Gustav Freytag
Die verlorene Handschrift
Gustav Freytag

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Drittes Kapitel

Auf dem Weg zum Steine

Zu der stillen Landstadt, welche einst fromme Ansiedler um die Klosterglocke betender Mönche erbaut, zu dem Steine, worauf einst die Heidenjungfrau ihrem Stamm weissagende Worte geraunt, stiegen jetzt auf verschiedenen Straßen Rosse und Räder mit lebenden Menschen, welche Entscheidung ihres Schicksals suchen, hier fröhlich aufsteigendes Hoffen, dort abwärts geneigte Kraft, hier holder Traum einer schwärmerischen Jugend, dort wüster Traum eines finstern Geistes. Im Tal und über dem Stein schweben die Geister der Landschaft, sie rüsten sich, die flüchtigen Fremden nach dem Gastrecht der Heimat zu empfangen.

Das erste Morgengrauen sandte seinen bleichen Schimmer in Lauras Arbeitsstube, sie stand an ihrem Memoirentisch und warf den letzten Blick nach dem vertrauten Buch, in welches sie mit flüchtiger Hand die Schlußworte geschrieben hatte. Sie schnürte das Buch und die Gedichte des Doktors zusammen und barg sie unter dem Deckel ihres Reisekoffers. Noch einen langen Blick warf sie auf das Heiligtum ihrer Mädchenjahre, dann flog sie die Treppe hinab in die Arme der ängstlichen Mutter.

Es war eine wundervolle Entführung, ein stiller Sonntagmorgen, geheimnisvolle Dämmerung, am Himmel düstere Regenwolken, welche schauerlich von einem dunkelroten Morgenschein abstachen. Laura lag lange in den Armen der weinenden Mutter, bis Köchin Susanne zum Aufbruch drängte, dann schlüpfte sie aus dem Haus auf die Straße, wo der Doktor sie erwartete, und eilte neben ihm zu dem Wagen. Denn der Wagen war jenseit der Ecke an einen einsamen Platz bestellt, nicht vor das Haus, darauf hatte Laura bestanden. Es war eine wundervolle Entführung, ein bescheidener und wackerer Reisegenosse, das Haus der geliebten Freundin als Reiseziel, zuletzt eine große Ledertasche mit kaltem Braten und anderem Vorrat, welchen Frau Hahn selbst in den Wagen trug, um ihren Sohn und Laura noch einmal zu küssen und mit Tränen zu segnen.

Aber, um in der Sprache des abwesenden Herrn Hummel zu reden, wenn unser Herrgott im Kutschwagen fährt, sitzt der Teufel auf der Pechbüchse. Hier setzte sich der Teufel auf den kalten Braten. Speihahn nämlich hatte in den letzten Tagen sein vereinsamtes Dasein schwer ertragen. Seit der Abreise des gelehrten Oberstocks war er immer mißvergnügt gewesen, seit vollends der Hausherr verschwunden war, fehlte seinem Leben die Anerkennung, welche auch ein Bösewicht ungern entbehrt. Heut sah er mit kaltem Blinzeln, wie Laura um die trauernde Mutter schwebte, er sah mit einem Schielblick die heftigen Bewegungen der Köchin Susanne, welche den großen Reisekoffer zum Wagen trug, dann trollte er auf die Straße, um dort seinem Haß gegen das Nachbarhaus Ausdruck zu geben. Als aber Frau Hahn mit der Ledertasche zum Wagen eilte, merkte er ein Unheil und war bei der Hand. Er schlich der Nachbarin nach, und während diese aus den Wagentritt stieg, um ihren Fritz vor der rauhen Morgenluft zu warnen und Laura noch einmal zu küssen, benutzte Speihahn den Futtersack, welchen der Kutscher an die Vorderräder gestellt hatte, sprang hinauf und fuhr unter die Lederschürze des Kutschers, entschlossen, seine Zeit zu erwarten. Der Kutscher setzte sich, fühlte mit seinem Fuß an das zweideutige Wesen, er nahm an, daß der Hund zur Reisegesellschaft gehöre, hob unternehmend seine Peitsche und setzte den Entführungswagen in Bewegung. Noch ein Blick und Zuruf an die Mutter, und die waghalsige Fahrt begann.

Lauras Seele bebte unter dem Druck der leidenschaftlichen Gefühle, welche die langersehnte und gefürchtete Stunde hervorrief. Die Häuser der Stadt entschwanden, die Pappeln der Landstraße tanzten vorüber. Sie sah ängstlich auf ihren Fritz und faßte mit den Fingerspitzen seine Hand. Fritz lachte und drückte die Hand kräftig.

An seinem Mut richtete sie sich ein wenig auf. Sie sah ihm zärtlich in das treue Gesicht. »Der Morgen ist kühl,« begann Fritz, »erlauben Sie, daß ich Ihnen den Mantel schließe.«

»Mir ist sehr wohl,« versicherte Laura und fuhr mit der zitternden Hand aus dem Mantel, um sich wieder mit ihren Fingerspitzen an dem Geliebten zu halten.

