Gustav Freytag
Die verlorene Handschrift
Gustav Freytag

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Viertes Kapitel

Das alte Haus

Der Landwirt trat ein, die Reitgerte in der Hand, hinter ihm die hohe Gestalt vom Friedhof. »Hier meine Tochter Elise, sie wird meine Stelle vertreten.«

Die Freunde verneigten sich. Es war dasselbe schöne Antlitz, aber statt der hohen Rührung lag jetzt eine geschäftliche Würde in ihren Zügen, sie grüßte ruhig und lud die Herren zum Frühstück in das Nebenzimmer. Was sie sprach, waren einfache Worte, aber wieder lauschten die Freunde verwundert auf die tiefen Töne ihrer melodischen Stimme.

»Bevor Sie sich hier umsehen, müssen Sie an meinem Tisch niedersitzen, das ist bei uns Brauch«, sagte der Landwirt in besserer Laune als er bis dahin gezeigt, auch auf ihn übte die Gegenwart der Tochter besänftigenden Einfluß. »Wiedersehen zu Mittag.«

Damit ging er zur Tür hinaus.

Die Freunde folgten in den Nebenraum, ein großes Speisezimmer; Stühle standen längs der Wand, in der Mitte eine lange Tafel, an deren oberem Ende drei Plätze gedeckt waren. Das Mädchen setzte sich zwischen die Herren und bot die kalten Speisen. »Als ich Sie auf dem Friedhof sah, dachte ich, daß Sie den Vater besuchen würden, der Tisch wartet schon eine Weile auf Sie.« Die Freunde aßen ein wenig und dankten für mehr.

»Ich bedaure, daß unser Kommen auch Ihre Zeit in Anspruch nehmen soll«, sagte der Professor ernst.

»Meine Aufgabe ist leicht,« antwortete das Mädchen, »ich fürchte, die Ihre wird Ihnen mehr Mühe machen. Das Haus hat viele Stuben, und dann die Kammern und die Verschläge auf dem Boden.«

»Ich habe bereits Ihrem Herrn Vater gesagt,« erwiderte der Professor lächelnd, »daß wir keinen Wert darauf legen, wie Maurer das Gebäude zu untersuchen. Betrachten Sie uns als Neugierige, welche das merkwürdige Haus nur soweit sehen wollen, als es sich sonst einem Gaste öffnet.«

»Das Haus mag wohl für Fremde merkwürdig sein,« sagte Ilse, »uns ist es lieb, denn es ist warm und geräumig. Als der Vater das Gut einige Jahre besaß und zu Kräften gekommen war, hat er meiner seligen Mutter zuliebe alles bequem eingerichtet; denn wir brauchen großen Raum, es sind sechs jüngere Geschwister, und es ist ein großes Gut; die Herren von der Wirtschaft essen bei uns, dann der Hauslehrer und die Mamsell und in der Gesindestube auch zwanzig Leute.«

Der Doktor sah seine Nachbarin enttäuscht an. Wo war die Seherin geblieben? Sie sprach verständig und sehr bürgerlich, mit ihr konnte man wohl auskommen. »Da wir nun einmal auf hohle Räume ausgehen,« begann er schlau, »so würden wir uns am liebsten Ihrer Leitung anvertrauen, wenn Sie uns sagen wollten, ob man in der Wand oder auf dem Boden oder irgendwo hier im Hause von Stellen weiß, welche beim Klopfen eine Höhlung verraten.«

»Oh, daran fehlt es nicht«, erwiderte Ilse. »Wenn man in meiner Stube an die Hinterwand des kleinen Wandschrankes pocht, so merkt man, daß dahinter ein leerer Raum ist, und dann ist die Steinplatte unter der Treppe und mehrere Platten in der Küche und noch viele andere Stellen im Hause. Und bei allen haben die Leute ihre Vermutung.«

Der Doktor hatte seine Brieftafel herausgezogen und schrieb die verdächtigen Orte nieder.

Die Betrachtung des Hauses begann. Es war ein prachtvolles altes Haus, die Mauer des Unterstocks so dick, daß der Doktor mit gespannten Armen nicht die ganze Tiefe der Fensternischen einfassen konnte. Eifrig übernahm er das Klopfen und Messen der Wände. Die Keller waren zum Teil in den Felsen gesprengt, an einzelnen Stellen ragte das ungeglättete Gestein noch in die Räume und man erkannte, wo die Mauer auf dem Stein gelagert war. Es waren mächtige Gewölbe, die kleinen Fenster in der Höhe durch starke Eisenstäbe geschützt, in alter Zeit bei feindlichem Anlauf eine feste Zuflucht wider Geschosse und Feuer. Und alles war schön trocken und hohl. Denn das Haus war ganz nach den Ansichten gebaut, welche der Doktor schon früher über alte Gebäude so verständig ausgesprochen hatte: Mauer von außen und von innen, dahinter Schutt und Steinbrocken. Natürlich klangen die Wände deshalb an vielen Orten hohl wie ein Kürbis. Der Doktor pochte und notierte fleißig, die Knöchel seiner Hand wurden weiß und aufgerieben, aber die Fülle guter Möglichkeiten machte ihn kleinlaut.

Aus dem Keller traten sie in den Unterstock. In der Küche brodelten große Kessel und Töpfe, und neugierig sahen die arbeitenden Frauen auf das Benehmen der Fremden, denn der Doktor klopfte wieder mit den Absätzen auf den steinernen Fußboden und faßte die geschwärzte Seitenwand des Herdes mit den Händen an. Dahinter kamen Wirtschaftsräume und die Gaststuben. In einer derselben fanden sie eine Frau in Trauerkleidung beschäftigt, die Betten in ein neues Gewand zu hüllen. Es war die Mutter vom Friedhofe. Sie trat an die fremden Herren und bedankte sich, weil sie geholfen hätten, ihrem Kinde die letzte Ehre zu erweisen. Die Freunde sprachen ihr freundlich zu, sie wischte mit der Schürze die Augen und ging wieder an ihre Arbeit.

