Gustav Freytag
Die verlorene Handschrift
Gustav Freytag

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Achtes Kapitel

Alte Bekannte

Seit jener Unterredung über römische Kaiser hatte sich der Fürst durch einige Tage seinem Hof entzogen. Er war krank. Seine nervöse Aufregung war, wie der Leibarzt erklärte, die gewöhnliche Folge einer Verkältung. Nur wenige Bevorzugte erhielten in diesen Tagen Zutritt – unter ihnen auch der Magister Knips –, sie hatten keine Veranlassung, sich ihrer vertrauten Stellung zu freuen, denn mit dem hohen Kranken war schweres Auskommen.

Heut saß der Fürst in seinem Arbeitszimmer, vor ihm stand ein älterer Beamter mit schlauem Gesicht, welcher die Tagesereignisse der Residenz berichtete, Urteile, die an öffentlichen Orten über den Fürsten und das hohe Haus gesummt hatten, kleine skandalöse Anekdoten aus Familien, aber auch Beobachtungen, welche im fürstlichen Schloß gemacht waren, wohin die Prinzessin am letzten Tage ausgefahren sei und wen sie bei sich gesehen habe. »Prinz Viktor war von drei bis vier Uhr bei der Baronin Hallstein, die er jetzt täglich besucht, am Abend mit Offizieren seines früheren Regiments zusammen, er ist erst gegen Morgen zurückgekehrt. Der Diener hatte Befehl, ihn nicht zu erwarten.«

»Wie war's im Pavillon?« fragte der Fürst.

»Nach dem Bericht des Lakaien kein Besuch aus der Stadt, auch keine Briefe, alles wie gewöhnlich. Als die Fremden am Nachmittag vor der Tür saßen, sprach die Frau von einer Reise in die Schweiz, der Mann entgegnete, daß davon nicht die Rede sein könne, bevor er nicht hier zu glücklichem Ende gekommen sei. Darauf verstimmtes Schweigen. Am Abend waren beide im Theater.«

Der Fürst nickte und verabschiedete den Beamten. Als er allein saß, rückte er einen Stuhl an die Wand und lauschte auf den Ton eines Glöckchens, welcher kaum hörbar aus der Tiefe heraufzitterte; schnell öffnete er die Tür einer Wandnische und nahm die Papiere heraus, welche ein vertrauter Sekretär durch eine Röhre in der Wand aus dem Unterstock heraufbefördert hatte. Es waren Schreiben von verschiedenen Händen, er durchflog schnell den Inhalt, behielt endlich ein Bündel Kinderbriefe in der Hand. Wieder lächelte er. »Also der große Ball zum Aufblasen hat bereits ein Loch.« Die Miene wurde ernst. »Ein echter Bauer, ihm fehlt jede Empfindung für die Ehre, die Stulpstiefel eines Prinzen auf seinen Beeten zu sehen.« Er nahm einen andern Brief. »Der Erbprinz an seine Schwester. Es ist der erste Brief des frommen Johannes aus Patmos, nichtssagend, als wäre er für mich geschrieben. Das mag wohl sein. Der Inhalt ist dürftig und kalt, aber der ihn geschrieben, ist ein Gentleman. Er drückt den Wunsch aus, auch die Schwester möge die schöne Zeit auf dem Lande verleben. Wir sind darin einer Meinung,« setzte er in guter Laune hinzu, »Blumen pflücken und mit Gelehrten über die Tugend römischer Damen sprechen. Dieser Wunsch soll allen Teilen erfüllt werden.« Er legte die Briefe in die Nische zurück und drückte mit dem Fuß eine Feder am Boden, leise rauschte es in der Wand, die Sendung schwebte hinab.

Der Fürst erhob sich von seinem Stuhle und schritt durch das Zimmer. »Meine Gedanken fahren ruhelos um diesen Mann. Ich habe ihn zuvorkommend aufgenommen, ich habe sogar seine verrückten Hoffnungen mit größter Aufmerksamkeit behandelt, und mir begegnet, daß ein unpraktischer Träumer mich blasphemiert. Weshalb dieser tückische Angriff auf mich? Er tat ihn mit dem boshaften Scharfsinn eines Kranken, der besser erkennt als die Gesunden, wo es einem andern fehlt. Was er schwatzt, war halb leere Reflexion und halb blöde Schlauheit eines Toren, der auch den Wurm in der Hirnschale mit sich herumträgt. Gleichviel, wir kennen einander wie der Augur den Genossen. Zwischen uns ist ein Familienhaß aufgebrannt, wie nur Verwandte gegeneinander fühlen, ein dauerhafter treuherziger Haß, der sich hinter Lächeln und artigem Beugen des Kopfes verbirgt. Streich um Streich, mein römischer Vetter, du suchst eine Handschrift, die bei mir verborgen liegt, ich aber etwas anderes, was du mir vorenthältst.«

Er sank in den Sessel zurück und sah scheu nach der Tür. Dann fuhr er mit der Hand in einen Stoß Bücher und zog eine Übersetzung des Tacitus heraus. Mit dem Finger tippte er auf das Buch. »Der dies schrieb, war auch krank. Er spioniert unablässig um die Seelen seiner Herren; ihre Bilder füllen ihm die Phantasie so sehr, daß ihm das römische Volk und die Millionen anderer Menschen unbedeutend geworden sind, er beargwöhnt jeden Schritt seiner Gebieter und er vermöchte sie doch nicht zu entbehren, wie seine Zeit sie nicht entbehren konnte. Er starrt auf sie wie auf Sonnen, über deren Verfinsterung er grübelt, und die auch ihn., dem kleinen Planeten, sein Licht geben. Schon zweifelt er an einer vernünftigen Ordnung der Welt, das ist jedem Menschenhirn der Anfang vom Ende. Aber er hat noch Witz genug, einzusehen, daß seine Herren erkrankt sind durch die Erbärmlichkeit von seinesgleichen, und seine beste Politik ist die des alten Obersthofmeisters, mit stummer Verbeugung zu ertragen.«

Er schlug die Blätter auf. »Nur einer, den er in sein Buch gesperrt hat,« begann er wieder, »war ein Mann, von dem zu lesen beweglich ist. Das war die finstere Majestät des Tiberius. Der kannte das Gesindel und mißhandelte es, bis die elenden Sklaven zuletzt auch ihn unter die Irren steckten. Weißt du, Professor Tacitus, weshalb der große Kaiser zu einem schwachen Narren wurde? Niemand weiß es, niemand auf Erden als ich und meinesgleichen. Er wurde wahnsinnig, weil er nicht aufhören konnte, ein fühlender Mensch zu sein. Viele verachtete er und viele haßte er, und doch konnte er das kindliche Gefühl nicht missen, zu lieben und zu vertrauen. An diesem Zipfel seines irdischen Lebens faßte ihn ein gemeiner Bursch, der ihm einmal persönliche Aufopferung gezeigt, und zog den starken Geist zu sich herab in den Schmutz. Eine armselige Schwäche des Herzens hat den harten Politiker des kaiserlichen Roms zum Toren gemacht. Uns alle verderben die weichen Gefühle, welche in einsamer Stunde aufsteigen, untilgbar ist dies Verlangen nach reinem Herzen und treuem Gemüt, unsterblich die Sehnsucht nach den idealen Zuständen des Menschen, welche der Dichter schildert und der Pedant glaubt.«

Er las mit halblauter Stimme eine Stelle: »So schreibt der römische Kaiser seinem Senat: Die Götter und Göttinnen sollen mich ärger strafen, als ich euch täglich gestraft fühle, wenn ich weiß, was ich euch, versammelte Väter, schreiben soll, oder wie ich es schreiben soll, oder was ich euch in diesem Augenblicke durchaus nicht schreiben darf.«

Er schlug auf das Buch. »Der hat's gefühlt. Den Brief könnte noch mancher andere schreiben und er könnte weinen, daß er so schreiben muß.« Er seufzte tief, der Kopf sank ihm in die Hände und auf den Tisch.