So saßen sie schweigend nebeneinander, die Sonne guckte verschämt aus ihrer roten Gardine hervor und lachte Laura an, daß diese die Augen schloß. Ihr ganzes Kinderleben flog in flüchtigen Bildern an ihr vorüber. Zuletzt die bedeutsamen Worte, welche sie bei den jüngsten Besuchen von ihren Freundinnen gehört. Die Pate hatte zu ihr gesagt: komm bald wieder, Kind. Laura hatte bewegt gefühlt, daß das Wiedersehen in einer unabsehbaren Ferne lag. Ihre Gevatterin hatte herzlich gefragt: wann sehen wir uns wieder? In Laura klang rührend als Echo: wer weiß, wann. Rings um sie aber regte sich der junge Tag, ein Taubenschwarm flog über das Feld, ein Hase rannte längs dem Wege wie zum Wettlauf, ein prächtiges Büschel blauer Blumen stand am Grabenrand, rund umher glänzten die roten Dächer aus dem Kranz der Obstbäume, alles auf der Erde hoffnungsgrün, blühend und wogend im Morgenwind. Landleute kamen ihnen entgegen, welche nach der Stadt zogen, ein Bäuerlein saß aus seinem Wagen, der Rauch aus seiner Pfeife wirbelte lustig in der Luft, er nickte zu Laura Guten Morgen, und Laura hielt ihre freie Hand hinaus, als wollte sie der ganzen Mitwelt einen Gruß senden. Mit ihrem kleinen Wagen kam die Milchfrau, welche an der Straßenecke feilbot, auch diese grüßte: »Guten Morgen, Fräulein.« Laura fuhr zurück und sah Fritz erschrocken an: »Sie hat uns erkannt.«

»Kein Zweifel,« bestätigte der Doktor lustig.

»Sie ist geschwätzig, Fritz, sie kann's nicht verschweigen, sie erzählt's allen Dienstmädchen unserer Straße, daß wir zusammen diesen Weg gefahren sind. Mir wird angst, Fritz.«

»Wir fahren spazieren,« frohlockte der Doktor, »wir fahren zum Besuch bei irgend jemandem, wir sollen auf dem Lande miteinander Paten stehen, machen Sie sich um diese Kleinigkeiten keine Sorge.«

»Bei dem Patenstehen fing's an, Fritz,« versetzte Laura beruhigt. »Die Katzenpfoten haben alles verschuldet.«

»Ich weiß nicht,« meinte Fritz schlau, »ob das Unglück nicht schon weit früher anfing. Sie waren noch ein kleines Mädchen, da erhielt ich schon einen Kuß.«

»Davon weiß ich nichts,« sagte Laura.

»Es war um einen Korb bunter Bohnen, den ich Ihnen aus unserm Garten brachte. Ich forderte den Kuß. Sie ließen sich den Preis gefallen, aber Sie fuhren sich gleich darauf mit der Hand über den Mund. Sie gefielen mir seit damals besser als alle andern.«

»Sprechen wir nicht von solchen Dingen, Fritz,« wehrte Laura ängstlich, »meine Erinnerungen aus der Urzeit sind nicht alle so harmlos.«

»Ich bin immer kurz gehalten worden,« rief Fritz, »auch heut. Es ist eine Schande. Das kann nicht so fortgehen, es wird ein ernstes Aussprechen darüber vor allem nötig. Wenn man zusammen reist wie wir beide, will sich nicht schicken, daß man das steife Sie gegeneinander gebraucht.«

Laura sah ihn vorwurfsvoll an. »Heut nicht,« sagte sie leise.

»Das hilft nun nichts,« rief Fritz entschlossen. »Ich lasse mich nicht länger als Fremden behandeln. Erst einmal habe ich das ehrliche Du gehört, und dann nicht wieder. Mir tut es weh.«

Das war nun Laura leid. »Aber nur, wenn wir ganz allein sind,« bat sie.

»Ich schlage Brüderschaft vor,« fuhr Fritz ungerührt fort, »ein für allemal, man verspricht sich sonst nur und es gibt Verwirrung.« Er bot ihr seine Hand, die sie ein wenig schüttelte, dabei machte sich's, daß seine Wange der ihren nahekam, und ehe sie sich's versah, fühlte sie einen Kuß auf ihren Lippen.

Sie sah ihn zärtlich an, aber gleich darauf fuhr sie zurück und drückte sich in ihre Wagenecke. Fritz war heute weit anders als sonst, er sah unternehmend und trotzig aus. Zu Hause war er immer bescheiden gewesen, Laura hatte bei sich schon mehr als einmal an die Brüderschaft gedacht; »wenn zwei Menschen so mit ganzer Seele einander gehören, sollen sie sich das auch sagen,« hatte sie in ihr Buch geschrieben. Jetzt machte er wenig Umstände. Er legte sich kühn aus dem Wagen. Wenn Reisende entgegenkamen, beugte er sich gar nicht zurück wie sie seit der Milchfrau, sondern sah herausfordernd auf die Leute und grüßte zuerst. »Ich muß von den Indern anfangen,« dachte sie, »damit ich ihn auf andere Gedanken bringe.« Sie fragte ihn nach dem Inhalt der Weda.

»Heut kann ich mich gar nicht darauf besinnen,« rief Fritz ausgelassen. »Mir ist so glücklich zumute, daß ich nicht an die alten Bücher denken mag. Sie haben vier Abteilungen, in jeder finde ich nur einen Gedanken: Laura, das geliebte Mädchen, wird mein. Ich möchte im Wagen tanzen vor Freude.« Und er hüpfte auf seinem Sitz in die Höhe wie ein kleiner Junge.

Fürchterlich war Fritz verwandelt, sie kannte ihn nicht wieder, sie entzog ihm ihre Hand, wickelte sich in ihr Tuch und sah ihn mißtrauisch von der Seite an.