»Ich bat sie, heut zu Haus zu bleiben,« sagte Ilse, »aber sie wollte nicht. Ihr wäre gut, wenn sie etwas zu schaffen hätte, und wir würden ihre Arbeit brauchen, weil Sie doch zu uns kämen.« Es tat den Gelehrten wohl, daß sie wenigstens von den weiblichen Mitgliedern des Hauses als berechtigte Gäste aufgefaßt wurden.

Sie betraten die andere Seite des Unterstocks und betrachteten noch einmal die einfachen Zimmer, die sich zuerst den Ankommenden geöffnet hatten. Dahinter lag das Arbeitszimmer des Gutsherrn, ein kleiner schmuckloser Raum, darin ein Schrank mit Jagdgerät und Reitzeug, ein Brettergestell für Akten und einige Bücher, über dem Bett Säbel und Pistolen, auf dem Schreibtisch das kleine Modell einer Maschine und Proben von Getreide und Sämerei in kleinen Säckchen; an der Wand aber standen in militärischer Ordnung der riesige Wasserstiefel, der Juchtenstiefel, der Reitstiefel mit Stulpen, an der äußersten Ecke auch Zwerge von Kalbleder, wie sie gewöhnliche Menschen tragen. In dem Nebenzimmer hörten sie eine Männerstimme und kindliche Antworten in regelmäßigem Wechsel. »Das ist die Schulstube«, sagte Ilse lächelnd. Als die Tür geöffnet ward, schwiegen Solo und Chorstimmen, dem Gruß der Eintretenden antwortete aufstehend der Lehrer, ein Seminarist von verständigem Gesicht. Verwundert starrten die Kinder in die unerwartete Störung. An zwei Tischen saßen drei Knaben und drei Mädchen, ein kräftiges blondhaariges Geschlecht. »Das ist Klara, Luise, Riekchen, Hans, Ernst und Franz.« Die vierzehnjährige Klara, fast erwachsen und ein verjüngtes Abbild der Schwester, erhob sich mit einem Knicks, Hans, ein derber Bursch von zwölf Jahren, machte den unbedeutenden Versuch eines Bücklings, die andern blieben stramm stehen, sahen unverwandt auf die Fremden und tauchten, nachdem sie einer lästigen Pflicht genügt hatten, wieder auf ihre Plätze nieder. Nur der kleine Franz, ein rotbäckiger Krauskopf von sieben Jahren, blieb in der Pein seiner Aufgabe grimmig sitzen und benutzte die Unterbrechung, um für die nächsten Antworten noch schnell etwas aus seinem Buche einzusammeln. Ilse strich ihm über das Haar und fragte den Lehrer: »Wie geht's heut mit ihm?« – »Er hat gelernt.« – »Es ist zu schwer«, rief Franz erbittert. Der Professor bat den Lehrer, sich nicht stören zu lassen, und die Reise ging weiter: Schlafzimmer der Knaben, Zimmer des Lehrers und wieder Wirtschaftsräume, Plättstube, Kleiderkammer – der Doktor hatte seine Brieftafel bereits eingesteckt.

Sie kehrten in den Hausflur zurück, an der Treppe wies Ilse auf die Steinplatte, der Doktor kniete nieder, versuchte und sagte kleinlaut: »Wieder hohl.« Ilse betrat die Treppe.

»Hier oben wohne ich und die Mädchen.«

»Unsere Neugierde hat vorläufig hier ein Ende«, erwiderte rücksichtsvoll der Professor. »Sie sehen, auch mein Freund verzichtet.«

»Man hat aber von oben eine Aussicht,« sagte die Führerin, »diese wenigstens müssen Sie betrachten.« Sie öffnete eine Tür.

»Dies ist mein Zimmer.« Die Freunde blieben vor der Schwelle stehen. »Kommen Sie herein«, sagte Ilse unbefangen. »Von diesem Fenster sieht man die Straße, auf der Sie zu uns kamen.« Zögernd traten die Zartfühlenden näher. Es war wieder ein bescheidener Raum, nicht einmal ein Sofa darin, die Wände mit blauer Farbe gestrichen, am Fenster ein Nähtisch und einige Blumentöpfe, in einer Ecke das Bett mit weißer Gardine verhüllt.

Die Freunde traten an das Fenster und schauten von der Höhe auf den kleinen Friedhof und die Gipfel der Eichen, auf das Städtchen im Tale und auf die Baumreihe dahinter, welche in gekrümmter Linie bis zu der Höhe lief, wo sich die Aussicht in die Ferne schloß. Der Blick des Professors haftete an der alten Holzkirche. Wie hatten sich in wenig Stunden die Stimmungen geändert! Auf die frohe Erwartung war gefolgt, was beinahe wie Entsagung aussah, und doch wieder auf die Ungeduld eine wohltuende Ruhe.

»Das ist unser Weg in die Fremde,« wies Ilse, »wir sehen oft nach der Richtung aus, wenn der Vater verreist ist und wir ihn erwarten, oder wenn wir von dem Postboten etwas Gutes hoffen. Und so oft Bruder Franz erzählt, daß er einst in die Welt gehen werde, fort von Vater und von uns Geschwistern, dann denkt er sich die Straßen in der Welt immer wie diese aussieht, als einen Fußsteig mit dicken Weideköpfen.«

»Franz ist der Liebling?« fragte der Professor.

