Gustav Freytag
Die verlorene Handschrift
Gustav Freytag

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Viertes Kapitel

In der Höhle

Das dunkle Wasser gurgelte und strömte zum Tale, der Widerschein des Abendrots glänzte von den Erkerfenstern des alten Hauses, unter dem Stein der Höhle stand allein das Weib des Gelehrten. Wo einst die Frauen der alten Sachsen auf das Rauschen der Waldbäume gelauscht, wo das Weib des gejagten Räubers die Steine geschleudert auf die Verfolger, stand wieder eine flüchtige Tochter des Felsens und sah hinab auf das wilde Treiben der Gewässer und hinauf zu dem Hause, wo der Feind ihres Gatten im Lehnstuhl des Vaters lag. Noch hob sich ihre Brust in tiefen Atemzügen, aber sie blickte freundlich auf den braunen Fels, der sich über ihr zum schützenden Obdach wölbte. Unter ihr wälzte sich wilde Flut und Zerstörung, um sie herum spielte sorglos das kleine Leben der Natur. Die Libellen jagten einander über dem Wasser, die Bienen summten um die Kräuter der Berglehne, die Waldvögel sangen ihr Abendlied. Sie setzte sich auf die Steinbank und rang nach friedlichen Gedanken, sie legte die Hände zusammen und neigte das Haupt; das Wetter, welches durch ihr Inneres gefahren, schwand dahin in der Träne, welche ihr aus dem Auge floß. »Ich will nicht an mich denken, nur an meine Lieben. Die Kleinen werden nach mir verlangen, wenn sie zu Bett gehen, heut hören sie nicht die Stadtgeschichten, die ich ihnen zum Einschlafen erzählen muß. Sie waren alle naß von ihrer Fischerarbeit, und in der Verwirrung wird niemand für trockne Strümpfchen sorgen, ich habe über anderem vergessen, was ihnen nötig war. Der Jüngste besteht eigensinnig darauf, ein Professor zu werden. Mein Knabe, du weißt nicht, was du willst. Was mußt du lernen und an dir ändern! denn die Arbeit, die das Leben an uns tut, ist unermeßlich. Als ich hier neben dem Vater saß, glaubte ich einfältig, daß die Menschen um so edler sind, je höher ihr Amt ist, die vornehmsten unter allen die besten. und daß alles Gewichtige auf Erden groß und mit seinem Geiste gemacht wird. Auch da die beiden Gelehrten kamen und ich an dieser Stelle mit Felix zuerst über Bücher sprach, da wähnte ich noch, was gedruckt zu lesen ist, das müsse ungefälschte Wahrheit sein, und jeder, der schreibt, ein grundgelehrter Mann. So kindisch denken noch viele. Aber ich bin ein Trotzkopf geworden, der sich heftig auflehnt gegen andere, sogar gegen die Worte meines Mannes, der bei mir am höchsten steht.« Sie sah mit trübem Lächeln vor sich hin, aber gleich darauf neigte sie das Haupt, und wieder rannen die Tränen in den Schoß.

Vom Garten herüber erscholl der Zuruf des Bruders. »Holla, Ilse, bist du da? Noch sind die Fremden im Hause, sie binden einen Tragsessel für den Kranken zusammen, er soll nach der Oberförsterei geschafft werden. Der Vater hat zu tun, Boten auszusenden. Auch die Brücke nach Rossau ist mit dem Wasser davongegangen, wir können nicht nach der Stadt und niemand aus der Stadt zu uns. Wir ängstigen uns, wie du zu uns herüberkönntest.«

»Sorge nicht um mich, Hans; sage den Mädchen, »sie sollen unsern lieben Gast nicht vergessen über den Fremden, und grüße mir die Kinder, ich will nicht, daß sie zum Gutenachtgruß an den Wasserrand kommen, denn das Ufer ist glatt.«