»Der Himmel hüllt sich in Wolken,« sagte sie mit trüben Ahnungen.

»Oben drüber scheint die Sonne,« versetzte Fritz behaglich, »sie kommt in wenig Augenblicken wieder hervor. Ich schlage vor, die große Ledertasche zu untersuchen, welche die Mutter mitgegeben hat, ich hoffe, es ist etwas Gutes darin.«

Die Prosa der Familie Hahn verriet sich. Laura sah mit geheimem Kummer, wie eifrig der Doktor in der Tasche kramte. Indes auch sie hatte in der Aufregung wenig des Frühstücks gedacht, und als Fritz ihr den Inhalt bot, streckte sie doch die kleine Hand danach aus, und beide aßen herzhaft.

Der Platz neben dem Kutscher verdunkelte sich, ein unförmlicher Kopf fuhr um das Fenster, ein mißtönendes Knurren wurde im Wagen gehört. Laura wies erschrocken auf den Kopf. »Wehe uns, da ist wieder der Hund.« Auch der Doktor sah zornig auf die feindliche Gestalt. »Wir jagen ihn hinunter,« rief Laura, »er mag nach Hause laufen.«

»Er findet sich schwerlich nach Hause,« wendete der Doktor bedenklich ein, »was wird dein Vater sagen, wenn er ihm verloren geht?«

»Er war der Feind meines Lebens,« rief Laura empört, »und jetzt sollen wir ihn in die Welt mitnehmen? Das ist unerträglich, das ist eine schlimme Vorbedeutung, Fritz.«

»Vielleicht begegnet uns ein Wagen, der ihn zurücknimmt,« tröstete der Doktor. »Unterdes kann er nicht verhungern.« Er reichte ihm trotz des Abscheues, den er ihm redlich gönnte, ein Frühstück hinaus, der Hund verschwand wieder unter der Wagendecke.

Laura aber blieb verstört. »Fritz, lieber Fritz,« rief sie plötzlich, »lassen Sie mich allein.«

Der Doktor sah erstaunt zu ihr hinüber. »Das ›Sie‹ war ein orthographischer Fehler und muß gebüßt werden.« Er näherte sich wieder ihrem Munde. Laura fuhr zurück. »Wenn Sie mich lieben, Fritz, so lassen Sie mich jetzt allein,« rief sie händeringend.

»Wie kann ich das?« fragte Fritz, »wir fahren ja miteinander in die Welt.«

»Setze dich zum Kutscher auf den Bock,« bat Laura flehentlich. Sie sah so ernst und gedrückt aus, daß Fritz gehorsam halten ließ, aus dem Wagen stieg und zum Kutscher hinaufkletterte. Laura holte tief Atem, sie wurde ruhiger. Ihr Wort hatte Einfluß auf ihn. Wie wild er auch war, er tat doch manches nach ihrem Gefallen. Sie saß allein, ihre Gedanken flogen wieder mutiger in das Land hinaus. Der Doktor wandte sich häufig um, klopfte an das Fenster und fragte, wie es ihr gehe. Er war doch sehr zartfühlend und liebevoll um sie besorgt.

»Auf mir liegt die ganze Verantwortung für seine Gesundheit,« dachte sie; »was bis jetzt seine liebe Mutter für ihn getan, das wird meine Pflicht. Eine süße Pflicht, geliebter Fritz. Vor Nachtarbeiten werde ich ihn hüten, denn seine Gesundheit ist zart, und alle Tage führe ich ihn spazieren, auch bei rauhem Wetter, damit er sich daran gewöhnt.« Sie sah zum Wagen hinaus, der Wind schüttelte die Baumblätter, sie klopfte von innen an das Fenster. »Fritz, es ist windig, Sie haben keinen Schal um.«

»Ich soll ja keinen mehr umhaben,« rief der Doktor von außen, »diese Verweichlichung wird nicht mehr gestattet.«

»Ich bitte, Fritz, seien Sie kein Kind, nehmen Sie ihn um, Sie werden sich sicher erkälten.«

»Mit ›Sie‹ nehme ich ihn nun gar nicht.«

»Nimm ihn, Herzensfritz, ich beschwöre dich,« flehte Laura.

»Das klingt anders,« sagte Fritz. Das Fenster wurde geöffnet, der Schal wanderte hinaus.

»Er ist eisenfest,« sagte Laura, sich wieder auf ihrem Sitz zurechtrückend. »Wie gefällig er aussieht, er weiß sehr genau, was er will, und er wird mir nicht nachgeben, wo seine Überzeugung ihm das nicht erlaubt. Das ist auch gut so, denn ich merke, ich bin immer noch ein kindisches Ding und der Vater hat recht, ich brauche einen Gatten, der ruhiger in die Welt sieht als ich.«

Es fing an zu regnen. Der Kutscher zog seinen Mantel hervor, Fritz breitete seine Decke aus und hüllte sich hinein. Ihr wurde angst um den Fritz, wieder klopfte sie an das Fenster. »Es regnet, Fritz.« Das konnte der Doktor nicht leugnen. »Kommen Sie herein, Sie werden naß und erkälten sich.«

Der Wagen hielt, Fritz kletterte wieder gehorsam in das Innere, Laura wischte die kleinen Tropfen auf dem Haar seiner Decke mit ihrem Taschentuch ab.