An der Tür regte sich's leise: der Fürst fuhr in die Höhe. Der Kammerdiener meldete: »Hofmarschall von Bergau.«

Der Hofmarschall trat ein. »Die Frau Prinzessin fragt an, zu welcher Stunde sie Ew. Hoheit Lebewohl sagen darf.«

»Lebewohl?« fragte der Fürst, sich besinnend. »Weshalb?«

»Ew. Hoheit haben anzuordnen geruht, daß die Frau Prinzessin heut auf einige Tage nach ihrem Sommerschloß abreist.«

»In der Tat,« versetzte der Fürst. »Mir ist heut recht wohl, lieber Bergau, ich wünsche mit der Prinzessin beim Frühstück zusammenzutreffen. Ist auch Ihnen angenehm, daß Sie dort den Dienst leiten?« fragte er freundlich.

»Ich bin meinem gnädigsten Herrn dafür sehr dankbar,« erwiderte aufrichtig der Hofmarschall.

»Welche Dame hat die Prinzessin zur Begleitung gewählt?«

»Da Hoheit die Wahl freigestellt haben, ist Fräulein Gotlinde bestimmte

»Ich bin damit einverstanden,« sagte der Fürst gnädig. »Lassen Sie die gute Gotlinde zum Frühstück laden und stellen Sie sich selbst dabei ein, damit ich Sie alle vor der Abreise noch einmal um mich sehe. Noch eins. Herr Werner wird Ihnen nachfolgen, er wünscht für seine gelehrten Zwecke Gerät und Räume des Schlosses zu durchsuchen. Seien Sie ihm in jeder Weise behilflich und lassen Sie es an keiner Aufmerksamkeit fehlen. Ich habe dabei einen vertraulichen Auftrag für Sie.«

Der Hofmarschall machte eine klägliche Miene, welche deutlich protestierte.

»Ich wünsche diesen bedeutenden Mann ganz für uns zu gewinnen,« fuhr der Fürst fort. »Sondieren Sie, welche äußere Stellung oder Auszeichnung ihm willkommen wäre. Ich bemerke, daß mir viel daran liegt, ihn festzuhalten.«

Der Hofmarschall antwortete bekümmert: »Ew. Hoheit beteure ich, daß ich das hohe Vertrauen ehrfurchtsvoll zu schätzen weiß, und doch konsterniert mich dieser Auftrag. Denn er setzt mich wieder in Gefahr, den Unwillen meines gnädigen Herrn zu erregen. Mir wurde hinreichende Gelegenheit, zu bemerken, daß bei diesen Leuten auf ein dankbares Entgegenkommen nicht zu rechnen ist.«

»Sie müssen nichts bieten, nur aus ihm einen Wunsch herauslocken,« versetzte der Fürst trocken.

»Wenn dieser Wunsch aber in das Maßlose hinausschweifen sollte?« fragte der Hofmarschall unsicher.

»So hüten Sie sich zu widersprechen, überlassen Sie mir die Entscheidung, ob ich ihn für maßlos halte. Senden Sie mir sofort Nachricht.« Der Fürst winkte Entlassung, beobachtete scharf Verbeugung und Abtreten des Hofmarschalls und sah ihm kopfschüttelnd nach. »Er ist noch nicht alt und schon trifft ihn der Fluch, er wird grotesk. Hier ist auch ein Rätsel menschlicher Natur für euch, ihr Gelehrten, daß jemand, der alle Stunden Miene und Haltung beherrschen muß, der im täglichen Verkehr mit Anspruchsvollen Feingefühl und gute Form sehr nötig hat, daß gerade der in alten Tagen leicht dem Schicksal verfällt, diesen besten Erwerb seines Lebens zu verlieren, haltlos zu schwatzen und durch ungebändigten Egoismus lästig zu werden. Du weißt die Antwort darauf, Kaiser Tiberius, weshalb der Dienst bei dir, dem klugen Mann, deine Diener allmählich zu Zerrbildern ihres eigenen Wesens gemacht hat. Nun, sie haben sich an dir gerächt, es ist alles in der Ordnung. In dem Gefüge der Welt ist eine verzweifelte Vernunft; Jammer, o Jammer, daß wir beide geringe Veranlassung haben, uns darüber zu freuen.« Er stöhnte, und wieder verbarg er das Haupt in den Händen.

 

Kurz darauf hielt Ilse im Pavillon neue Briefe aus der Heimat in der Hand. »Wie kann vierblättriger Klee aus gut geschlossenem Briefe verlorengehen?« fragte sie den Gatten. »Luise hat an ihrem Geburtstage einige Kleeblätter gefunden und in dem vorletzten Briefe dir geschickt, damit du Glück haben solltest. Das Kind kommt in die Jahre, wo solches Spiel Freude macht. Der getrocknete Klee lag nicht in ihrem Briefe, und da sie flüchtig ist, schalt ich sie darum in meiner Antwort. Heute beteuert sie, ihn ganz zuletzt in das Kuvert gesteckt zu haben.«

»Er mag dir selbst beim Aufbrechen des Briefes herausgefallen sein,« tröstete der Professor.

»Der Vater ist nicht mit uns zufrieden,« fuhr Ilse bekümmert fort, »ihm ist nicht recht, daß der Prinz in seine Nähe gekommen ist, er fürchtet Störungen für die Wirtschaft und das Geschwätz der Leute. Worüber wollen die Leute schwatzen? Klara ist doch noch ein halbes Kind, und der Prinz wohnt ja gar nicht auf unserm Gute.«

»Alles ist grau auf der Erde,« klagte sie, »das Licht der lieben Sonne fehlt überall. Auch hier die Verstörung, der Fürst krank, unser Prinz verschwunden, wie vom Sturm weggefegt. Wie konnte der Prinz abreisen, ohne guten Tag, guten Weg zu sagen? Darüber kann ich mich nicht beruhigen. Denn das haben wir nicht um ihn verdient und nicht um seinen geschmeidigen Kammerherrn. Ich fürchte, er geht nicht gern auf das Land und er zürnt mir, Felix, weil ich einige Worte darüber gesagt. Wenn er unzufrieden ist, so wird er ganz schweigsam und gleichgültig sein, darauf kenne ich ihn, und darüber wird sich wieder mein Vater ärgern. Das kann nicht guttun, und mir liegt die Sache schwer auf dem Herzen.«

»Läßt dir dieser Kummer noch Raum für die Geschäfte anderer Leute,« begann der Professor fröhlich, »so gönne auch mir einigen Anteil. Ich meine, das einsame Schloß gefunden zu haben, das ich so lange suchte, aus dieser Chronik sehe ich, daß noch im vorigen Jahrhundert der Landsitz, nach welchem die Prinzessin abreist, mitten im Walde lag. Ich höre, in den entlegenen Mauern wird viel alter Hausrat aufbewahrt. Mir ist zumute, wie in meiner Kindheit am Vorabend meines Geburtstages. Ich habe dem Schicksal einen großen Wunschzettel geschrieben, und wenn ich an die Stunde denke, wo diese Einbescherung mir werden kann, fühle ich dieselbe pochende Erwartung, die dem Knaben den Schlaf verscheuchte. Es ist ja kindisch, Ilse,« fuhr er fort, seiner Frau die Hand reichend. »Ich weiß es, habe auch du Nachsicht mit mir, ich habe dich oft mit meinen Träumen gelangweilt, das wird jetzt ein Ende nehmen. Denn dort endet zwar nicht die Hoffnung, den Schatz einmal zu finden, wohl aber ist dort die letzte Stätte, wo ich ihn zu suchen Veranlassung habe.«

»Wie aber, Felix, wenn du das Buch wieder nicht findest?« fragte Ilse traurig und hielt seine Hand fest.