»Er ist mein Nesthäkchen, wir verloren die gute Mutter, als er noch die Kindermütze trug. Das arme Kind kennt die Mutter gar nicht, und als er einmal von ihr geträumt hatte, da brachten die andern Kinder heraus, daß er sie im Schlafe mit mir verwechselte, denn sie trug mein Kleid und meinen Strohhut. – Dies ist der Wandschrank«, sagte sie traurig, auf eine Holztür in der Wand deutend. Die Freunde folgten schweigend, ohne bei dem Schranke anzuhalten. Vor der gegenüberliegenden Stube blieb sie stehen, die Tür öffnend: »Dies war das Zimmer der Mutter, es ist unverändert, wie sie es verließ, nur der Vater bleibt des Sonntags einige Zeit darin.«

»Wir geben nicht zu, daß Sie uns weiterführen«, sagte der Professor. »Ich kann Ihnen nicht sagen, wie peinlich ich unsere Lage Ihnen gegenüber empfinde. Verzeihen Sie uns das unzarte Eintreten in Ihre Häuslichkeit.«

»Wenn Sie das Haus nicht weiter sehen wollen,« erwiderte Ilse mit dankendem Blick, »so geleite ich Sie gern in unsern Garten und durch den Hof. Der Vater wird nicht loben, wenn ich Ihnen etwas vorenthalte.«

Eine Hintertür des Flurs führte in den Garten; die Beete durch Buchsbaum eingefaßt, waren mit Sommerblumen besetzt, mit den altheimischen Bewohnern unsrer Gärten. Am Hause liefen Weinreben bis unter die Fenster des Oberstocks und die grünen Trauben blickten überall aus dem hellen Laub. Eine lebendige Hecke schied die Blumenbeete vom Gemüsegarten, wo auch der Hopfen an großen Stangen hinaufkletterte. Weiter ab senkte sich ein großer Obstgarten mit frischem Rasengrund einem Seitental zu. Es war auch hier nichts Merkwürdiges zu sehen, geradlinig waren die Blumenbeete, in Reihen standen die Obstbäume, der ehrwürdige Buchsbaum und die Hecke waren nach der Schnur geschnitten und ohne Lücken. Die Freunde schauten von Beet und Blumen immer wieder auf das Haus zurück und freuten sich über die braunen Mauern hinter dem saftigen Weinlaub und über die Arbeit des Steinmetzen an den Fenstern und am Giebel.

»Es war zur Zeit unserer Vorfahren ein Haus der Fürsten,« erklärte Ilse, »und sie kamen damals alle Jahre zur Jagd hierher. Jetzt aber ist nur der dunkle Wald dort hinten noch herrschaftlich, dort steht auch noch ein Jagdhaus, und der Oberförster wohnt darin. Und selten kommt unser Fürst in die Gegend. Es ist lange Zeit her, daß wir unsern lieben Landesherrn nicht gesehen haben, und wir leben wie arme Waisen.«

»Gilt er hier im Lande für einen gütigen Herrn?« fragte der Professor.

»Wir wissen nicht viel von ihm, aber wir denken uns, daß er gut ist. Vor vielen Jahren, als ich noch Kind war, hat er einmal in unserm Haus gefrühstückt, weil es in Rossau keine Gelegenheit gab. Damals war ich erstaunt, daß er keinen roten Mantel trug, und er strich mir über den Kopf und gab mir den guten Rat, zu wachsen. Das habe ich seitdem redlich abgemacht. Und es heißt schon, er wird in diesem Jahre wieder zur Jagd kommen. Kehrt er wieder bei uns ein, dann muß das alte Haus seinen besten Staat antun, und in der Küche gibt's heiße Wangen.«

Während sie friedlich unter den Obstbäumen dahinschritten, tönte vom Hofe her eine helle Glocke. »Das ist der Ruf zum Essen,« sagte Ilse, »ich führe die Herren zu ihrem Zimmer, das Hausmädchen wird Sie abholen.«

Die Freunde fanden in der Gaststube ihre Ledertaschen und wurden kurz darauf durch ein leises Klopfen an der Tür geladen und in das Speisezimmer geführt. Dort wartete ihrer der Gutsherr, ein halbes Dutzend sonnengebräunte Beamte der Wirtschaft, die Mamsell, der Hauslehrer und die Kinder. Als sie eintraten, sprach der Landwirt mit der Tochter in einer Fensternische; wahrscheinlich hatte die Tochter günstig über die Fremden berichtet, denn er kam ihnen mit unumwölkter Miene entgegen und sagte in seiner kurzen Weise: »Nehmen Sie an unserm Tische vorlieb.« Dann stellte er die Fremden den Anwesenden vor, indem er ihre Namen nannte und hinzufügte: »Zwei gelehrte Herren von der Universität.« Jedermann stand hinter seinem Stuhle nach Würde und Alter gereiht, obenan der Wirt, neben ihm Ilse, auf der andern Seite der Professor und der Doktor, dann zu beiden Seiten die Herren von der Wirtschaft, dahinter die Mamsell und die Mädchen, der Lehrer und die Knaben. Der kleine Franz am untern Ende des Tisches trat an seinen Teller, faltete über dem Brot die Hände und sprach eintönig ein kurzes Tischgebet. Darauf rückten zu gleicher Zeit alle Stühle, zwei Mädchen in der Tracht der Landschaft trugen die Speisen. Es war ein einfaches Mittagsmahl, nur zwischen den Fremden stand eine Flasche Wein, die Eingebornen gossen goldbraunes Bier in die Gläser.

Schweigend und eifrig verrichtete jeder sein Werk, am oberen Ende des Tisches wurde Unterhaltung geführt. Die Freunde sprachen dem Landwirt ihre Freude über Haus und Umgebung aus, und der Hausherr lachte spöttisch, als der Doktor die dicken Wände des Hauses rühmend hervorhob. Dann schweifte das Gespräch auf die Umgegend hinaus, auf den Dialekt und die Art des Landvolks.

