Der Prinz nickte mit dem Kopfe und saß wieder schweigend. »Ich darf keinem von meiner Umgebung etwas sagen,« begann er endlich, »am wenigsten dem dort,« er wies auf den Kammerherrn. »Wenn ich verhindern soll, daß ein anderer an meiner Statt den Streit ausficht, so muß das in den nächsten Stunden geschehen. Wissen Sie jemand, der mir dabei helfen würde?«

»Meinem Mann verbietet sein Amt, in dieser Sache etwas für Ew. Hoheit zu tun. Der Doktor aber.«

Der Prinz schüttelte den Kopf.

»Unser Student,« rief Ilse, »er ist Ew. Hoheit aufrichtig ergeben, er ist ein Landsmann und fühlt großen Kummer über die Sache.«

Der Prinz überlegte. »Wollen Sie mir Ihren Diener für einige Stunden dieses Abends erlauben, sobald Sie seiner nicht mehr bedürfen?«

Ilse rief Gabriel, der am Tische beschäftigt war, in das Zimmer und sagte zu ihm: »Tun Sie, wie Se. Hoheit aufträgt.« Der Prinz trat an das Fenster und sprach leise mit dem Diener.

»Verlassen sich Ew. Hoheit ganz auf mich,« sagte Gabriel und ging zu seinen Tassen zurück.

Der Prinz trat zu Frau Ilse, welche unbeweglich dasaß und auf das Buch starrte. »Ich habe die Köpfe angesehen,« sagte er ruhiger als er noch den Abend gewesen war, »und ich habe gefunden, was ich suchte. Ich danke Ihnen.«

Ilse erhob sich und kehrte mit ihm zur Gesellschaft zurück.

Die Gäste hatten sich entfernt und Ilse saß allein in ihrem Zimmer. Was hatte sie getan! Vertraute eines Mannes bei blutigem Beginnen, geheime Beraterin bei gesetzloser Tat! Sie, ein Weib, war Verbündete eines Fremden, sie, die Gattin des Mannes, der jetzt ein Wächter des Gesetzes sein sollte, war Helferin bei einem Verbrechen geworden. Welcher finstere Geist hatte ihr die Sinne betört, als sie vertraulich der Rede des andern antwortete und flüsternd mit ihm verhandelte, was sie dem eigenen Manne nicht zu gestehen wagte?

Nein, der sie verlockt hatte, ein Fremder war er nicht. Seit ihrer Kindheit hatte sie mit innigem Anteil von ihm gehört, er war der künftige Gebieter ihrer Heimat, einst Herr über Leben und Tod auf dem Felsen, von dem sie hinabgestiegen war in die Fremde. Seit er zuerst vor sie trat, so rührend in seiner freudelosen Jugend, in der weichen Hilflosigkeit seines Standes, hatte sie zärtlich um ihn gesorgt, und was er ihr erwiesen hatte seit demselben Tage, war ein liebenswertes, lauteres Gemüt. Jetzt faßte sie bebende Angst auch um ihn. Sie hatte ihn in sein Schicksal getrieben, sie trug die Schuld eines Beginnens, das seinem Stande für ungeheuer galt. Wenn ihm zum Unheil wurde, was sie geraten, wenn der Gegner den armen schwachen Jüngling bis zum Tode traf, wie wollte sie das ertragen in ihrem Gewissen?

Sie sprang auf und rang wider sich die Hände. Der Gatte rief ihren Namen, sie fuhr zusammen, denn sie fühlte sich in einer Schuld gegen ihn. Und wieder fragte sie bange: »Welcher böse Geist hat mich verwirrt? Bin ich nicht mehr, die ich war? Wehe mir, ich habe mich nicht gehalten wie einer Christin geziemt, nicht als eine bescheidene Frau, die den Schrein ihrer Seele öffnen soll nur vor einem. Dennoch aber,« rief sie, ihr Haupt erhebend, »wenn er wieder vor mir stünde und noch einmal früge, ob er als Mann handeln soll oder als ein Schwächling, ich würde ihm wieder dasselbe sagen und immer wieder. Der Herr schütze mich!« –

Als Krüger in das Schlafzimmer trat, den Prinzen auszukleiden, gab ihm dieser in kurzem Ton Aufträge, welche den Lakaien höchlich befremdeten. Da er aber dadurch seine vertraute Stellung befestigt sah, versprach er Gehorsam und Schweigen. Er löschte die Lampen und ging auf seinen Posten. Nach einer Stunde führte er den Studenten, welcher von Gabriel abgeliefert wurde, durch eine Seitentür in das Schlafzimmer des Prinzen. Dort fand eine leise Unterredung statt, deren Folge war, daß der Student in großer Aufregung aus dem Hause eilte und dem harrenden Gabriel den Auftrag gab, zu früher Morgenstunde eine Droschke an die nächste Straßenecke zu bestellen.