Die Stirne des Professors zog sich finster zusammen, er wandte sich kurz ab und sagte rauh: »Dann suche ich weiter. – Wäre doch Fritz gekommen.«

»Sollte er denn kommen?« fragte Ilse verwundert.

»Ich habe ihn darum ersucht,« versetzte der Gatte. »Er antwortete, daß die Geschäfte seines Vaters und sein Verhältnis mit Laura ihn noch zurückhalten. Auch für ihn scheint sich eine Krisis vorzubereiten. Er erhebt gegen das Verzeichnis, das ich hier fand, Bedenken, die ich für unbegründet halte.«

»O wäre er bei uns!« rief Ilse, »ich sehne mich nach einem befreundeten Gesicht wie ein Reisender, der tagelang durch öde Wildnis fährt.«

Der Professor wies zum Fenster hinaus. »Diese Wildnis sieht doch menschlich genug aus, und ein Besuch, den du dir forderst, fährt bereits vor das Haus.«

Ilse hörte das Rollen fremder Räder, welche unsichere Gleise in den fürstlichen Kies zogen. Ein Wagen hielt vor dem Pavillon, der ländliche Kutscher klatschte mit der Peitsche. Die Diener eilten vor die Tür, Gabriel knöpfte an der Lederdecke des Wagens, eine kleine Dame fuhr heraus, gab dem Lakaien ein Paket und Gabriel eine Schachtel und rief dem Kutscher zu, wegen des Anspannens nachzufragen. Eilig stieg sie die Treppe herauf und verschlang auf dem Wege die Malerei und die Gipsschnörkel mit ihren Augen.

»Das ist große Freude, Frau Oberamtmann,« rief Ilse erfreut an der Stubentür. Der Professor eilte der Fremden entgegen und bot ihr den Arm.

»Meine teure Ilse,« rief die kleine Dame, »verehrter Herr Professor, da bin ich! Denn Rollmaus hat für seine Geschwisterkinder die Aufsicht über ein Gut in der Nähe erhalten, und da er in diese Gegend reisen mußte, um zum Rechten zu sehen und nur kurze Zeit verweilen wird, so dachte ich wegen der Annehmlichkeit des Wiedersehens Ihnen beiden einen Besuch zu machen. Der Vater grüßt und die Geschwister, von denen Klara sich ausbildet wie Ihr jüngerer Zwilling.«

»Herein, herein,« rief Ilse. »Sie selbst sind der beste Gruß aus der Heimat.«

Die Rollmaus blieb an der Tür stehen. »Ich bitte nur einen Augenblick,« rief sie, auf die Schachtel zeigend.

»Sie kommen zu alten Freunden.«

»Ich bitte dennoch, damit ich diesem dekolletierten Hause keine Schande mache.«

Die Frau Oberamtmann wurde in ein Nebenzimmer geführt, die Schachtel geöffnet, und nachdem die gute Haube aufgesetzt und weiße Randverzierungen um Hals und Arme gesteckt waren, flatterte die gelehrte Frau mit Ilse in die Wohnstube. »Prachtvoll,« rief sie und sah bewundernd nach der Decke, wo der Liebesgott ihr sein Mohnbüschel entgegenstreckte. »Man erkennt an dem Flitzbogen auf der Stelle, daß es ein Kupido ist, welchen man sogar öfter auf Pfefferkuchenbildern sieht, wo er zwischen zwei brennenden Herzen steht. Verehrter Herr Professor, das Glück, uns wiederzusehen und in solcher Umgebung, ist wirklich sehr groß. Ich habe mich lange auf diese Stunde gefreut, wobei ich Ihnen zugleich meinen Dank sage für die letzten übersandten Werke, in denen ich bis zur Reformation vorgedrungen bin. Rollmaus wäre gern mitgekommen, aber die Brennerei macht ihm zu tun wegen der alten Blase, welche dort herausgenommen werden muß.«

Bei dieser Begrüßung fuhren die Augen der Frau Oberamtmann neugierig in alle Winkel der Stube. »Wer hätte gedacht, liebe Ilse, daß Sie und der Herr Professor mit unseren fürstlichen Personen in ein freundschaftliches Verhältnis kommen würden? Ich muß Ihnen gestehen, daß ich mich bereits beim Herfahren nach dem fürstlichen Hof umgesehen habe, welcher aber wahrscheinlich auf der anderen Seite liegt, da ich hier nur Gartengewächse erblicke.«

»Es ist keine Wirtschaft bei dem Schloß,« erklärte Ilse, »nur der Stall ist geblieben und die große Küche.«

»Man spricht von sechs Köchen,« rief die Rollmaus, »welche alle vorzugsweise Mundköche sind, obgleich ich nicht weiß, für welchen andern Teil des menschlichen Körpers sonst noch gekocht werden soll. Aber die Originalitäten bei einem Hofe sind überhaupt sehr groß, wozu auch die Silberwäscherinnen gehören, von denen ich wirklich nicht glaube, daß sie ihre Pflicht tun; wenigstens ist das kleine Kurant in unserm Lande sehr schmutzig, und es wäre ein großes Scheuerfest dafür notwendig. Man sagt, daß der junge Prinz jetzt auf die Oberförsterei kommt; unser Oberförster ist in voller Okkupation, er flucht über die Einquartierung und hat sich neue Uniform bestellt.« Sie wurde ernsthaft, fiel in Gedanken, und es entstand eine Pause, aus welcher sie sich dadurch zog, daß sie ihre Nasenspitze faßte, Ilse gutmütig ansah und dieser die Hand drückte. »Es scheint Regenwetter zu kommen,« fuhr sie kleinlaut fort, »und die Landwirte klagen, daß der Käfer im Frühjahr den Raps gefressen hat. Hier freilich ist's wie im Paradiese, obgleich ich hoffe, daß keine wilden Tiere herumspazieren und jetzt auch keine Zeit ist, wo man Äpfel mit Vergnügen vom Baume brechen kann. Dagegen hat sich hier in der Residenz etwas aufgetan, was sehr merkwürdig sein soll. Denn wie ich mit Rollmaus nach dem Gute kam, erzählte der Inspektor von einer Wahrsagerin, welche den Leuten dieser Stadt wunderbare Dinge prophezeit. Wissen Sie etwas Sicheres über ihre Qualität?«

»Wir haben wenig Bekannte,« antwortete Ilse, »Neuigkeiten erfahren wir nur aus den Blättern.«

»Mir wäre wirklich lieb zu hören, was an der Person ist. Denn ich habe in der letzten Zeit das Studium der Phrenologie angefangen und ich höre. lieber Herr Professor, daß auch diese Forschung von mehreren Seiten angefochten wird. Ich selbst bin darüber unsicher. Ich habe den Kopf von Rollmaus untersucht und bin erschrocken, wie sehr an seinen Ohren der Zerstörungstrieb entwickelt ist, während er doch bei jedem Tassenhenkel, den die Mädchen abbrechen, unzufrieden wird. Wiewohl ich wieder, lieber Herr Professor, auf Ihrer Stirn das Denkvermögen bestätigt finde. Die Buckel sind sehr groß, womit ich nicht sagen will, daß sie Ihnen schlecht stehen. Um aber wieder auf die Wahrsagerin zu kommen, so hat sie dem Inspektor gesagt, daß er verheiratet war, daß seine Frau gestorben ist und daß er zwei Kinder hat, und daß er noch eine Frau nehmen wird, welche ihm wieder einen Nachwuchs von zwei importieren wird. Und das ist alles richtig, denn er geht bereits auf Freiersfüßen. Nun frage ich Sie, woher kann die Person das wissen?«