»Wieder ist mir in diesen Tagen aufgefallen,« sagte der Professor, »wie fremd und mißtrauisch die Landleute hier uns Städter beobachten. Unsere Sprache, Sitte, Gewohnheit betrachten sie wie die eines anderen Volkes. Und wenn ich zusehe, was der Feldarbeiter mit den sogenannten Gebildeten gemein hat, so empfinde ich schmerzlich, daß es viel zu wenig ist.«

»Wer ist daran schuld,« entgegnete der Landwirt, »als die Gebildeten selbst. Nehmen Sie mir nicht übel, wenn ich Ihnen als einfacher Mann sage, daß mir diese Bildung ebensowenig gefällt als die Unwissenheit und Störrigkeit, welche Sie an unsern Landleuten in Erstaunen setzt. Sie selbst z. B. machen eine weite Reise, um alte vergessene Schriften zu finden, die einst ein gebildeter Mann in einem untergegangenen Volke geschrieben hat. Ich aber frage, was haben Millionen Menschen, die mit Ihnen eine Sprache sprechen, Ihres Stammes sind und neben Ihnen leben, von all der Gelehrsamkeit, die Sie für sich und eine kleine Zahl wohlhabender und müßiger Leute erwerben? Wenn Sie zu meinen Arbeitern reden, die Leute verstehen Sie nicht. Wenn Sie von Ihrer Wissenschaft etwas erzählen wollten, meine Knechte würden vor Ihnen stehen wie Neger. Ist das ein gesunder Zustand? Und ich sage Ihnen, solange dieser Zustand dauert, sind wir noch kein rechtes Volk.«

»Wenn Ihre Worte einen Vorwurf gegen meinen Beruf enthalten,« erwiderte der Professor, »so sind sie ungerecht. Gerade jetzt ist man eifrig bemüht, was in der Arbeitstube der Gelehrten gefunden wird, auch dem Volke zugänglich zu machen. Daß dafür nach mancher Richtung noch mehr geschehen sollte, leugne ich nicht. Aber zu allen Zeiten hat ernste wissenschaftliche Forschung, selbst wenn sie zunächst nur einem sehr kleinen Kreise verständlich ist, ganz unsichtbar und in aller Stille Seele und Leben des gesamten Volkes beherrscht. Sie bildet die Sprache, sie richtet die Gedanken, sie formt allmählich Sitte, Rechtsgefühl und Gesetz nach den Bedürfnissen jeder Zeit. Nicht nur die praktischen Erfindungen und der steigende Wohlstand werden durch sie möglich, auch, was Ihnen nicht weniger wichtig erscheinen wird, die Gedanken des Menschen über sein eigenes Leben, die Art, wie er seine Pflichten gegen andere übt, der Sinn, in welchem er Wahrheit und Lüge auffaßt, das alles verdankt jeder von uns der Gelehrsamkeit seines Volkes, wie wenig er sich auch um die einzelnen Forschungen kümmern möge. Und lassen Sie mich einen alten Vergleich gebrauchen. Die Wissenschaft ist wie ein großes Feuer, das in einem Volke unablässig unterhalten werden muß, weil ihm Stahl und Stein unbekannt sind. Ich gehöre zu denen, welche die Pflicht haben, immer neue Scheite in das große Feuer zu werfen. Andere haben die Aufgabe, die heilige Flamme durch das Land, in Dörfer und Hütten zu tragen. Jeder, der an der Verbreitung des Lichtes arbeitet, hat sein Recht, und keiner soll von dem andren gering denken.«

»Darin liegt Wahrheit«, sagte der Landwirt aufmerksam.

»Wenn das große Feuer nicht brennt,« fuhr der Professor fort, »werden die einzelnen Flammen sich auch nicht verbreiten können. Und glauben Sie mir, was einen ehrlichen Gelehrten bei den schwierigsten Untersuchungen, unter denen ihm das Leben dahinschwindet, immer erhebt und stärkt, das ist gerade die unerschütterliche Überzeugung, welche durch lange Erfahrung tausendfach bestätigt ist, daß seine Arbeit zuletzt doch der ganzen Menschheit zugute kommt; sie hilft nicht immer neue Maschinen erfinden und neue Kulturpflanzen entdecken, sie ist deshalb nicht weniger wirksam für alle, auch wo sie lehrt, was wahr und unwahr, was schön und häßlich, was gut und schlecht ist. In diesem Sinne macht sie Millionen freier und dadurch besser.«

»Ich sehe wenigstens aus Ihren Worten,« sprach der Landwirt, »daß Sie Ihren Beruf hochhalten. Und das freut mich überall, denn das ist die Art eines tüchtigen Mannes.«

Bei dieser Unterredung wurde beiden Männern behaglicher zumute. Der Inspektor erhob sich, und im Nu rückten sämtliche Stühle der Würdenträger und der Kinder, die Mehrzahl der Tischgäste verließ das Zimmer. Nur der Wirt, Ilse und die Gäste saßen noch einige Minuten beieinander, jetzt in ruhiger fortrollender Unterhaltung. Dann ging man in das Nebenzimmer zu dem angerichteten Kaffeetisch, Ilse schenkte ein und der Landwirt betrachtete von seinem Sitze die unerwarteten Gäste.

Der Professor setzte die leere Tasse hin und begann: »Unsere Aufgabe hier ist beendigt, wir haben Ihnen für die gastliche Aufnahme zu danken. Ich möchte aber nicht scheiden, ohne Sie noch einmal an das zu erinnern –«

»Warum wollen Sie jetzt fort?« unterbrach ihn der Landwirt. »Sie haben heut schon einen längeren Weg gemacht, Sie finden weder in der Stadt noch in den Dörfern dahinter ein erträgliches Unterkommen und in dem Drang der Ernte vielleicht nicht einmal eine Fuhre. Lassen Sie sich's zur Nacht hier gefallen, wir haben ohnedies noch unser Gespräch von heut morgen aufzunehmen,« fügte er mit Laune hinzu, »und mir liegt daran, daß wir in gutem Einvernehmen scheiden. Sie begleiten mich ein Stück in das Feld, wo ich allerdings nötig bin. Wenn ich auf das Vorwerk reite, mag Ilse wieder meine Stelle vertreten. Am Abend sprechen wir dann ein verständiges Wort miteinander.«