»Viermal ›Sie‹ gesagt,« begann Fritz strafend. »Wenn das so fort geht, wirst du eine große Rechnung zahlen.«

»Sei ernsthaft,« bat Laura, »mir ist feierlich zumute; ich denke an unsere Zukunft. Ich will darauf sinnen Tag und Nacht, Geliebter, daß du die Mutter nicht entbehrst. Deine liebe Mutter hat dir bis jetzt den Kaffee hinaufgetragen, das ist ungemütlich, du kommst zu mir herüber und nimmst dein Frühstück mit mir ein. Diese halbe Stunde muß mir Indien abtreten. Um zehn Uhr schlage ich dir ein Ei und schicke es dir hinüber, am Mittag kommst du wieder zu mir herüber, ich sorge für gute Küche, wir leben einfach, wie wir beide gewohnt sind, aber kräftig. Dann erzählst du mir schnell etwas aus deinen Büchern, damit ich weiß, was mein Mann treibt, denn dies ist das Recht der Frau. Am Nachmittag treffen wir uns auf der Straße.«

»Wieso?« fragte Fritz, »herüber, hinüber und auf der Straße, wir wohnen ja doch zusammen.«

Laura sah ihn mit großen Augen an, langsam überzog die Röte ihr Gesicht bis an die Schläfe.

»Wir können als Mann und Frau doch nicht in verschiedenen Häusern wohnen?«

Laura hielt die Hand vor die Augen und schwieg. Da sie nicht antwortete, zog ihr Fritz leise die Hand vom Gesicht, große Tränen liefen von ihrer Wange herab. »Meine Mutter,« weinte sie leise. So rührend war der Ausdruck ihres Wehes, daß Fritz mitfühlend sagte: »Gräme dich nicht drum, Laura, wir wohnen, wie du willst, und wir leben ganz, wie dir's recht ist.« Aber auch die freundlichen Worte vermochten das arme Herz nicht zu trösten, um welches sich die mädchenhafte Angst vor der Zukunft legte. Der bunte Nebel war zerflossen, mit welchem ihre kindliche Phantasie sich das freie Leben in der Nähe des Geliebten verhüllt hatte.

Sie saß schweigend und finster.

Der Kutscher hielt vor einer Dorfherberge, seine Pferde und sich selbst zu erquicken. Die junge Wirtin stand, ihr Kind auf dem Arm, in der Tür, sie trat an den Wagen und lud artig ein, abzusteigen. Laura sah unsicher den Doktor an, er winkte, der Wagenschlag wurde geöffnet, Laura setzte sich vor der Tür auf eine Bank und tat, um die Sicherheit einer Reisenden zu erweisen, Familienfragen an die junge Frau. Die Frau antwortete zutraulich: »Es ist das erste Kind, wir sind erst seit zwei Jahren verheiratet. Um Vergebung, Sie sind auch junge Eheleute?« Laura erhob sich schnell, wieder glühte ihre Wange feuriger als die aufgehende Sonne, während sie ein leises Nein erwiderte.

»Na, dann sicher Brautleute,« sagte die Frau, »das sieht man auf zehn Schritt.«

»Woran wollen Sie das erkennen?« fragte Laura, ohne die Augen aufzuschlagen.

»Man hat so seine Zeichen,« versetzte die Frau, »wie Sie nach dem Herrn ausschauten, das war deutlich genug.«

»Getroffen!« rief der Doktor glücklich, aber auch ihm war die Wange etwas gerötet. Laura wandte sich ab und kämpfte um Fassung. Das Geheimnis ihrer Reise lag offen vor jedermanns Blick. In der Stadt wußten sie es, auf dem Dorfe sprachen sie davon. Sie war Braut geworden durch fremde Zungen. Die Eltern hatten ihr nicht die Hand in die des Geliebten gelegt, keine ihrer Freundinnen hatte ihr Glück gewünscht, jetzt kam die Fremde auf der Landstraße und sagte ihr auf den Kopf zu, was sie war. »Hätte die Frau erst alles gewußt, daß ich von Fritz Hahn heimlich entführt bin ohne Verlobung und ohne Brautstand, welches Gesicht würde sie gemacht haben?« Laura rang unter dem Mantel die Hände, sie stieg in den Wagen, bevor der Kutscher die Krippe wegsetzte, und wieder rannen ihr die Tränen aus den Augen. Der Doktor, welcher von dieser Stimmung nichts ahnte, wollte einsteigen. »Bitte,« rief Laura außer sich, »setzen Sie sich zum Kutscher, mir ist sehr traurig ums Herz.«

»Weshalb?« fragte Fritz leise.

»Ich habe ein frevelhaftes Spiel getrieben,« rief Laura, »Fritz, ich möchte wieder umkehren. Was wird die Frau von mir denken? Sie hat recht gut gesehen, daß wir nicht verlobt sind.«

»Sind wir's denn nicht?« fragte der Doktor verwundert, »ich betrachte mich entschieden als Bräutigam, und die Freunde, zu denen wir reisen, werden die Sache genau so ansehen.«

»Ich beschwöre Sie, Fritz, lassen Sie mich nur jetzt allein; was ich fühle, kann ich keiner Menschenseele gestehen; bin ich ruhiger, so werde ich klopfen.«

Fritz kletterte wieder auf den Kutscherbock. Laura verlebte in der Einsamkeit ihres Wagens eine trostlose Stunde.