»Vielleicht kennt sie den Inspektor,« versetzte der Professor, unter seinen Papieren aufräumend. »Ich rate nicht, ihrer Kunst zu vertrauen, und ich kann Ihnen auch das Studium der Phrenologie nicht empfehlen. Jetzt aber lassen Sie uns wissen, wie lange Sie bei uns bleiben, ich bin genötigt, in das Museum zu gehen und will Sie bei meiner Rückkehr wiederfinden.«

»Ich kann einige Stunden bleiben,« tröstete die Rollmaus, »ich habe drei Meilen zu fahren, aber die Wege hier sind besser als bei uns. Obgleich auch jetzt über unserer Chaussee gebaut wird, die Wegebauer karren schon bei der Stadt Rossau, denken Sie, liebe Ilse, die steinerne Brücke zwischen der Stadt und Ihrem Gute ist bereits abgebrochen, sie haben eine Notbrücke gezimmert. Also auf einige Stunden bitte ich Sie, mit mir in Ermangelung eines Besseren vorlieb zu nehmen.«

Der Professor entfernte sich, die Frauen sprachen vertraulich über die Familien der Heimat, wobei die Rollmaus sich wissenschaftlicher Untersuchungen nicht ganz begab, denn sie fuhr mitten in der Unterhaltung mit dem Finger an Ilses Schläfe und bat um Erlaubnis, ihren Scheitel zu befühlen, worauf sie erfreut sagte: »Es ist viel Ausrichtigkeit da, wie ich immer vorausgesetzt habe.« Dabei sah sie Ilse bedeutungsvoll an. Sie war redselig und herzlich, aber sie verriet eine Befangenheit, welche Ilse auf die ungewohnte Umgebung schob.

Nachdem die Frau Oberamtmann die Wohnung bewundert hatte, die Bilder beurteilt und den Stoff der Möbelüberzüge befühlt, wies Ilse auf das Sonnenlicht, welches aus den Regenwolken brach, und machte den Vorschlag, durch die Parkanlagen zu gehen. Erfreut stimmte die Frau Oberamtmann bei, sie wandelte mit festem Landschritt neben ihrer Führerin, und Ilse hatte viel zu tun, die Fragen der aufgeregten Dame zu beantworten. Dabei kamen sie in einen Teil der Anlagen, welcher in dieser Stunde den vornehmen Leuten der Residenz zur Promenade diente. »Welche Überraschung!« rief die Rollmaus plötzlich und faßte Ilses Arm. »Hochfürstliches Kostüm.« Bei einer Biegung des Weges wurde der Hut eines Lakaien sichtbar, die Prinzessin, begleitet von Fräulein Gotlinde und dem Prinzen Viktor, kam gerade auf sie zu. Unter ehrfurchtsvollen Grüßen der Spaziergänger näherten sich die Herrschaften auch, Ilse trat zur Seite und verneigte sich. Die Prinzessin blieb stehen. »Wir sind im Begriff, Sie aufzusuchen,« begann sie freundlich, »mein Bruder war zu schneller Abreise veranlaßt, er wird Ihrem Vater sagen, wie leid ihm tat, daß er Ihre Grüße nicht in das väterliche Haus mitnehmen konnte.« Ihre Augen streiften über die Frau Oberamtmann, welche sich mit beiden Händen auf ihren Schirm stützte und den Kopf vorbeugte, um keine Silbe von den Lippen der erlauchten Dame zu verlieren. Ilse nannte den Namen: »Eine treue Nachbarin aus der Gegend von Rossau, welche für einige Tage hier in der Nähe weilt.« Die Rollmaus tauchte tief herab und sagte fast bewußtlos vor Schreck: »Es ist nur drei Meilen von hier, in Krötendorf, obwohl mit gnädigster Erlaubnis nicht mehr Kröten daselbst wohnen, als an andern anständigen Orten.«

»Sie sind auf dem Spaziergange,« sprach die Prinzessin zu Ilse, »wollen Sie mich nicht ein Stück begleiten?« Sie winkte Ilse neben sich und setzte zwischen ihr und dem Hoffräulein den Weg fort, Prinz Viktor blieb zurück und gesellte sich zur Frau Oberamtmann.

»Also die Kröten werden auf Ihrem Gut nicht gemästet?« begann der Prinz die Unterhaltung.

»Nein, mein Gnädiger,« versetzte die Rollmaus, verlegen an ihrem Schirm nestelnd. »Ich weiß wirklich nicht, wie ich Sie durch eine Titulatur koordinieren soll.«

»Prinz Viktor,« erwiderte der junge Herr nachlässig.

»Ich bitte um Verzeihung, daß mir dieser ehrenvolle Name noch keine Befriedigung gewährt. Darf ich noch um die sonstige Titulatur bitten, welche bei Pfarrern durch Hochehrwürden ausgedrückt wird? Denn bei fürstlichen Personen anzustoßen, ist nicht erfreulich, und mir sind diese Adressen nicht geläufig.«

»Nennen Hochwohlgeboren mich Hoheit, so wird uns beiden recht geschehen.«

»Ganz wie Sie befehlen,« rief die Rollmaus erfreut.

»Sind Sie näher mit der Frau Professorin bekannt?«

»Seit ihrer Kindheit,« erklärte die Frau Oberamtmann, »ich war ihrer seligen Mutter befreundet und ich darf wohl sagen, ich habe Freude und Trauer mit unserer lieben Ilse geteilt, Prinz Viktor Hoheit kann ihr treues Herz unmöglich so gut kennen als unsereiner. Zuletzt ist sie durch die gelehrte Bekanntschaft in andere Atmosphäre gekommen, aber schon vor der Verlobung, als die Fackeln brannten und ihre Geschwister Fichtenäste trugen, war mir deutlich, daß daraus eine Partie werden mußte.«

»Gut,« sagte der Prinz, »wie lange bleiben Sie in unserer Nähe?«

»Nur bis Ende der Woche, denn die Wirtschaft geht bei Rollmaus jeder Residenz vor, was auch gar nicht zu verwundern ist, da er nicht Neigung zur Wissenschaft hat, welche mich beseelt. Wozu in der Stadt bessere Gelegenheit ist, obgleich man auch auf dem Lande seine Beobachtungen macht an Köpfen und andern Naturgegenständen.«

»Das Wetter ist unsicher, Ihr Wagen ist doch von allen Seiten geschlossen?« unterbrach sie der Prinz.

»Es ist eine Britschka mit ledernem Verdeck,« entgegnete die Rollmaus. »Wogegen ich offenherzig gestehen will, daß es mir bei diesem Besuche ein ganz unerwartetes Vergnügen ist, Hoheit neben mir zu sehen, denn ich habe schon von Ihnen allerlei gehört.«

»Ich werde Ihnen sehr dankbar sein,« bemerkte der Prinz lächelnd, »wenn Sie mir ganz freundschaftlich sagen, was Sie gehört haben. Ich habe bis jetzt geglaubt, daß mein Ruf noch lange nicht so arg ist, als er sein könnte.«

»Es mag jemand noch so edel sein, er entgeht der Nachrede nicht,« rief die Rollmaus eifrig. »Man spricht von Streichen. Ich fürchte, Hoheit werden mir verübeln, wenn ich diese Nichtswürdigkeiten in den Mund nehme.«

»Sprechen Sie nur etwas,« ermutigte der Prinz, »was es auch sei.«

»Man behauptet, daß Hoheit debuschieren, daß Hoheit als ein lustiger Vogel leben und noch anderes, was ich zu wiederholen mich scheue.«

»Nur heraus,« ermunterte der Prinz.