Die Freunde waren bereit, auf diesen Vorschlag einzugehen. In gutem Einvernehmen schritten die Männer durch das Erntefeld. Der Professor freute sich über die großen Ähren einer neuen Art Gerste, welche noch ungemäht, dicht wie Rohr vor ihnen stand, und der Landwirt sprach bedächtige Worte über diese anspruchsvolle Halmfrucht des deutschen Landmanns. Sie blieben stehen, wo gerade die Arbeiter beschäftigt waren. Dann trat zuerst der Beamte, der die Aufsicht führte, dem Gutsherrn entgegen und berichtete, darauf schritten sie über die Stoppeln zu den Garben; der schnelle Blick des Landwirts übersah die zusammengelegten Mandeln, die emsigen Leute und die harrenden Rosse am Erntewagen; die Freunde aber betrachteten mit Anteil, wie der Herr des Gutes mit seinen Beamten und Arbeitern verkehrte, kurze Befehle und beflissene Antworten, Eifer der schaffenden Leute und frohe Mienen, wenn sie die Zahl der Garben meldeten, überall ein wohlgefügtes Wesen, sichere Kraft, ein wackeres Zusammengreifen. Sie kehrten zurück mit Achtung vor dem Manne, der in seinem kleinen Reiche so fest herrschte. Auf dem Rückwege blieben sie bei den Füllen stehen, welche sich hinter der Scheuer auf eingezäuntem Raum tummelten, und als der Doktor vor andern zwei galoppierende Braune rühmte, fand sich's, daß er richtig die besten Pferde gelobt hatte, und der Landwirt lächelte ihm wohlwollend zu. Am Eingang des Hofes führte ein Knecht das Reitpferd, einen mächtigen Rappen von starken Gliedern und breiter Brust, der Doktor klopfte den Hals des Tieres, der Landwirt sah nach dem Riemenzeug. »Ich bin ein schwerer Reiter,« sagte er, »und habe Not, ein dauerhaftes Tier zu finden.« Er schwang sich wuchtig in den Sattel und griff an seine Mütze: »Auf Wiedersehn heut abend.« Und sehr stattlich sahen Roß und Reiter aus, als sie den Feldweg entlang trabten.

»Das Fräulein erwartet Sie,« sagte der Reitknecht, »ich soll Sie zu ihr führen.«

»Haben wir Fortschritte gemacht oder nicht?« fragte der Doktor lachend, den Arm des Freundes fassend.

»Ein Kampf hat begonnen,« erwiderte der Freund ernsthaft, »wer mag sagen, wie der Ausgang sein wird.«

Ilse saß von den Kindern umgeben in einer Geißblattlaube des Gartens. Es war ein herzerfreuender Anblick, das junge blondhaarige Geschlecht beieinander zu sehen. Die Mädchen saßen neben der Schwester, die Knaben trieben spielend um die Laube, große Vesperbrote in der Hand. Sieben frische, wohlgeformte Gesichter, einander ähnlich wie Blüten desselben Baumes und doch jedes Leben in einem andern Zeitraum seiner Entfaltung, von Franz, dessen runder Kinderkopf einer lustigen Knospe glich, bis zu der schönen Fülle in Antlitz und Gliedern, welche in der Mitte saß, am hellsten durch das gebrochene Licht der Sonne beleuchtet. Wieder erregte den Freunden das Aussehen des Mädchens, der Klang ihrer Worte das Herz, als sie den kleinen Franz zärtlich schalt, weil er dem Bruder das Butterbrot aus der Hand geschlagen hatte. Wieder starrten die Kinder mißtrauisch auf die Fremden, aber der Doktor beseitigte das Zeremoniell der ersten Bekanntschaft, indem er Franz bei den Beinen nahm, auf seine Schultern setzte und sich mit seinem Reiter in der Laube niederließ. Der kleine Bursch saß einige Augenblicke betroffen auf seiner Höhe und die Kinder lachten laut, daß er so erschrocken aus runden Augen auf den fremden Kopf zwischen seinen Beinchen herabsah. Aber das Gelächter der andern machte ihm Mut, er begann lustig mit den Beinen zu baumeln und schwenkte sein Vesperbrot triumphierend um die Locken des Fremden. So war die Bekanntschaft gemacht, wenige Minuten darauf fuhr der Doktor mit den Kindern durch den Garten, ließ sich jagen und suchte die Jauchzenden zwischen den Beeten zu fangen.

»Ist's Ihnen recht, so möchte ich Sie an eine Stelle führen, wo wir am liebsten auf unser Haus hinsehen,« sagte Ilse zum Professor. Von den Kindern umschwärmt, schritten die Großen den Weg hinab, der zur Kirche führte, und bogen um den Friedhof herum. Das Feld, auf welchem die Gebäude des Gutes lagen, senkte sich hier steil in ein schmales Tal, das von der andern Seite durch einen höheren Bergrücken eingeengt wurde. Ein gewundener Fußpfad lief in den Garten hinab, dort umsäumte ein Wiesenstreif das strudelnde Wasser des Baches. Aus dieser Tiefe zog sich der Pfad auf der andern Seite wieder in den Laubwald hinein, unter Goldweiden und Erlen stiegen sie einige hundert Schritt hinan. Vor ihnen erhob sich aus dem Geröll und Gebüsch ein Felsblock: sie traten um die Ecke und standen an einer Steingrotte. Der Felsen bildete Portal und Wände einer Höhle, welche etwa zehn Schritt in den Berg hineinreichte. Der Boden war eben, mit weißem Sand bedeckt, Brombeeren und wilde Rosen hingen von oben über den Eingang herab, gerade in der Mitte hatte sich ein großer Busch Weidenröschen angesiedelt, er stand mit seinen dichten Blütenrispen wie ein roter Federschmuck über dem Felsbogen der Grotte. Die Spur einer alten Mauer an der Seite verriet, daß die Höhle wohl einmal in arger Zeit die Zuflucht Bedrängter oder Gesetzloser gewesen war; am Eingang lag ein Stein, dessen Oberfläche zu einem Sitze geebnet war, in der Dämmerung des Hintergrundes stand eine steinerne Bank.