Ilse setzte sich an den Eingang der Höhle und blickte in dem Raume umher, erst am Morgen hatte sie hier gesessen; als das hohe Wasser heranfloß, war sie über den Steg geeilt, die Geschwister zu warnen. Noch lag ihre Arbeit auf der Bank und ein Buch, das ihr einst, da sie noch Mädchen war, der Pfarrer geschenkt. Es war das Leben der heiligen Elisabeth, von einem eifrigen Geistlichen ihrer Kirche geschrieben. »Als ich zuerst von dir erfuhr,« dachte sie, »Frau Ilse von der Wartburg, du vornehme Namensschwester, war mir dein Leben rührend, und alles, was du getan und was die Sage von dir erzählt, schien mir ein Beispiel für mich selbst. Du warst ein Weib, fromm, verstandvoll und liebenswert und einem wackern Herrn vermählt. Da machte ihn die Sehnsucht, in seinem Ritterstand besondere Ehre und Kriegsruhm zu erwerben, blind gegen die nächste Pflicht seines Lebens, er verließ dich und die Bauern seiner Heimat und zog in die Fremde und das Land Italien. Wohl zwei Jahre ritt er umher, er kehrte müde und nüchtern zurück. Aber er fand sein liebes Weib nicht, wie er es verlassen. Du hattest dich in der Einsamkeit nach dem Manne gebangt und in deiner Schwermut gegrübelt über die großen Geheimnisse des Lebens. Dein eigenes Dasein war voll Sehnsucht gewesen, darüber warst du zu einer frommen Büßerin geworden. Du trugst das härene Hemd und schwangst die Geißel über deinem Rücken, du beugtest Stirn und Gedanken vor einem unduldsamen Priester. Und du tatest, was nicht recht war und nicht schicklich, du legtest den Aussätzigen, um deinem Gott zu gefallen, in das Bett deines lieben Mannes. In deiner überspannten Frömmigkeit hast du dein warmes Herz und die schamhafte Weiblichkeit verloren. Du wurdest von den Geistlichen heilig gesprochen, aber du arme Frau hattest in deinem Ringen um das, was sie die Gnade Gottes nannten, menschliches Gefühl und milde Sitte hingeopfert. Es ist nicht gut, Ilse, wenn Mann und Frau sich ohne zwingende Not voneinander scheiden.

»Wer gegen den Geliebten hart wird, der begeht dies Unrecht doch nur, weil er selbst ihm Leids getan oder weil er sich von ihm gekränkt meint. Woher kam es doch, daß du erkrankte Fremdlinge auf dem Lager pflegtest, das dein Gatte verlassen? Ich fürchte, heilige Elisabeth, es war der Trotz gekränkter Liebe und es war die geheime Rache über die lange vergebliche Sehnsucht nach deinem Gatten. Dein Beispiel ist für uns keine Lehre, es ist eine Warnung. Meine alte Freundin Penelope, das arme heidnische Fabelweib, war menschlicher, und sie war eine bessere Frau als du. Sie weinte jede Nacht um den Geliebten, und als er endlich zu ihr zurückkam, da schlang sie ihre Arme um ihn, weil er die geheimen Zeichen des Lagers noch kannte.«

Wieder klang es von der andern Seite des Wassers. »Hörst du mich, Ilse?« rief der Landwirt am Uferrand.

»Ich höre, Vater,« antwortete Ilse, sich erhebend.

»Die Fremden ziehen zum Hofe hinaus,« sagte der Vater, »der Kranke ist so schwach, daß er andern schwerlich zu schaden vermag; du aber bist in Wahrheit von uns geschieden. Es dunkelt und es ist keine Aussicht, zur Nacht den Steg über das Wasser zu zimmern. Geh auf deiner Seite talab über die Hügel nach Rossau, dort bleibe bis morgen bei unsern Bekannten. Es ist ein weiter Umweg, aber du kannst vor Nacht dort sein.«

»Ich bleibe hier, mein Vater,« rief Ilse hinüber, »der Abend ist mild, es sind nur wenige Stunden bis zum nächsten Morgen.«

»Mir ist's hart, Ilse, daß mein wildes Kind unter dem Felsen ruhen soll im Angesicht ihres Hauses.«

»Sorge nicht um mich. Der Mond geht über mir und die Sterne; du weißt, ich fürchte mich nicht vor den Zwergen der Höhle, und auf meinen Bergen auch nicht vor Gewalt der Menschen.«

Die Dämmerung des Abends sank über das tiefe Tal, aus dem Wasser hob sich der Nebel, er schwebte langsam von Baum zu Baum nach der Höhe, er wogte und ballte sich und zog zwischen Ilse und dem Vaterhaus seine dämmrigen langen Schleier. Die Stämme der Bäume, das Schieferdach des Hauses verschwanden, die Höhle schwebte in Wolken und Luft, gelöst von der übrigen Erde, unter undeutlichen Schatten, sie hingen sich an das Tor des Felsens und flatterten an Ilses Füßen dahin, sie fuhren zusammen und zerflossen.

Ilse saß am Stein des Einganges, die Hände über das Knie gefaltet, in ihrem hellen Gewande selbst einem Fabelweibe aus alter Zeit, einer Herrin der schwebenden Schatten vergleichbar. Sie blickte auf ihrer Uferseite entlang nach dem Bergweg, der von Rossau herführte.