In dem Saale eines abgelegenen Kaffeehauses vor der Stadt war beim ersten Morgenlicht eine ernste Gesellschaft versammelt, die Blüte der Korps und Verbindungen, erprobte Gesellen von verwegenem Aussehen, für jedes Studentenherz ein gewaltiger Anblick; heut sollten nacheinander mehrere von den vielen Blutverträgen jenes Abends ausgeführt werden. Das erste Geschäft sollte der Studentenehre des Erbprinzen gelten. Die Kämpfer waren ausgezogen und in ihre Fechtertracht gekleidet; jeder stand mit seinem Sekundanten und Zeugen in einer Ecke des Saales, der Doktor – es war der alte Teutone von der Geige – hatte in einem Winkel sein Verbandszeug ausgebreitet und sah mit grimmigem Behagen auf die bevorstehende Arbeit, welche ihm neue lehrreiche Kuren versprach. Aber die Arminen waren aufsässig, noch einmal traten ihre Sekundanten vor den Unparteiischen und erhoben Beschwerde, daß der Prinz nicht gegenwärtig sei, um wenigstens durch seine Anwesenheit den Vertreter zu bestätigen. Sie forderten deshalb, daß der bevorstehende Gang nicht für ihn gerechnet werde, sondern als persönlicher Kampf der beiden Studenten, welche miteinander in mehrfache zarte Beziehungen getreten waren. Da die Markomannen kein gutes Gewissen hatten, denn sie hatten bei den Verhandlungen diesen Punkt zweideutig zu umgehen gewußt, machten sie jetzt den Vorschlag, daß der Prinz nachträglich mit dem Arminen oder dessen Sekundanten am dritten Ort zusammenkommen sollte, damit zwischen beiden die gebräuchliche Versöhnung stattfinde.

Noch wurde darum gehandelt, mit Erbitterung, aber in kurzen Worten, wie der Zwang dieser Stunde gebot, da pochte der Fuchs, welcher die Wache an der Treppe hatte – es war ein junger Armine –, zweimal an die Tür. Alle standen unbeweglich. Nur die Sekundanten rafften die Schläger zusammen und warfen sie in eine finstere Kammer, und unser Student, der als Zeuge seinem Stammgenossen noch seidene Stränge über die Pulsadern der Hand legte, sprang schnell an die Tür und öffnete. Eine kleine Gestalt im Mantel und runden Hut trat herein, es war der Erbprinz. Er nahm den Hut ab, sein Gesicht sah etwas bleicher als gewöhnlich, aber er begann mit ruhiger Haltung: »Ich bin heimlich hergekommen; ich bitte die Anwesenden, mir zu erlauben, daß ich mir selbst Genugtuung hole, und ich bitte Sie, Nachsicht mit mir zu haben, wenn ich mich in dem Brauch ungeübt zeige, denn es ist das erstemal, daß ich mich versuche.«

Es entstand eine Stille, so tief, daß man das leise Schwirren des Rapiers hörte, welches in eine Ecke geschleudert war, alle Anwesenden empfanden, daß dies ein wackeres Tun war. Nur Beppo, der Markomanne, stand bestürzt und begann: »Schon deine Gegenwart genügt, die letzten Schwierigkeiten zu beseitigen, ich bestehe darauf, daß nicht umgeworfen wird, was beschlossen ist,« und leiser fügte er hinzu: »Ich beschwöre Ew. Hoheit, nicht das Unnötige zu tun, es ladet uns allen eine Verantwortung auf, die wir nicht übernehmen dürfen.«

Der Prinz erwiderte fest: »Du hast dein Versprechen erfüllt, ich werde dir für den Willen ebenso dankbar sein als für die Tat. – Aber ich bin entschlossen.« Er zog seinen Rock aus und sagte: »Legt mir die Binden an.«

Der Sekundant des Arminen wandte sich zum Unparteiischen. »Ich bitte, den Gegner zur Eile zu mahnen, wir sind nicht hier, um Artigkeiten zu wechseln; will sich der Prinz selbst Genugtuung holen, wir sind bereit.« Die Markomannen rüsteten den Prinzen, und man darf den tapfern Gesellen das Zeugnis nicht versagen, sie taten es mit so inniger Ehrerbietung und ängstlicher Sorgfalt, als ob sie in der Tat Krieger des Volksstammes wären, dessen Namen sie trugen, und ihr junges Königskind zum tödlichen Einzelkampfe stellen sollten.

Der Prinz trat auf den Kreidestrich, seinem Sekundanten, einem harten Balafré zitterte die Waffe in der Hand, als er sich neben ihm auslegte. »Gebunden – Los!« Die Klingen sausten in der Luft. Der Prinz hielt sich nicht schlecht, eine lange Gewöhnung, sich vorsichtig zu beherrschen, kam ihm zugute, er vermied, gefährliche Blößen zu geben, und sein Sekundant zog sich eine herbe Warnung des Unparteiischen zu, weil er ohne Rücksicht auf seine eigenen Glieder im Bereich des feindlichen Stahles lag. Der Armine war an Kraft und Kunst weit überlegen, aber er gestand später seinen nächsten Freunden, es sei ihm doch störend gewesen, das Fürstenkind leibhaftig im Bereich seines Schlägers zu sehen. Nach dem vierten Gange strömte das Blut von Ulfs breiter Backe auf das Hemd. Sein Sekundant forderte Fortsetzung des Kampfes, der Unparteiische erklärte den Streit für beendet. Der Prinz stand still auf seinem Platze, jetzt entfiel der Schläger seiner Hand, und ein leises Zittern bewegte die Finger, aber sein Mund lächelte, und es war ein guter Ausdruck in den frohen Zügen. Ein Knabe hatte durch die ernste Viertelstunde das Selbstgefühl eines Mannes gewonnen. Bevor der Prinz sich zu seinem Gegner wandte, fiel er dem Markomannen um den Hals und sagte: »Jetzt kann ich dir von Herzen danken.« Der Unparteiische führte ihn zum Gegner, der unwillig vor dem Doktor stand, und doch auch ein Lächeln nicht unterdrücken konnte, das ihm weh genug tat, und beide reichten einander die Hände. Nun traten auch die Arminen grüßend zu dem Prinzen, während der Unparteiische in den Saal rief: »Zweiter Fall.«