Sie fühlte etwas Fremdes an ihrem Mantel, sah erschreckt auf den leeren Sitz und fuhr zurück, neben ihr saß der Dämon, der Feind ihres Lebens, der rote Hund. Er stemmte seine Vorderbeine breit auseinander und hob seinen Schnurrbart hoch in die Luft, als wollte er sagen: Jetzt entführe ich. Der Doktor ist auf den Bock gesetzt, und ich, der alte Händelmacher, der Menschenfeind, ich, der an vielem Schmerz der Dichterseele neben mir schuld ist, der in ihrem Tagebuch durch Vers und Prosa verwünscht wurde, ich, die gemeine und unwürdige Wirklichkeit, welche vor ihren Füßen lag, ich sitze hier neben der Entführten, ein düsteres Bild ihres Schicksals, Gespenst ihrer Jugend und böses Omen für ihre künftigen Tage, ich lagere an der Stelle, wo ihre kindische Poesie lange einen andern hinträumte, und ich höhne ihre Tränen und ihre Not. Er leckte seinen Bart und blickte unter seinen langen Haaren verächtlich auf sie. Und Laura pochte an das Fenster, um selbst den Wagen zu verlassen und sich auch auf den Bock zu setzen.

 

Unterdes saßen die Mütter sorgenvoll in den feindlichen Häusern. Seit die Tochter abgereist war, zagte Frau Hummel vor dem Zorn ihres Gatten. Von Laura wußte sie, daß ihr Mann gegen die Reise nach Bielstein nichts hatte und sich nur unwissend stellte, um sein trotziges Wesen gegen die Nachbarn zu behaupten. Aber was dahinter lag, ahnte er nicht; wenn zur Entscheidung kam, was nun mit Laura und dem Doktor werden sollte, war von ihm noch alles zu fürchten. Frau Hummel hatte die Reise beordert, um den Haustyrannen zur Einwilligung zu zwingen, jetzt wurde sie mißtrauisch gegen ihre eigene Klugheit. In ihrer Not warf sie die Mantille über ihr Morgenkleid und eilte aus dem Hause, um bei der Nachbarin Trost zu holen.

Das Herz der Frau Hahn war durch ähnliche Sorgen bewegt, auch sie war bereit, in Morgenkleid und Mantille bei Frau Hummel vorzusprechen. Die Frauen trafen außerhalb der Häuser zusammen, ein Austausch mütterlicher Sorgen begann. Sie benutzten den neutralen Boden, der zwischen den feindlichen Gebieten lag, zu leisem Wechselverkehr und vergaßen darüber, daß sie auf der Straße standen. Die Glocken läuteten, die Kirchgänger kehrten nach Hause, immer noch standen sie beieinander und sorgten um Vergangenes und Künftiges. Da näherte sich ihnen in gewähltem Gewande der Mime. Schon von weitem machte er eine dramatische Handbewegung, welche angelegentlichen Gruß ausdrückte. Heut sah Frau Hummel mit Sorge auf den geschätzten Gast, sie fürchtete seine Vermutungen und noch mehr die scharfe Zunge. Das Gesicht des Künstlers glänzte vor Freude und seine Bewegungen wurden gefühlvoll. »Welche Überraschung,« rief er im Ton eines warmherzigen Onkels, »welche anmutige Überraschung! Der alte Streit ist abgetan, Blumengewinde ziehen sich von einem Hause zum andern, was der Zwist der Väter verschuldet, sühnt die Liebe der Kinder. Aus warmem Herzen bringe ich meinen Glückwunsch dar.«

»Wie meinen Sie das?« fragte Frau Hummel betroffen, »und was bedeuten Ihre Worte?«

»Entführung,« rief der Mime und hob seine Hand zum Segen.

Die beiden Mütter sahen einander erschrocken an. »Ich muß Sie bitten, bei Ihren Ausdrücken mehr die wirklichen Verhältnisse zu berücksichtigen,« versetzte Frau Hummel, sich an den letzten Trümmern ihres Stolzes aufrichtend.

»Entführung,« rief der Mime wieder freudestrahlend. »Ganz dem Humor dieses Hauses angemessen, es ist ein Meisterstreich.«

»Daß Sie uns nicht beleidigen wollen,« betonte Frau Hummel erregt, »nehme ich im Vertrauen auf alte Freundschaft an. Aber ich muß Sie im Ernst bitten, Ihre Ausdrücke besser zu wählen.«

Der Mime erstaunte über den Widerstand seiner Gönnerin. »Ich wiederhole nur, was mir soeben die Stadtpost gemeldet hat.« Er zog ein zierliches Briefchen aus seinem Rock. »Ich bitte die verehrten Damen, sich selbst davon zu überzeugen.« Er wies das Billett hin und las mit lauter Stimme auf der Straße vor: »Die Verlobung des Doktor Fritz Hahn mit meiner Tochter Laura und die heut morgen ins Werk gesetzte Entführung desselben aus seinem elterlichen Hause zeige ich ergebenst an. Hummel. – Dies entspricht ganz dem Charakter unseres launigen Freundes.«

Noch standen die Frauen fassungslos, da rauschte ein seidenes Kleid von den Granitplatten heran, eilig kam die Frau Pate, ihr Gesangbuch in der Hand, und begann schon von weitem: »Was muß man erleben, ihr bösen Leute! Ist es recht, daß die Hausfreunde erst in der Kirche vom Prediger erfahren müssen, was hier vorgeht?«

»Was meinen Sie?« riefen beide Frauen völlig verwirrt.