Da schallte dumpf durch den Nebel der ferne Schritt des Wanderers, dem eine hilfreiche Göttin seinen Pfad in dunkeln Wolken verbarg. Ilse faßte an den feuchten Stein. Neben ihr am Boden bewegte sich's, undeutlich huschte etwas vorüber, vielleicht eine Nachtschwalbe oder Eule. »Er ist es,« sagte Ilse leise, sie stand langsam auf, aber die kräftige Frau bebte und hielt sich an den Felsen.

Aus dem weißen Dunst trat die Gestalt eines Mannes, auch er hemmte erstaunt seinen Schritt, als er das Weib an der Felswand stehen sah. »Ilse,« rief eine helle Stimme.

»Ich erwarte dich hier,« rief sie leise. »Halte dort still, Felix. Du findest dein Weib nicht, wie du es verlassen. Ein andrer hat sich begehrt, was dir gehört, ein giftiger Hauch hat mich getroffen, man hat gewagt, mir Worte zu sagen, welche ein ehrliches Weib nicht hören darf, und man hat mich betrachtet wie eine gekaufte Sklavin.«

»Du hast dich dem Feinde entzogen.«

»Ich habe es getan, darum stehe ich hier. Aber ich bin in den Augen der Leute nicht mehr, wie ich einst war. Du hattest ein säuberliches Weib; die jetzt vor dir steht, ist im Gerücht wegen Vater und Sohn.«

»Geräusch der Zungen verklingt wie der Wasserschwall vor deinen Füßen. Wenig gilt, was die andern meinen, wenn wir getan haben, was uns selbst befriedigt.«

»Mir tut wohl. daß dir die einzelnen Menschen so wenig sind gegen deine Gedanken. Aber ich bin nicht so stolz und frei. Ich berge mein Leid, aber ich fühle es immer. Ich bin erniedrigt vor mir und ich fürchte, Felix, auch vor dir. Denn ich habe mir mein Unglück selbst bereitet, ich bin zu herzlich gewesen gegen Fremde und ich habe ihnen ein Recht gegeben über mich.«

»Du bist erzogen im Glauben an die Autorität. Wer löst sich von frommer Gläubigkeit ohne Schmerzen?«

»Ich bin erwacht, Felix. Antworte mir noch einmal,« fuhr sie mit stockendem Atem fort, »wie kommst du zu mir zurück?«

»Als ein müder, irrender Mann, der das Herz und die Vergebung seines Weibes sucht.«

»Was hat dir dein Weib zu vergeben, Felix?« fragte sie wieder.

»Daß mir die Augen geblendet wurden bei meinem Suchen und daß ich der nächsten Pflicht vergessen, um ein Traumbild zu jagen.«

»Ist das alles, Felix? Hast du mir dein Herz zurückgebracht, wie es sonst gegen mich war?«

»Liebe Ilse,« rief der Gatte, sie umschlingend.

»Ich höre den Ton deiner Liebe,« rief sie leidenschaftlich und warf ihre Arme um seinen Hals. Sie zog ihn in die Grotte, strich ihm mit den Händen die Wassertropfen aus dem feuchten Haar und küßte ihn auf den Mund. »Ich halte dich, geliebtes Leben, ich klammere mich fest an dich und keine Gewalt soll mich mehr von dir scheiden. Hier sitze, vielduldender Wanderer, ich halte deine Schultern und dein Haupt, laß mich aus deinem Munde hören allen Kummer, den du erlebt.«

Der Gelehrte hielt sein Weib im Arm. Er fühlte ihr Beben, als er von seinen Abenteuern berichtete. »Mich hetzte heißer Zorn und Angst hinter dem Fürsten her auf dem Wege nach Rossau,« schloß er seinen Bericht, »unerträglich schien mir der Aufenthalt beim Wechsel der Pferde. Unten in der Stadt traf ich ein Wagengetümmel, ärger wie am Markttag, vor der Herberge Gewirr der Räder, Geschrei der Menschen, Landleute und Lakaien des Hofes, welche nicht über das Wasser kamen. In der Stadt erfuhr ich von Fremden, daß der Feind unseres Glückes durch die Hand des Schicksals getroffen ward, die in dem Wasser nach seinem Leben schlug. Man rief mir entgegen, daß die Brücke zu dir gebrochen sei, ich sprang aus dem Wagen, um den Fußpfad über die Berge zu suchen und den Weg hinter dem Garten. Da fuhr mir der Hund unseres Hauswirts um die Beine, ein Kutscher unserer Stadt trat grüßend zu mir und erzählte, daß er Fritz und Laura nach der Stadt gebracht, sie aber waren hinausgegangen, weit unten stromab einen Übergang zu finden. Du magst denken, daß ich zu warten nicht vermochte.«