»Daß Hoheit andere Leute zum Narren haben.«

»Das tut weh,« bedauerte der Prinz. »Ist Ihr Kutscher ein beherzter Mann?«

»Er ist nur etwas grob, sogar gegen Rollmaus, der ihm vieles nachsieht.«

Glauben Sie mir, Frau Oberamtmann,« fuhr der Prinz fort, »es ist ein trauriges Geschäft, Prinz zu sein. Unruhe vom Morgen bis zum Abend. Jeder will haben, und keiner bringt etwas außer Rechnungen. Darüber geht die Heiterkeit verloren, man wird trübsinnig und schleicht durch die Büsche. Meine liebste Erholung ist am Abend ein friedliches Gespräch mit meiner guten alten Amme und Erzieherin, der verwitweten Cliquot, und eine kleine Patience, die ich mit meinen vier königlichen Freunden lege. Zuletzt zählt man die guten Werke zusammen, die man den Tag zustande gebracht hat, seufzt, daß ihrer so wenig sind, und sucht seinen Stiefelknecht. Wir sind die Opfer unseres Standes. Wenn ich die Frau Professorin um etwas beneide, so ist es ihr Diener Gabriel, ein zuverlässiger Mann, den ich auch Ihrem Wohlwollen empfehle.«

»Ich kenne ihn bereits,« fiel die Rollmaus freudig ein. »Wobei ich bekennen muß, daß die Selbstbiographie, welche Sie von sich geben, mit allem übereinstimmt, was ich bei Hoheit an dem Organismus des Kopfes entdecke, soweit nicht der Hut die Aussicht benimmt, was freilich sehr der Fall ist.«

»Ich wäre meiner Hirnschale dankbar,« brummte der Prinz, »wenn sie bei jedermann meinen Worten so leicht Glauben verschaffen wollte.«

»Es wird mir, solange ich lebe, sowohl Pläsier als Souvenir sein,« fuhr die Rollmaus mit einem schreitenden Knickse fort, »daß mir der Zufall diesen intimen Kommers mit Ew. Hoheit verschafft hat. Die Erinnerung daran will ich mir, wenn ich dies sagen darf, durch Ew. Hoheit Bild vexieren, von dem ich hoffe, daß es in den Handlungen zu haben sein wird. Man stellt sich davor, wenn man sich gerade im Singularis befindet, wie jetzt mein Sohn Karl vor seiner Grammatik, und denkt an die vergangenen Stunden.«

Prinz Viktor sah die Rollmaus mit einem Blicke innigen Wohlwollens an. »Ich werde nie dulden, daß Sie mein Porträt kaufen, ich bitte um die Erlaubnis, Ihnen ein Exemplar als Andenken zu übersenden. Es ist leider nicht so getroffen, wie ich wünsche. Der Maler hat mich stärker aufgefaßt, auch mit dem Anzug bin ich nicht ganz zufrieden, er sieht einem geistlichen Talar gar zu ähnlich. Indes bitte ich, den Überfluß freundlich hinwegzudenken. Hält Oberamtmann Rollmaus auf gute Pferde? Zieht er die Fohlen selbst?«

»Immer, Hoheit, er ist deswegen bei den Nachbarn berühmt.«

Der Prinz wandte sich in einem ganz neuen Interesse zu der kleinen Dame. »Könnte man vielleicht mit ihm ein Geschäft machen? Ich suche einige dauerhafte Reitpferde. Wie ist er beim Handel?« fragte er treuherzig.

»Er ist ein sehr guter Wirt,« versetzte die Rollmaus zögernd, und sah den Prinzen mit heimlichem Bedauern an. »In Pferden gilt er seinen Bekannten für sehr erfahren und – und wenn ich es sagen darf – für frottiert.«

»Was heißt das?« fragte der Prinz.

»Ich bitte um Vergebung,« rief die Rollmaus ängstlich, »es würde für mich als Gattin nicht wohlanständig sein, wenn ich das unangenehme Wort gerieben verwenden wollte.«

Der Prinz zog die Lippen zu einem leisen Hauch zusammen, welcher wie ein unterdrücktes Pfeifen klang. »Also er ist Hochwohlgeboren sehr unähnlich. Dann wird schwerlich etwas zu machen sein. Hat Frau Professorin nicht Lust, Sie auf einige Tage im Dorf der Kröten zu besuchen?«

»Es wäre uns die größte Freude,« rief die Rollmaus, »aber das Haus steht leer und ist nicht eingerichtet, wir müssen uns behelfen, auch die Küche ist kalt.«

»Also nur für den äußersten Notfall,« sagte der Prinz.

Unterdes schritt Ilse an der Seite der Prinzessin durch die Gruppen der grüßenden Städter, ihr war das Herz nicht so leicht als ihrer Frau Oberamtmann. Die Prinzessin sprach gütig zu ihr, aber über Gleichgültiges, wandte sich auch wohl nach der andern Seite zu ihrem Hoffräulein. Es war offenbar nicht der Wunsch, sich mit Ilse zu unterhalten, was die Aufforderung veranlaßt hatte, es war eine Schaustellung der Huld vor den Leuten, das empfand Ilse deutlich, sie fühlte die Absicht heraus, fragte sich in der Stille, weshalb das nötig sei, und ihr Stolz bäumte sich gegen eine Huld auf, die nicht vom Herzen kam. In dem belebtesten Teil der Promenade wurde Ilse noch eine Weile von der Prinzessin festgehalten. »Ich verlasse heut die Residenz,« sagte die Prinzessin, »und gehe für Tage oder Wochen auf das Land, vielleicht wird mir das Vergnügen, Sie dort zu sehen.« Auch Prinz Viktor rückte verbindlich an seinem Hut und sagte nichts als die Worte: »Die Luft wird schwül.«

Ilse grübelte über den kleinen Vorfall, als sie mit ihrer Begleiterin dem Pavillon zuging, sie antwortete zerstreut den begeisterten Reden der Frau Oberamtmann und sah nur mit halbem Blick auf die Spaziergänger, von denen jetzt viele auch vor ihr den Hut zogen.

Gabriel hatte der Frau Oberamtmann zu Ehren für Kaffee gesorgt und in dem abgeschlossenen Raume vor der Tür den Tisch gedeckt. Dort saßen die Frauen nieder, die Rollmaus sah entzückt auf blühende Azaleen, rühmte den Kuchen der Residenz und noch weit mehr die hohen Herrschaften, und plauderte in ihrer besten Laune fort, während Ilse ernsthaft vor sich niedersah. »Einige Fürstlichkeiten habe ich gesehen, jetzt hätte ich noch Lust zur Wahrsagerin. Es ist merkwürdig, liebe Ilse, daß meine schätzbare Verbindung mit dem Herrn Professor immer nach dem Ahnungsvermögen hinarbeitet. Als ich ihn zuerst sah, kam das Gespräch auf meine Jette, welche jetzt als Schenkwirtin recht dick wird, und heut wieder auf die Wahrsagerin. Es ist wirklich kein Vorwitz, wenn ich den Wunsch habe, diese Person zu befragen. Mir liegt nichts daran, meine Zukunft zu erfahren, da ich ohnedies genau weiß, wie alles geschehen wird. Denn wir leben gewissermaßen in natürlichen Verhältnissen; zuerst kommen die Kinder, dann wachsen sie groß, man wird älter, und wenn man nicht stirbt, bleibt man noch eine Weile am Leben. Das ist mir nie skrupulös gewesen, und ich wüßte nicht, was mir die Person darin Neues entdecken könnte. Es müßte denn ein Unglück sein, das uns passieren soll, und das will ich gar nicht prophezeit haben. Mir ist es vielleicht nur um die Belehrung, ob eine solche Person mehr weiß als wir andern. Denn in unserer Zeit wird auch das Ahnungsvermögen bezweifelt, und mir selbst hat nie etwas geahnt, außer einmal bei Zahnschmerz, wo mir träumte, daß ich eine Pfeife rauchte, was denn auch geschah und garstige Wirkungen hatte, welche aber nicht wunderbar genannt werden können.«