Aber der Prinz, der seinen Mantel wieder umgetan hatte, ging zu dem Leiter des Zweikampfes und begann: »Ich kann nicht fortgehen, ohne eine große Bitte auszusprechen. Ich bin unglücklicherweise die Veranlassung des peinlichen Vorfalles gewesen, welcher jetzt die Studentenschaft entzweit, ich weiß wohl, daß ich gar kein Recht habe, hier einen Wunsch zu äußern, aber es wäre mir eine freudige Erinnerung für immer, wenn ich dazu beitragen könnte, daß Versöhnung und Friede beschlossen würde.«

Von seinen Markomannen hätte er in diesem Augenblick das Schwerste fordern dürfen, aber auch die andern standen unter dem Eindruck eines ungewöhnlichen Erlebnisses. Ein beifälliges Murmeln ging durch den Saal, sogar der Unparteiische rief mit lauter Stimme: »Der Prinz hat ein gutes Wort gesprochen.« Die düstern Blicke wurden nicht beachtet, die Sekundanten und Senioren berieten in der Mitte des Saales, das Ergebnis war, daß die schwebenden Forderungen zunächst zwischen den Anwesenden ausgeglichen und eine allgemeine Versöhnung eingeleitet wurde.

Der Prinz verließ, von den Markomannen umdrängt, das Haus und sprang in den Wagen, Krüger öffnete ihm die Tür des Schlafzimmers. Der Kammerherr war über die lange Ruhe seines jungen Herrn gerade an diesem Morgen sehr verwundert; als er nach der Meldung des Kammerlakaien zum Frühstück eintrat, fand er seinen Prinzen behaglich am Tisch sitzen. Nachdem Krüger hinausgegangen war, begann der Prinz: »Das Duell ist abgemacht, Weidegg, ich habe mich selbst geschlagen.« Der Kammerherr stand erschrocken auf. »Ich sage Ihnen das, weil es Ihnen doch kein Geheimnis bleiben würde. Ich hoffe, der Streit unter den Studenten wird damit abgemacht sein. Sprechen Sie mir nichts dagegen und regen Sie sich selbst nicht auf, ich habe getan, was ich für recht hielt, oder doch für das kleinste Unrecht, und ich bin froher als ich seit langer Zeit war.«

Die Häupter der Markomannen hatten von den übrigen Anwesenden das Wort erbeten, daß die einzelnen Vorgänge dieses Morgens nicht verbreitet werden sollten, und man muß annehmen, daß jedermann sein Wort gehalten habe. Dennoch flog durch Universität und Stadt blitzschnell die Kunde, daß der Prinz selbst durch wackeres Verhalten die Händel ausgeglichen habe. Und der Kammerherr erkannte aus frohen Andeutungen der Markomannen und aus den freundlichen Grüßen, welche sein junger Herr auf der Straße erhielt, noch mehr aber aus der veränderten Haltung des Prinzen selbst, daß der heimliche Zweikampf doch eine gute Seite gehabt hatte, und das versöhnte ihn ein wenig mit dem ärgerlichen Ergebnis.

Als der Prinz einige Zeit darauf das Haus des Rektors betrat, wurde er in das Arbeitszimmer geführt und Werner begrüßte ihn lächelnd. »Ich war genötigt, meiner Regierung über die letzten Vorfälle zu berichten, und, gemäß der übereinstimmenden Aussage der vorgeladenen Studenten, beizufügen, daß Ew. Hoheit Dazwischentreten wesentlich dazu beigetragen hat, den Frieden wieder herzustellen. Mir ist der Auftrag geworden, Ihnen dafür warme Anerkennung der akademischen Behörde auszusprechen. Persönlich erlaube ich mir, dem Wunsch Worte zu geben, daß alles, was Ew. Hoheit in diesen Tagen erlebt, Ihnen immer eine angenehme und fruchtbare Erinnerung sein möge.«

Als der Prinz sich vor Frau Ilse verneigte, sagte er leise: »Es ist alles gut gegangen, ich danke.« Ilse sah stolz auf ihren jungen Herrn, und doch war die bange Unsicherheit der letzten Tage nicht ganz von ihr genommen, sie war dem Prinzen gegenüber stiller als gewöhnlich.


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