»Daß Ihre Kinder heut in der Kirche aufgeboten sind, zum ersten, zweiten und drittenmal. Es gab ein allgemeines Erstaunen, und wie unfreundlich Sie auch gegen uns gehandelt haben, daß Sie ein Geheimnis daraus machten, es war bei allen Bekannten eine innige Freude. Jetzt ist die ganze Stadt voll davon.«

Ohne ein Wort zu reden, flogen die beiden Mütter einander in die Arme. Mitten auf dem Fahrweg der Parkstraße, welche früher Talgasse hieß, gerade zwischen den beiden Haustüren, genau zwischen den beiden Gitterzäunen. Der Mime stand gerührt daneben und bewegte den Arm nach der Brusttasche, und die Frau Pate faltete die Hände.

 

Auch denen vom Gut war es ein unruhiger Sonntag. Während der letzten Nacht war in den Bergen ein Wolkenbruch niedergestürzt und eine wilde Flut wälzte sich über dem Wasserpfade dahin, den sonst der Bach zwischen Wiesen durchlief. Die ältesten Leute erinnerten sich nicht solches Wogendrangs, der Bach war ohnedies hoch angeschwollen seit dem Regen der letzten Wochen, jetzt brauste und donnerte er durch das enge Tal zwischen dem Stein und der Berglehne und übergoß die Felder, wo ihm nicht steiles Land und Fels trotzten. Jäh und zornig schoß das Wasser durch die Enge, es sprudelte über den Felsblöcken und um die Köpfe der Weiden. Auf seiner Oberfläche trug es gemähtes Gras der Wiesen, alte Rohrstengel, abgerissene Baumäste, aber auch Trümmer von Menschenwohnungen, die weiter oben von der Flut erreicht waren. Die Leute vom Gute standen an der Hecke des Obstgartens, sahen schweigend nach dem Strom hinab und nach den Überresten zerstörten Lebens, die er auf seinem Rücken dahintrug. Kam etwas angeschwommen, was von Menschenhand gemacht war, ein Reisigbündel, ein Brett, eine Haustür, dann ging ein Summen durch die Zuschauer. Aber die Kinder liefen geschäftig am Wasserrand entlang und zogen mit Stangen an sich, was sie zu erreichen vermochten. Sie erhoben lautes Geschrei, als von fern ein lebendes Tier heranschwamm, es war ein Zicklein, das auf dem Bretterdach seines Stalles stand. Als das Kleine die Menschen sah, schrie es kläglich und bat um Rettung. Hans legte einen Brunnenhaken aus und faßte das Brett. das Zicklein sprang an das Land, wurde von den Kindern im großen Zuge nach dem Hofe geführt und dort gefüttert.

Ilse stand an dem neuen Steg zu der Grotte. Vor wenig Wochen war er gebaut, jetzt drohte auch ihm die Zerstörung. Schon neigten sich die Stützen zur Seite. Die Übermacht des Wassers arbeitete an den niedrigen Enden und lockerte die Klammern. Um den vorspringenden Fuß des Felsens, welcher die Grotte wölbte, wirbelten die Wasserblasen, die Gewalt des Staues zog tiefe Furchen in der Flut.

»Dort läuft jemand vom Berge,« riefen die Gutsleute. Um die Grotte kam eilig ein Mädchen, ein großes Tuch mit frischgemähtem Berggras auf dem Rücken, ängstlich hielt sie auf der Felsplatte an und zagte, über den gebogenen Steg zu gehen.

»Es ist die Anna des armen Benz,« rief Ilse, »sie darf nicht drüben in der Wildnis bleiben, wirf deine Last ab, frisch Anna, schnell herüber.« Das Mädchen kam flüchtig über den Steg. »Sie soll die letzte sein,« befahl Ilse, »keines von euch betritt das Holz, es hält den Andrang nicht mehr lange aus.«

Der Landwirt kam herzu. »Die Flut verläuft noch diese Nacht, wenn nicht ein neuer Regen fällt, aber des Schadens, den sie tut, werden die Leute lange gedenken. Unten um Rossau sieht's noch ärger aus, das Wasser übergießt die Felder, Hummel ist hinabgeeilt, er sorgt um die Brücke und den Weg, den seine Tochter kommen soll. In unserm Dorf tritt das Wasser in die Stuben der letzten Häuser, die Leute schicken sich an, nach unserm Hofe zu räumen. Geht hinab zu helfen,« befahl er den Gutsleuten, und halblaut fuhr er zu seiner Tochter fort: »Der Prinz ist nach dem Dorf gegangen, dort den Schaden zu betrachten, er will dich sprechen, ist dir's recht, ihn jetzt zu sehen?«

»Ich bin bereit,« sagte Ilse.

Sie ging mit dem Vater längs der Hecke dem Dorfe zu, dort stieg sie zu dem Friedhof hinauf. »Ich bleibe in der Nähe; wenn der Prinz zurückkommt, laß mich rufen.«

Sie stand an dem Mauerrand und sah hinüber nach dem Grabe ihrer lieben Mutter und vor sich auf die Stelle, wo der alte Pfarrer neben seiner Frau ruhte. Die Äste der beiden Bäume, welche sie daneben gepflanzt, hingen ihr über das Haupt. Sie dachte, wie gern ihr alter Freund darüber gesprochen, daß es in der großen Welt im ganzen genau so sei, wie in seinem Dorfe, Natur und Leidenschaften der Menschen überall gleich, und daß man in dem kleinen Tal dasselbe erleben könne, wie im Getümmel der Gewaltigen.