»Dort ist unser Haus,« sagte Ilse und zeigte über das Tal nach der Höhe, wo hinter den Obstbäumen des Gartens das Giebelhaus emporstieg. »Hier sind wir im Gebirge. Sie sehen, der Hof ist so nahe, daß man einen lauten Ruf von drüben bei stiller Luft hören kann.«

Aus dem Dämmerlicht der Höhle sahen die Freunde in das helle Licht des Tages, auf das Steinhaus und auf die Bäume, welche seinen Fuß umgrenzten. »Jetzt ist es still im Walde,« fuhr Ilse fort, »die Vögel sind fast alle verstummt, die kleinen fliegen am Rande des Holzes und suchen reife Samen, denn ihr Hauswesen ist zu Ende, sie leben jetzt in der großen Gesellschaft. Auch die im Garten zahm waren, werden ausgelassen und kümmern sich wenig um den Menschen und sein Futter.«

»Dort rauscht es leise, wie gurgelndes Wasser,«sagte der Professor.

»Ein Quell fließt nebenbei über Steine herab,« erklärte Ilse. »Jetzt ist er schwach, aber im Frühjahr strömt vieles Wasser von dem Berge zusammen. Dann ist das Rauschen laut und der Bach im Tale fährt wild über die Steine; dann überdeckt er auch die Wiesen dort unten, er füllt den ganzen Grund und steigt bis an das Gebüsch. – Hier aber ist für uns alle in warmen Tagen ein lieber Aufenthalt. Als der Vater das Gut kaufte, war die Höhle verwachsen, der Eingang mit Steinen und Erde verschüttet und die Eulen wohnten darin. Und der Vater hat den Platz gesäubert.«

Der Professor trat neugierig in den Raum und schlug mit dem Stock an den rötlichen Felsen. Ilse sah ihn von der Seite an. Jetzt bekommt auch er das Suchen, dachte sie bekümmert. »Es ist alles altes Gestein,« sagte sie beruhigend.

Der Doktor war mit den Kindern um die Höhle herumgeklettert, er machte sich von Hans los, der ihm gerade anvertraute, daß er weiter unten in dichtem Erlengestrüpp das leere Nest einer Beutelmeise wisse.

»Das ist ein wundervoller Ort für die Sagen der Gegend,« rief er bewundernd, »es gibt keine schönere Heimat für die Geister des Tales.«

»Die Leute reden dummes Zeug davon,« entgegnete Ilse abweisend. »Hier sollen kleine Zwerge wohnen, und sie sagen, man kann ihre Fußtapfen im Sande erkennen, und Vater hat den Sand doch erst hinfahren lassen. Aber die Leute fürchten sich doch, und wenn der Abend kommt, gehen die Frauen und Kinder der Arbeiter nicht gern vorüber. Uns aber verbergen sie's, denn der Vater leidet den Aberglauben nicht.«

»Ich sehe, die Zwerge stehen hier nicht in Gunst,« erwiderte der Doktor.

»Da es keine gibt, soll man nicht daran glauben,« versetzte Ilse eifrig. »Unsre Leute möchten es wohl noch gern tun. Der Mensch soll an das glauben, was die Bibel lehrt, nicht an wildes Zeug, das, wie sie im Dorfe sagen, durch den Wald und die Nacht dahinfährt. Neulich war eine alte Frau im nächsten Dorfe krank, kein Mensch trug ihr Essen, recht häßlich haben sie sich über ihre Niederlage gefreut, weil sie meinten, das arme Weib könne sich in eine schwarze Katze verwandeln und dem Vieh schaden. Als wir es erfuhren, drohte der Frau die Gefahr, in Einsamkeit umzukommen. Und deshalb ist es häßliches Geschwätz.«

Der Doktor hatte sich unterdes die Zwerge in der Brieftasche angemerkt, sah aber jetzt ohne Freude auf Ilse, die aus dem Hintergrund der Höhle sprach, in dem gebrochenen Scheine zwischen Fels und Licht selbst einem Sagenbilde ähnlich. »Der alte Scheich Abraham und der Gauner Jakob, der seinen blinden Vater mit dem Bocksfell an den Ärmeln betrügt, sind ihr ganz recht, aber unser Schneewittchen gilt ihr für häßliches Zeug.« Er steckte die Brieftafel ein und ging mit Hans zur Behausung der Beutelmeise.

Der Professor hatte mit Ergötzen den stillen Ärger des Freundes beobachtet, aber Ilse wandte sich auch zu ihm: »Mich wundert, daß Ihr Freund solche Geschichten aufschreibt, das ist nicht gut, dergleichen muß in Vergessenheit kommen.«

»Sie wissen, daß er selbst nicht daran glaubt,« erwiderte der Professor entschuldigend, »was er aber darin findet, das sind nur alte Überlieferungen des Volkes. Denn diese Sagen sind in einer Zeit entstanden, wo noch unser ganzes Volk an diese Geister ebenso glaubte, wie jetzt an die Lehren der Bibel. Er sammelt solche Erinnerungen, um zu erkennen, wie Glaube und Poesie unserer Vorfahren war.«

Das Mädchen schwieg. »Das gehört also auch zu dem, was Sie heut mittag von Ihrer Arbeit sagten,« begann sie nach einer Weile.