»Vielleicht weiß die Wahrsagerin zuweilen mehr als andere,« versetzte Ilse zerstreut, »weil sie irgendwo die Kenntnis fremder Verhältnisse erworben hat.«

»Ich habe mir schon etwas ausgedacht,« rief die Oberamtmann, »ich würde sie nur wegen der silbernen Suppenkelle fragen, welche auf eine unerklärliche Weise aus unserer Küche verschwunden ist.«

»Was will die Frau daranwenden, wenn ich's ihr sage?« fragte eine hohle Stimme. Die Rollmaus fuhr in die Höhe. An der Hausecke stand ein großes Weib hinter den Topfgewächsen, von den Schultern hing ihr ein verschlissener Mantel, das Haupt war mit einem dunkeln Tuche verhüllt, hinter welchem zwei blitzende Augen nach den Frauen stachen. Die Rollmaus faßte Ilses Arm und rief erschreckt: »Das ist die Wahrsagerin selbst, liebe Ilse, ich erbitte Ihren Rat, soll ich sie fragen?«

Das Weib trat vorsichtig hinter dem Strauchwerk hervor, stellte sich vor Ilse und lüftete das Kopftuch. Ilse erhob sich und sah unruhig auf die scharfen Züge eines verfallenen Gesichts. »Die Zigeunerin!« rief sie zurücktretend.

»Eine Kesselflickerfrau,« sagte die Rollmaus unwillig, »dieses Ahnungsvermögen kenne ich, es hängt mit Hühnermausen zusammen und mit noch schlimmeren Dingen. Erst stehlen sie und verstecken und dann verkünden sie, wo das Gestohlene liegt.«

Die Fremde achtete nicht auf den Angriff der Frau Oberamtmann. »Meine Leute sind gehetzt worden wie die Füchse im Wald, der Frost hat sie getötet, eure Wächter haben sie gefangen, die noch leben, liegen zwischen Mauern und klirren mit der Kette. Ich ziehe allein durch das Land. Schöne Frau, denken Sie nicht daran, was in jener Nacht die Männer getan, denken Sie nur an das, was ich Ihnen vorausgesagt. Ist es nicht eingetroffen? Jetzt sehen Sie auf das steinerne Haus dort drüben, und Sie sehen, wie er langsam auf dem Kiesweg herankommt, bis in die Stube, in welcher der nackte Knabe an der Decke hängt.«

Ilses Antlitz zog sich zusammen. »Ich verstehe den Sinn Eurer Rede nicht, nur eines höre ich, daß Ihr hier Bescheid wißt.«

»Manches Jahr sind meine Füße durch den Schnee geglitten,« fuhr die Landstreicherin fort, »seit ich zum letztenmal durch die Pforte dieser schwarzen Tiere getreten bin.« Sie wies auf die beiden Engel mit Tulpengewinden. »Jetzt hat die Krankheit auch mich geschlagen.« Sie streckte ihre Hand aus. »Geben Sie, junge Frau, einer Kranken von der Landstraße, die einst denselben Weg gegangen ist, den Sie jetzt schreiten.«

Ilses Wange rötete sich, sie sah starr auf die Bettlerin und schüttelte verneinend das Haupt. »Nicht Geld will ich von Ihnen,« sagte das Weib eindringlich. »Bitten Sie für mich bei dem Geiste dieses Hauses, wenn er Ihnen einmal erscheint. Ich bin müde und suche ein Lager für mein Haupt. Sagen Sie ihm, die Fremde, der er das Zeichen umgehangen hat,« sie wies auf ihren Hals, »bittet um seine Hilfe.«

Ilse stand unbeweglich, ihre Wangen glühten, und ihr Auge sah zornig auf das unheimliche Weib.

»Was wenden Sie daran, Ihr Silber wiederzufinden?« fragte zur Rollmaus gewandt die Bettlerin in verändertem Ton.

»Ihr also seid die Wahrsagerin?« fuhr die Rollmaus entrüstet auf sie ein, »nicht einen Kreuzer wende ich an Euch. Wer Euren Kopf untersucht, würde einen schönen Organismus daraus finden. Solche kauderwelsche Worte habe ich schon oft gehört. Macht Euch fort, bevor die Polizei kommt. Eine von Eurem Volk hat meiner Großmagd prophezeit, sie würde einen Gutsbesitzer heiraten, und ich mußte das Mädchen abschaffen, welches sonst brauchbar war, weil sie anfing, gegen Rollmaus selbst zu scharmuzieren, obgleich dieser nur darüber lachte. Geht, wir wollen nichts mit Euch zu tun haben.«

»Denken Sie an meine Bitte,« rief die Fremde Ilse zu, »ich komme wieder.«

Die Frau wandte sich ab und verschwand hinter dem Hause.

»Es sind Bälger,« erklärte die Oberamtmann in tiefem Ärger, »glauben Sie nichts von allem, was sie sagen. Diese hier sprach noch ärgern Unsinn als die andern. Ich glaube gar, liebe Ilse, Sie lassen sich zu Herzen gehen, was dieser Betteltanz parlierte.«

»Sie kennt dies Haus, sie wußte wohl, was sie sprach,« sagte Ilse tonlos.

»Natürlich,« versetzte die Rollmaus, »sie schweifen umher und gucken durch alle Ritzen, sie haben ein gutes Gedächtnis für anderer Leute Geschäfte, nur an ihre eigene Dieberei wollen sie nicht erinnert sein. Dieses Objekt hier habe ich sehr im Verdacht wegen meiner Suppenkelle. Wenn das die berühmte Wahrsagerin sein sollte, dann ist mir alle Forschung verleidet. Ach, und ich sehe, Ihnen auch.«

»Ich kenne das Weib,« erwiderte Ilse, »sie gehört zu der Bande, die unsere Kinder bestahl und den Arm meines Felix verwundete. Jetzt tritt die unheimliche Gestalt wie ein Gespenst vor meine Seele und ihre dunkeln Worte erregen mir Grauen. Sie drohte, wiederzukommen, mich faßt die Angst, daß dieses Weib noch einmal an mich heranschleicht. Hinweg von hier.«

Ilse eilte in das Haus, die Oberamtmann folgte und riet wohlwollend: »Kommt sie wieder, so wird sie weggejagt. Für dieses Ahnungsvermögen gibt es kein besseres Mittel als Gefängnis bei Wasser und Brot.«

Ilse stand im Wohnzimmer, auch dort sah sie sich scheu um. »Der ihr das Kreuz umhing, war der Herr dieses Schlosses; und als sie damals am Hoftor die wüsten Worte zu mir sprach, meinte sie nicht meinen Felix.«

»Acht Groschen meinte sie und nichts weiter,« tröstete die Rollmaus.