»Hier ist mein Vater der Herr,« dachte sie, »und wir die Herrenkinder, die Leute sind gewohnt, uns zu gehorchen, und sich ebenso freundlich um uns zu kümmern, wie wir um jene dort im Lande. Ihre Kinder konnten auch erleben, wenn ein arggesinnter Wirt auf dem Stein wohnte, was andere erfahren mußten. Aber sie dürfen ihr Recht suchen und sie finden Schutz zu jeder Stunde.

»Wie wird er, der stolze Mann, ertragen, daß sein Weib nicht Recht findet und nicht den Schutz einer stärkeren Macht gegen die Kränkung, die man ihr angetan und ihm? – Wir sollen wohltun unsern Beleidigern. Wenn der böse Herr aus dem Lande jetzt zu mir käme, krank und hilflos, darf ich ihn aufnehmen in meinem Hause, und darf ich mich an sein Lager setzen, obgleich solcher Liebesbeweis mir aufs neue verderblich wird? Ich habe einen weißen Mantel getragen; den Schmutzfleck, den er darauf geworfen, sehe ich jede Stunde, und keine Träne wäscht ihn weg. Er hat mir meinen reinen Mantel genommen, soll ich ihm, wenn er heischt, auch noch meinen Rock geben? Hohes, ehrwürdiges Gebot, das der tote Freund mich lehrte, ich stehe erschrocken vor dir. Denn es ist ein Streit der Pflichten, und der Gedanke an meinen Felix sagt mir nein.

»Ich bin fertig auch mit dem Erbprinzen, wie schuldlos er ist. Ich weiß, er hat sich einst den Zuspruch der einfachen Frau mit warmem Herzen begehrt, und meine Eitelkeit hat mir oft gesagt, daß ich ihm wert bin als eine gute Freundin in seinem vornehmen, einsamen Leben. Furchtbar habe ich gebüßt für diesen eiteln Stolz. Auch er ist mir von jetzt ab ein Fremder. Was kann er noch von mir wollen? Ich ahne, daß er geradeso denkt wie ich, er will nichts, als Abschied nehmen auf immer. Wohl, ich bin dazu gerüstet.«

Den Fußpfad vom Dorf kam der Erbprinz herauf, Ilse blieb an der Kirchhofmauer stehen und neigte sich ruhig seinem Gruß. »Nach der Residenz habe ich den Wunsch gesandt, mit meinem Vetter eine größere Reise zu machen,« begann der Prinz, »ich hoffe, meine Bitte wird gewährt. Darum wollte ich auch Ihnen ein Lebewohl sagen.«

»Ich habe Ew. Hoheit so beurteilt, wie jetzt Ihre Rede sie mir zeigt,« antwortete Ilse.

»Mir wurde in der Stadt wenig Gelegenheit, Sie zu sprechen,« fuhr der Erbprinz schüchtern fort, »mir würde wehe tun, wenn Sie mich des Undanks oder kalter Gesinnung für fähig hielten.«

»Ich kenne jetzt den Beweggrund, der Ew. Hoheit ferngehalten hat,« versetzte Ilse, vor sich hinsehend, »und ich bin dankbar für die gute Meinung.«

»Heut will ich Ihnen zugleich für Ihren Gemahl sagen,« fuhr der Prinz fort, »daß ich darüber arbeite, für meine Zukunft nützlich zu machen, was ich in Ihrer Nähe gelernt. Ich weiß, daß dies der einzige Dank ist, den ich Ihnen noch abstatten darf. Wenn Sie einst hören, daß man mit mir zufrieden ist, dann denken Sie, gnädige Frau, in der Stille daran, daß ich vor allem Ihrem Hause die Stärkung meines Rechtsgefühls verdanke, ein unbefangenes Urteil über den Wert der Menschen und ein höheres Maß für die Pflichten eines Mannes, der das Wohl vieler besorgen soll. Ich mühe mich, der Teilnahme, die Sie mir schenkten, nicht ganz unwert zu sein. Erfahren Sie von andern, daß mir dies gelang, dann denken Sie an mich ohne Abneigung.«

Ilse sah ihm in das aufgeregte Gesicht, es waren die sanften, ehrlichen Züge, die sie so oft mit ängstlichem Anteil geschaut; sie sah, wie tief er fühlte, daß etwas Fremdes zwischen ihn und sie getreten war, und sie sah, wie bescheiden er sie zu schonen wußte. Dennoch ermaß sie nicht die ganze Gewalt des Schmerzes, welchen der junge Mann darum in sich trug, weil ihm der Vater die Poesie seiner Jugend gestört hatte. Sie ahnte nicht, daß die Strafe, welche dem Vater Gesetz und Urteil der Menschen nicht auflegen konnten, an der schuldlosen Seele des Sohnes vollzogen wurde. Was ihr der Vater zuleide getan, das verdarb seinem Kinde das glücklichste Gefühl des jungen Lebens, die zarte Freundschaft zu der Frau, an der er mit schwärmerischer Neigung hing. Aber die warmherzige Ilse erkannte den wackeren Sinn des Mannes, der ihr gegenüberstand, ihre vorsichtige Zurückhaltung schwand, und mit der alten Offenheit sagte sie zu ihm: »Man soll nicht ungerecht sein gegen Unschuldige, und in seinem Herzen nicht untreu werden gegen solche, deren Vertrauen man gehabt hat, wie ich das Ihre. Was ich Ew. Hoheit jetzt wünsche, das ist ein Freund; ich habe wohl gesehen, daß er Ihrem Leben fehlt, und ich habe gemerkt, wie schwer man sich vor niedriger Schätzung der Menschen bewahrt, wenn man immer nur von Dienern umgeben ist.«