»Es gehört auch dazu.«

»Es hörte sich gut an,« fuhr Ilse fort, »denn Sie sprechen anders wie wir. Sonst, wenn man von einem sagte, er spricht wie gedruckt, meinte ich immer, es sei ein Vorwurf, aber es ist das richtige Wort,« setzte sie leiser hinzu, »und es macht Freude zu hören.« Dabei sah sie aus der Tiefe der Grotte mit ihren großen Augen auf den Gelehrten, der am Eingange stand, an den Stein gelehnt, hell von den Strahlen der Sonne beschienen.

»Es gibt aber auch sehr viele Bücher, welche schlecht schwatzen,« antwortete der Professor lachend, »und nichts ermüdet so sehr, als lange Buchweisheit aus lebendigem Munde.«

»Ja, ja,« bestätigte Ilse, »wir haben auch eine Bekannte, welche eine gelehrte Frau ist. Wenn die Frau Oberamtmann Rollmaus uns des Sonntags besucht, so setzt sie sich auf dem Sofa zurecht und greift mit einem Gespräch den Vater an. Der Vater mag sich winden, wie er will, um ihr zu entgehen, sie weiß ihn festzuhalten, über Engländer und Tscherkessen, über Kometen und die Dichter. Aber die Kinder sind dahinter gekommen, daß sie ein Lexikon für Konversation hat, daraus nimmt sie alles. Und wenn sich in einem Lande etwas ereignet oder die Zeitung von etwas Lärm macht, so liest sie im Lexikon darüber nach. Wir haben dasselbe Buch angeschafft, und wenn ihr Besuch bevorsteht, so wird überlegt, welcher Name gerade an der Zeit ist. Dann schlagen die Kinder vorher am Sonnabend abend diese Sache auf und lesen vor, was nicht gar zu lang ist. Und auch der Vater hört zu und sieht auch wohl noch selbst in das Buch. Und am andern Tage haben die Kinder ihre Freude daran, wenn der Vater die Frau Oberamtmann mit ihrem eigenen Buche überwindet. Denn unser Buch ist neuer, ihres ist schon alt und die neuen Begebenheiten stehen nicht darin, von diesen weiß sie wenig.«

»Also der Sonntag ist die Zeit, wo man hier Ehre einlegen könnte,« sagte der Prozessor.

»Im Winter sieht man sich auch manchmal in der Woche,« fuhr Ilse fort. »Aber es ist nicht viel Verkehr in der Umgegend. Und wenn einmal ein Besuch kommt, der uns gute Gedanken zurückläßt, so sind wir dankbar und wir bewahren sie in treuem Herzen.«

»Die besten Gedanken sind doch, welche dem Menschen aus seiner eigenen Tätigkeit aufsteigen,« sagte der Professor rücksichtsvoll. »Das Wenige, was ich von dem Gute hier gesehen, mahnt, wie schön das Leben gedeihen kann, auch wenn es weit von dem lauten Geräusch des Tages abliegt.«

»Das war ein freundliches Wort,« rief Ilse. »Und einsam ist es hier auch nicht, und wir kümmern uns auch um die Landsleute draußen und um die große Welt. Wenn die Herren Landwirte zum Besuch kommen, wird nicht immer von der Wirtschaft gesprochen, und es fällt wohl etwas für uns Jüngere ab. Und dann ist unser lieber Herr Pastor, der uns auch zuweilen aus der Fremde erzählt und mit uns zusammen die Zeitungen liest, welche der Vater hält. Und wenn darin zu Beiträgen für einen guten Zweck aufgefordert wird, dann sind die Kinder am schnellsten bei der Hand, und jedes gibt sein Scherflein vom Ersparten, der Vater aber reichlich. Und Hans als der älteste sammelt und hat das Recht, solches Geld einzupacken, und in den Brief setzt er die Anfangsbuchstaben eines jeden, der dazu gegeben hat. Kommt dann später im Gedruckten eine Quittung, so sucht jedes zuerst seinen Buchstaben. Mehrmals war einer falsch gedruckt, dann sind die Kinder ärgerlich.«

Aus der Ferne hörte man Ruf und Lachen der Kinder, welche mit dem Doktor von ihrem Ausflug zurückkehrten. Das Mädchen erhob sich, der Professor trat zu ihr und sagte mit warmer Empfindung: »Sooft mir einst die Bilder dieses Tages lebendig werden, wird mein Herz voll Dank dieser Stunde gedenken, wo Sie zu einem Fremden so ehrlich über Ihr glückliches Leben gesprochen haben.«

Ilse sah ihn mit unschuldigem Vertrauen an. »Sie sind mir nicht fremd, ich sah Sie ja am Grabe des Kindes.«

Der fröhliche Schwarm schloß beide in die Mitte und zog weiter das Tal hinauf.

Es war Abend, als sie zum Hause zurückkehrten, wo der Landwirt sie bereits erwartete. Nach dem Abendbrot saßen die Erwachsenen noch eine Stunde zusammen. Die Fremden erzählten von ihrer Stadt und Neuigkeiten aus der Welt, dann wurde, wie Männern ziemt, auch über Politik gesprochen, und Ilse freute sich, daß ihr Vater und die Fremden sich darin vortrefflich verstanden. Als der Kuckuck über der Hausuhr die zehnte Stunde ausrief, trennte man sich mit freundlichem Nachtgruß.

Das Hausmädchen hatte den Fremden zur Ruhe geleuchtet, Ilse saß auf dem Stuhl, die Hände im Schoß gefaltet, und sah schweigend vor sich hin. Der Gutsherr kam aus seinem Zimmer und nahm den Nachtleuchter vom Tisch. »Bist noch wach, Ilse? Nun, wie gefallen dir die Fremden?«

»Gut, Vater,« sagte das Mädchen leise.