»Wie darf sie wagen, mein Leben mit dem ihren zu vergleichen? Wie weiß sie, ob der Herr dieses Hauses auf meine Worte hört?«

Die Oberamtmann mühte sich vergebens, durch verständige Betrachtungen über die Nichtswürdigkeit weiblicher Vagabunden zu beruhigen. Ilse sah mit gefalteten Händen vor sich hin, die Trostsprüche der wackern Freundin verhallten vor ihrem Ohr.

Im Hause sprachen fremde Stimmen, Gabriel öffnete die Tür und meldete den Hausmeister. Der alte Mann trat diensteifrig ein und bat, die Störung zu entschuldigen. »Mein gnädigster Herr befahl mir, anzufragen, ob vielleicht eine fremde Landstreicherin hier bettelte. Sie hat sich in das Schloß geschlichen, Zugang zu der Frau Prinzessin gesucht und diese erschreckt, als Hochdieselbe abreisen wollte. Seine Hoheit lassen vor der Fremden warnen, sie ist eine gefährliche Person.«

»Sie war hier,« versetzte Ilse, »und sprach wilde Reden, sie ließ merken, daß sie im Hause bekannt sei.«

Der Hausmeister sah bekümmert aus, als er fortfuhr: »Es ist lange her, da hatte die hochselige Fürstin sich einmal eines singenden Mädchens erbarmt, dem die Mutter an der Landstraße gestorben war. Sie ließ das Geschöpf unterrichten, und weil es drollig war und sich gut anließ, wurde es zuletzt ins Schloß genommen und zu kleinen Diensten gebraucht, aber es hat den Herrschaften schlecht gelohnt. In einer Zeit, wo die hohe Familie schweres Unglück traf, fiel die Person in die Gewohnheit ihrer Kinderzeit zurück, sie stahl und wurde unsichtbar. Heut will ein Diener in dem fremden Weibe das Mädchen wiedererkannt haben. Das hat der Kammerdiener Seiner Hoheit zugetragen, und der gnädige Herr, welcher ohnedies leidend ist, hat sich darüber aufgeregt. Bereits suchen die Landreiter auf allen Straßen nach der Fremden.«

Der Alte empfahl sich, Ilse sah ihm finster nach, aber sie sagte doch ruhiger zur Oberamtmann: »Daher also die Sprache der Landstreicherin, welche anders klang, als sonst bei bettelndem Volk, und daher ihr Wunsch, die Verzeihung des Fürsten zu erhalten.«

Jetzt aber saß die Rollmaus gedrückt und kleinlaut. »Ach, liebe Ilse, wenn die Hexe wirklich hier unter den fürstlichen Personen gelebt hat, dann mag sie vielerlei wissen, was in diesem Hause geschehen ist, denn die Leute sprechen nichts Gutes davon, und sie sagen, daß in früherer Zeit hier fürstliche Amoretten gewohnt haben. Das Haus kann ja nichts dafür und wir andern auch nicht, es ist nur deshalb, weil der Erbprinz jetzt zu Ihrem Vater kommt und Sie ihn schon von der Universität kennen. Darüber schütteln die Menschen ihre Köpfe, es ist dummes Geschwätz.«

»Was für Geschwätz?« rief Ilse mit rauher Stimme und faßte die Hand der Oberamtmann.

»Man redet, Sie seien die Ursache, daß der Prinz in unsere Gegend kommt. Wir würden uns alle sehr freuen, wenn Sie vor Ihrer Reise noch den Vater besuchten, wie verabredet war, aber ich glaube wirklich, solange der Prinz dort ist, wäre besser, wenn Sie hier blieben oder auch wo anders. Es ist nur zur Vorsicht,« fügte sie beruhigend zu, »und Sie müssen sich das nicht zu Herzen nehmen.«

Ilse stand abgewandt, lautlos, unbeweglich, die Oberamtmann fuhr in tröstender Rede fort, aber Ilse vernahm kaum noch ihre Worte.

»Man lehrt nicht umsonst junge Prinzen landwirtschaftliche Maschinen drehen und sich duellieren, Frau Ilse; das Lehrgeld wird dir bezahlt, doppelt, in neuem Gepräge, wie Hofbrauch ist.«

Es war eine lange, bangsame Stille im Zimmer. Ilse sah wild umher, dann nahm sie einen Rohrstuhl, setzte sich der Oberamtmann gegenüber, ihre Finger flogen über einer Handarbeit. »Sprechen wir nicht mehr von solchen Verleumdungen,« sagte sie. »Was macht Ihr Sohn Karl? Sind Sie mit seinem Fleiß zufrieden? Und wie geht's mit dem Klavier? Es ist immer gut, wenn er etwas Musik versteht.«

Die Oberamtmann kam über den Tänzen, welche ihr Sohn Karl spielte, wieder zu guter Laune, sie schwatzte fort, Ilse hörte schweigend zu und zählte über den Stichen, welche sie mit bunten Wollfäden machte.

Der Professor kehrte zurück, kurz darauf fuhr der Kutscher vor. Frau Rollmaus verschwand in die Nebenstube, ihren Kopfputz in die Schachtel zu packen, dann nahm sie wortreichen Abschied von ihrem lieben Herrn Professor. Die letzten Worte Ilses waren: »Es mag lange dauern, bis wir uns wiedersehen, erhalten Sie mir Ihre Freundschaft, auch wenn ich fern bin.«

»Was meinten deine feierlichen Worte beim Abschied der Nachbarin?« fragte der Professor verwundert.

»Sie meinen, daß wir hier in einem Hause sind, in welchem einer ehrlichen Frau vor den Wänden graut,« rief Ilse mit flammendem Blick, »und sie meinen, daß ich fort will von hier und daß es für dich Zeit ist, dein Weib wegzuführen aus einem ungesunden Leben.«

Sie erzählte ihm mit fliegendem Atem, was ihr die Rollmaus geklagt, die Bettlerin zugeraunt.

»Ich bin verstrickt, Felix,« rief sie, »durch meine eigene Schuld, ich klage dir's. Wie ich mich gehalten gegen den jungen Prinzen, mein Gott weiß, ich habe keinen Gedanken gehabt, der deinem Weibe Unehre machte, aber ich bin unvorsichtig gewesen und ich büße dafür schrecklich, schrecklich! Jetzt verstehe ich, was mich wie eine Ahnung gequält hat in den letzten Wochen. Liebst du mich, so führe mich schnell fort von hier, denn der Boden brennt unter meinem Fuße.«

Auch den Professor packte ein scharfes Weh, als er sein Weib in Schmerzen ringen sah, die so bitter sind, daß sie die stärkste Seele einer Frau betäuben, die edelste Kraft für Stunden zerbrechen. »Mir ist widerwärtig und demütig wie dir, dem Häßlichen in das nackte Angesicht zu sehen, ich bin bereit, alles zu tun, was ich vermag, um dich von diesem Leide zu lösen. Laß uns ruhig erwägen, wie das geschehen kann. Nicht in solcher Leidenschaft darfst du, was dir ziemt, beschließen, denn dir fehlt jetzt die Freiheit, das Rechte zu wählen. An welchem alten Hause, das ein Mieter bezieht, das ein Gastwirt öffnet, hängen nicht peinliche Erinnerungen? Müßiges Geschwätz vermag selbst der nicht von seinem Haupte zu bannen, der in ungewohnter Umgebung gleichförmig hinlebt. Wende den Blick ab von dem Gemeinen. Um seinetwillen aufzubrechen wie Flüchtlinge, ziemt nicht dir und nicht mir. Was haben wir getan, Ilse, daß wir unser Selbstgefühl verlieren? Gegen die feindselige Arbeit des törichten Zufalls gibt es nur eine Weisheit, sicher vorwärts gehen und wenig darum sorgen. Dann verhallt und verklingt der Mißton von selbst im Geräusch der Straße. Wer sich davon stören läßt, der vergrößert ihn durch seine eigenen Schmerzen. Gesetzt, wir brechen plötzlich auf aus diesem Hause. Du würdest in die Fremde das Gefühl tragen, daß du als Besiegte von hier gehst, und unaufhörlich würde dich die Sorge verfolgen, daß ein mißtönendes Gemurmel hinter uns nicht zum Schweigen gebracht ist.«