»Ich wußte, daß du diesen Weg suchen würdest,« rief Ilse. »Heut bist du zu mir gekommen, zu mir allein, nur mir gehörst du an, heut bist du mir aufs neue geschenkt, und zum zweitenmal gelobst du dich mir. Die Menschenwohnungen um uns sind verschwunden, wir beide stehen einsam in dem wilden Geklüft der Zwerge, du, mein Felix, dem die ganze Welt gehört, der alle Geheimnisse des Lebens kennt, Vergangenes weiß und Künftiges ahnt, du hast jetzt nichts als die Decke dieser Felskluft und das Grastuch der armen Anna, worein ich dir die müden Glieder hülle. Noch ist der Stein warm, und ich streue dir das Gras unseres Berges zum Lager. Nichts hast du in der Wildnis, mein Held, als Fels und Kraut und die Ilse an deiner Seite.«

Jetzt ist stille Nacht, leiser rauscht die Strömung, um die Brombeerranken über der Höhle hängt sich der weiße Nebeldunst zu dichtem Vorhange. Dämmrige Schemen gleiten das Tal entlang, sie schweben in langem, weißem Gewande am Felstor vorüber, hinab in das Freie, wo sie ein frischer Lustzug zerweht. Hoch oben spannt der Mond sein weißes schimmerndes Zelt, aus Lichtstrahlen und Wasserdunst gewebt, über das Tal, und lustig lacht der alte Gaukler herab auf die Felsgrotte. Wie das täuschende Mondlicht die Sterblichen neckt durch wesenlosen Schein, so necken sie sich selbst durch die Bilder ihrer Phantasie, in Liebe und Haß, in Laune und Zorn; ihr Leben verrinnt, indem sie ihrer Pflicht gedenken und dabei irren, die Wahrheit suchen und dabei träumen. Der Geist fliegt hoch und das Herz schlägt warm, aber der Kobold Phantasie wirtschaftet unablässig zwischen dem Ernst des Lebens, der Klügste täuscht sich selbst, und den Besten betrügt sein Eifer.

Schlummre in Frieden, Frau Ilse. Du sitzest auf der Steinbank und hältst das Haupt deines Gatten im Schoß, selbst in der Seligkeit dieser Stunde fühlst du noch das Leid, das dir und ihm geschehen, und ein leiser Seufzer schwirrt wie ein Nachtfalter an dem Gestein der Höhle. Schlummre in Frieden. Denn du hast in diesen Wochen erlebt, was dir Gewinn wird für alle Tage deiner Zukunft. Du hast gelernt, aus der Tiefe deines eigenen Lebens Urteil zu holen und entscheidenden Entschluß. Sieh, Ilse, der leichtgebauten Erzählung von dem, was du erlittest, wollte nicht geziemen, die hohen Fragen über das Ewige, die du erhobst, den Zweifel und deine Gewissenskämpfe einzeln aufzuzählen. Das wäre zu schwere Ladung für den flüchtigen Nachen. Aber wie der rudernde Schiffer, welcher das Auge nach unten richtet, doch die Himmelswolken im Widerscheine der Flut erkennt, so wird deine innere Befreiung aus dem Widerschein deiner Gedanken sichtbar, aus Antlitz und Gebärde und aus deinem Tun.

Schlummert ruhig, ihr Kinder des Lichtes, manche Hoffnung ward euch getäuscht und mancher holde Glaube ist durch rauhe Wirklichkeit zerstört. Gestalten vergangener Zeit, Gestalten, die ihr mit Ehrfurcht in eurem Herzen getragen, haben lebendig auch in euer Leben gegriffen. Denn was der Mensch denkt und was der Mensch träumt, das gewinnt eine Gewalt über ihn; was einmal in die Seele gefallen, das wirkt lebendig darin fort, erhebend und treibend, herabziehend und zerstörend. Auch um euch erhob sich ein Spiel phantastischer Träume. Tat es euch weh in einzelnen Stunden, die Kraft eures Lebens hat es doch nicht geschädigt, denn die Wurzeln eures Glückes liegen so tief, als dem Menschen, der vergänglichen Blüte der Erde, im Boden zu haften vergönnt ist. Schlummert friedlich unter dem Dach des wilden Felsens, Wärme haucht der Stein um euer Lager, und die uralte Wölbung der Decke spannt sich schützend über die müden Augen. Um euch ruht und träumt der Wald; am Eingange der Höhle sitzen die alten Bewohner des Felsens, weiß nicht, sind es die Erdmännchen, an welche Ilse nicht glaubt, oder sind es alte Freunde des Gelehrten, die kleinen geißfüßigen Pane, welche ihr Waldlied auf der Rohrpfeife blasen. Sie halten ihre Finger an den Mund und hauchen zuweilen leise in ihr Rohr, daß es zu dem Rauschen des Wassers tönt, wie der sanfte Laut eines schlafenden Vogels.


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