»Sie sind nicht so dumm als sie aussehen,« sagte der Wirt auf und ab gehend. »Das von dem großen Feuer war recht,« wiederholte er, »und das über unsere kleinen Regierungen war auch recht. Der Jüngere wäre ein guter Schullehrer geworden, und der Große, es ist beim Himmel schade, daß er nicht eine vier Jahr Wasserstiefel getragen hat, er wäre ein gescheiter Inspektor. Gute Nacht, Ilse.«

»Gute Nacht, Vater.«

Die Tochter erhob sich und folgte dem Vater an die Tür. »Bleiben die Fremden morgen hier, Vater?«

»Hm,« sagte der Wirt nachdenkend. »Über Mittag bleiben sie jedenfalls, ich will ihnen noch das Vorwerk zeigen. Sorge für etwas Ordentliches zum Essen.«

»Vater, der Professor hat noch nie in seinem Leben ein Spanferkel gegessen,« sagte die Tochter.

»Ilse, wo denkst du hin, meine Ferkel wegen des Tacitus!« rief der Landwirt. »Nein, damit komm mir nicht, bleibe bei deinem Federvieh! Halt! noch eins, reiche mir den Band T aus dem Schranke, ich will doch einmal über den Burschen nachlesen.«

»Hier, Vater, ich weiß, wo es steht.«

»Sieh doch!« sagte der Vater, »Frau Oberamtmann Rollmaus! gute Nacht!«

Der Doktor sah durch das Fenster in den dunklen Hof. Schlaf und Frieden lag über dem weiten Raum, aus der Ferne klang der Schritt des Wächters, der die Hofstätte umkreiste, dann bellte halblaut der Hofhund. »Da stehen wir,« sagte er endlich, »zwei echte Abenteurer in der feindlichen Burg. Ob wir etwas daraus forttragen, ist sehr zweifelhaft,« fügte er hinzu, seinen Freund bedenklich anlächelnd.

»Es ist zweifelhaft,« sagte der Professor, mit großen Schritten die Stube durchmessend.

»Was hast du, Felix?« fragte Fritz besorgt nach einer Pause, »du bist zerstreut, das ist sonst nicht deine Art.«

Der Professor blieb stehen. »Ich habe dir nichts zu sagen. Es sind starke, aber unklare Empfindungen, welche ich zu bewältigen suche. Ich fürchte, dieser Tag hat eine Bedeutung gewonnen, gegen welche ein vernünftiger Mann sich zu wehren hat. Frag' mich nicht weiter, Fritz,« fuhr er fort und drückte diesem kräftig die Hand, »ich fühle mich nicht unglücklich.«

Fritz versank in Bekümmernis, setzte sich zu seinem Bett und spähte nach einem Stiefelknecht. »Wie gefällt dir unser Wirt?« fragte er kleinlaut und ließ, um sorglos zu erscheinen, den Stiefel im Holze knarren.

»Ein tüchtiger Mann,« erwiderte der Professor, wieder stehenbleibend, »seine Art ist anders, als wir's gewöhnt sind.«

»Es ist altsächsischer Stamm,« setzte der Doktor das Gespräch fort, »breite Schultern, Hünenwuchs, offene Züge, Wucht in jeder Bewegung. Auch die Kinder sind von derselben Art,« fuhr er fort, »die Tochter hat etwas von einer Thusnelda.«

»Der Vergleich paßt nicht,« entgegnete der Professor rauh und setzte seinen Marsch fort.

Fritz spannte den zweiten Stiefel in das Joch und knarrte in den leisen Mißklang hinein. »Wie gefällt dir der älteste Knabe? Er hat ganz das helle Haar seiner Schwester.«

»Das ist gar nicht zu vergleichen,« sagte der Professor wieder kurz.

Fritz setzte die beiden Stiefel vor das Bett, sich selbst auf den Bettrand und begann entschlossen: »Ich bin bereit, deine Stimmung zu achten, auch wenn sie mir nicht ganz verständlich ist, aber ich bitte dich doch daran zu denken, daß wir diese Gastfreundschaft uns eigentlich erzwungen haben, und daß wir sie nicht über die Frühstunden des nächsten Tages in Anspruch nehmen dürfen.«

»Fritz,« rief der Prozessor mit tiefer Empfindung, »du bist mein zartfühlender lieber Freund, habe heut Geduld mit mir,« und dabei wandte er sich wieder um und trat, das Gespräch abbrechend, an das Fenster.

Fritz geriet vor Sorgen ganz außer sich; dieser großartige Mann, sicher in allem, was er schrieb, voll von Rat und festem Entschluß vor den dunkelsten Textstellen – und jetzt arbeitete in ihm, was sein ganzes Wesen erschütterte. Wie durfte dieser Mann so gestört werden! Er sah mit majestätischer Klarheit in eine Vergangenheit von mehreren tausend Jahren zurück, und jetzt stand er am Fenster einem Kuhstall gegenüber, und ein Ton klang durch das Zimmer wie Seufzen. Was sollte daraus werden? Diesen Gedanken wälzte der Doktor unablässig hin und her.

Lange ging der Professor mit großen Schritten auf und ab, Fritz stellte sich schlafend, sah aber unter der Bettdecke hervor immer wieder auf den kämpfenden Freund. Endlich löschte der Professor das Licht und warf sich auf das Lager. Bald verrieten seine tiefen Atemzüge, daß die wohltätige Natur auch dies pochende Herz für einige Stunden zu leisem Schlage gebändigt hatte. Aber der Kummer des Doktors hielt hartnäckiger stand. Von Zeit zu Zeit erhob er den Oberleib aus den Kissen, suchte tastend seine Brille vom nächsten Stuhle, ohne die er den Professor nicht ersehen konnte, und spähte durch die runden Gläser nach dem andern Bette hinüber, nahm die Brille wieder mit leisem Seufzen ab und legte sich in die Kissen zurück. Diesen Akt der Freundschaft wiederholte er mehrere Male, bis auch er in festen Schlaf verfiel, kurz bevor die Sperlinge im Rebenlaub ihren Morgengesang anstimmten


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