»Du sprichst sehr kalt und verständig,« rief Ilse in innerer Empörung, »trotz deiner Worte fühlst du wenig die Kränkung deines Weibes.«

»Wärest du in der Fassung, die ich sonst an dir ehre, du würdest so ungerechte Klage nicht über deine Lippen bringen,« versetzte der Gatte finster. »Wenn ich dich in Gefahr sähe, ich würde noch diese Stunde mit dir fortziehen; habe ich erst nötig, darüber gegen dich ein Wort zu verlieren? Aber selbst gegen das Geschwätz der Schwachen ist dir dieser Aufenthalt hier vorläufig der beste Schutz, denn der Prinz ist fern, du aber weilst zurückgezogen bei deinem Gatten.«

»Ich weiß, woher diese Gleichgültigkeit kommt,« murmelte Ilse.

»Du weißt, was mich hier fesselt,« erwiderte der Professor, »und wärest du mir, was du sein solltest, Verbündete bei meinen Hoffnungen, und hättest du dasselbe Gefühl für den Wert des Gutes, das ich suche, du würdest gleich mir empfinden, daß ich keinen ablenkenden Schritt tun darf, wenn ich nicht erkenne, daß er nötig ist. – Ertrage nur noch für den nächsten Tag diesen Aufenthalt, liebe Ilse, wie unbehaglich er dir heut erscheint,« fuhr er herzlich fort. »Ich bin eingeladen in dem Landschloß der Prinzessin zu suchen, dort wird sich, wie ich ahne, finden, was uns von hier frei macht.«

»Gehe nicht!« bat Ilse vor ihn tretend, »laß mich nicht allein in dieser fürchterlichen Unsicherheit, in einer Angst, die mich schaudern macht vor mir selbst und vor jedem fremden Laut, den ich in diesen Räumen höre.«

»Angst?« rief der Professor unwillig, »eine Angst vor Gespenstern. Selten ist das Leben in der Fremde so leicht und bequem, als uns dieser Aufenthalt. Mißklänge gibt es überall, und nur unser ist die Schuld, wenn wir sie übermäßig empfinden.«

»Gehe nicht!« flehte Ilse von neuem. »Ja, es sind Gespenster, die mich verfolgen, sie hängen bei Tag und Nacht über meinem Haupte. Gehe nicht, Felix,« rief sie, die Hand erhebend, »dich lockt nicht die Handschrift allein, auch das Weib, das dich dort erwartet. Das weiß ich seit den ersten Tagen in dieser Stadt, ich sehe, wie der Zauber ihrer flüchtigen Seele dich umgarnt. Ich habe die Furcht bis heut in mir niedergekämpft mit dem Vertrauen, das ich zu meinem geliebten Manne haben muß. Gehst du jetzt, Felix, wo ich mich an dich klammern möchte, wo ich jeden Augenblick bei deiner Stimme Trost suche, so kommt mir der Zweifel an dir und der furchtbare Gedanke, daß meine Not dir gleichgültig ist, weil du selbst kalt gegen mich wurdest.«

»Wohin bist du geraten, Ilse!« rief der Gelehrte erschrocken, »ist das mein Weib, das so spricht? Wann habe ich dir je meine Empfindungen verhüllt? Und vermagst du nicht in meiner Seele zu lesen wie in einem aufgeschlagenen Buch? Das also war es, was so schwer auf dir lag! Gerade das hätte ich nicht für möglich gehalten,« sagte er treuherzig und bekümmert.

»Nein, nein,« rief Ilse außer sich, »ich habe unrecht, ich weiß es, achte nicht auf meine Worte, ich vertraue dir, ich halte mich an dich, o Felix, ich müßte verzweifeln, wenn dieser Halt mir bräche.« Sie warf sich an seinen Hals und schluchzte. Der Gatte umschlang sie, auch ihm wurden die Augen naß bei dem Jammer seines Weibes. »Bleibe bei mir, mein Felix!« fuhr Ilse weinend fort, »und jetzt laß mich nicht allein, ich bin immer noch ein kindisches einfältiges Herz, habe Geduld mit mir. Ich bin hier krank, ich weiß nicht, woher das kommt; ich liege an deinem Herzen, und ich zittere davor, daß du mir fremd werden könntest, ich weiß, daß du mein bist, und ich ringe dabei mit der ängstlichen Ahnung, daß ich dich hier verlieren werde. Wenn du zur Tür hinausgehst, ist mir, als müßte ich einen Abschied von dir nehmen auf immer, und wenn du zurückkehrst, sehe ich dich zweifelnd an, als wärst du mir in wenig Stunden verwandelt. Ich bin unglücklich, Felix, und das Unglück macht mißtrauisch, ich bin schwach und klein geworden und ich scheue mich, dir es zu sagen, weil ich fürchte, daß du mich deshalb gering achten könntest. Bleibe hier, Geliebter, gehe nicht zu der Prinzessin, nur morgen nicht.«

Der Gatte faßte ihr Haupt und sah ihr in die verweinten Augen. »Wenn morgen nicht,« entgegnete er herzlich, »dann doch übermorgen oder an anderem Tage. Ersparen kann ich uns die Fahrt von wenigen Stunden nicht, sie aufgeben wäre ein Unrecht, das wir beide nicht auf uns laden dürfen. Je länger ich zögere, Ilse, um so länger sehe ich dich festgehalten in diesen Wänden. Ist nicht klug, schnell zu tun, was uns frei macht, auch in deinem Sinne?«

Ilse löste sich aus seiner Umarmung. »Du sprichst verständig in einer Stunde, wo ich einen andern Ton aus deiner Brust hoffte,« versetzte sie ruhiger. »Ich weiß, Felix, du willst mir nicht wehe tun, und ich hoffe, du bist auch in dieser Rede wahr gegen mich und verbirgst mir nichts. Aber ich fühle mit tiefem Herzen ein altes Weh, das mich an trüben Tagen überfallen hat, seit ich dich kenne. Du denkst anders als ich, und du fühlst anders in manchen Dingen, der einzelne Mensch und sein Leiden gilt dir wenig gegen die großen Gedanken, die du mit dir herumträgst, du stehst auf der Höhe in klarer Luft und hast keinen Anteil an der Angst und Not im Tale zu deinen Füßen. Klar ist die Luft, aber kalt, und mich friert dabei.«

»Das ist die Art des Mannes,« sagte der Professor, bewegt durch den gehaltenen Schmerz seines Weibes als durch ihre laute Klage.

»Nein,« antwortete Ilse vor sich hinstarrend, »das ist die Art des Gelehrten.«

In der Nacht, als der Gelehrte längst im Schlummer lag, da erhob sich das Weib an seiner Seite vom Lager und spähte durch die Dämmerung auf das Antlitz des geliebten Mannes. Sie stand auf und ergriff die Nachtlampe, daß der gelbe Schein auf sein ruhiges Antlitz fiel, und große Tränen sanken aus ihren Augen auf sein Haupt. Dann setzte sie sich vor ihn, rang die Hände und bändigte mit Anstrengung das Weinen und den Krampf, welche ihr den Leib erschütterten.


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