An den freundlichen Worten Ilses brach die mühsam behauptete Fassung des Prinzen. »Ein Freund für mich?« fragte er bitter. »Mich hat das Unglück früh in die Lehre genommen, mir ist's vergällt, Freundschaft zu suchen und mich daran zu freuen. Über die Liebe, die ich gefühlt, ist ein Gift gegossen. Verzeihen Sie,« unterbrach er sich, »ich bin so gewohnt, Ihnen zu klagen und bei Ihnen Trost zu suchen, daß ich mich selbst jetzt nicht enthalte, von mir zu sprechen. obgleich ich weiß, daß ich das Recht dazu verloren.«

»Arme Hoheit!« rief Ilse, »wie wollen Sie für das Wohl anderer sorgen, wenn Ihr eigenes Leben leer ist an Licht? Wenn ich für Ew. Hoheit Zukunft ein Glück ersehne, so meine ich als Frau die Freundschaft im Hause, eine Seele, die Sie versteht, eine Gattin, welche auch eine Freundin Ihrer Gedanken ist.«

Der Prinz wandte sich zur Seite, ihr das Weh zu verbergen, das er bei dieser Rede empfand. Ilse sah ihn traurig an, sie war noch einmal die gute Beraterin von sonst geworden.

Um die Mauer des Kirchhofs schlich ein Bettelweib heran. »Darf ich heut bitten?« begann eine heisere Stimme in Ilses Rücken, »ist's nicht der Vater, so ist's doch der Sohn.« Ilse wandte sich um, wieder sah sie in die hohlen Augen der Landfahrerin und rief entsetzt: »Hinweg von hier!«

»Die Frau kann mich nicht mehr fortscheuchen.« sagte die Fremde niederkauernd, »denn ich bin müde und meine Kraft ist am Ende.« Man sah, daß sie Wahrheit sprach.

»Die Reiter haben mich gejagt von einem Grenzpfahl zum andern. Wenn die übrigen kein Mitleid haben, die Frau vom Steine sollte nicht so hartherzig sein, denn zwischen der Bettlerin und ihr ist alte Kameradschaft. Auch ich habe einmal mit den Vornehmen verkehrt, ich habe sie verlassen, und doch hingen meine Träume immer über den goldenen Häusern. Wer den Zaubersaft getrunken hat, wird die Erinnerung nicht los. Sie hat mich wieder in dieses Land getrieben und wieder, ich habe meine Leute hergeführt, sie liegen eingefangen wegen der alten Gedanken, die mich verfolgten.«

»Wer ist das Weib?« fragte der Prinz.

Die Bettlerin hob die Hände in die Höhe. »Auf diesem Arme habe ich den Erbprinzen gehalten, da er ein Kind war und nichts von sich wußte, ich habe mit ihm gesessen auf dem Samt in der Stube seiner Mutter, jetzt liege ich am Kirchhof der Landstraße und die Hand bleibt leer, die ich nach ihm ausstrecke.«

»Es ist das Zigeunermädchen,« sagte leise der Prinz und kehrte sich ab.

Die Bettlerin sah ihn höhnisch an und sprach zu Ilse: »Sie spielen mit uns, sie verderben uns, aber sie hassen die Erinnerung an alte Zeit und an ihr Verschulden. Lassen Sie sich warnen, junge Frau, ich kenne die Geheimnisse dieses hohen Geschlechts und ich kann Ihnen erzählen, was sie an Ihnen versucht haben und was sie einer andern getan, die vor Ihnen in dem Hause auf jener Höhe aufgeblüht war, und die sie auch hineingesetzt hatten in den vergoldeten Kerker, an dem die schwarzen Engel schwebten.«

Ilse stand über die Bettlerin geneigt, der Prinz trat zu ihr. »Hören Sie nicht auf das Weib,« rief er.

»Sprecht weiter,« sagte Ilse tonlos, »ich höre.«

»Sie war jung und hochgewachsen wie du, sie war eingefangen wie du, und als die Mutter dieses Mannes mich aus ihrer Nähe entfernt hatte, weil ich dem Fürsten gefiel, da wurde ich zur Dienerin bestellt für die Fremde. An einem Morgen mußte ich mich frei bitten bei der eingesetzten Frau von meinem Dienst, weil sie allein sein sollte.«

»Ich flehe, hören Sie nicht auf ihre Rede,« bat der Prinz und trat abwehrend hinzu.

»Ich höre,« sprach Ilse wieder über die Alte geneigt, »sprecht leise.«

»Als ich am nächsten Morgen zurückkam, fand ich statt des blondhaarigen Weibes eine Verrückte im Hause und ich floh mit Schrecken aus dem Schloß. Willst du wissen, durch welche Tür der Wahnsinn bei der Frau einschlich?« Sie fuhr fort in leisem Gemurmel. Ilse neigte das Ohr an ihren Mund, aber sie sprang plötzlich zurück, stieß einen gellenden Schrei aus und schlug die Finger vor das Antlitz. Der Prinz lehnte sich an die Mauer und rang die Hände.

Von dem Fahrwege klang ein lauter Ruf, ein Mann stieg eilend herauf, er hielt einen Brief und winkte schon von weitem. »Gabriel!« schrie Ilse und eilte ihm entgegen, sie entriß ihm den Brief, las und stützte sich zusammenbrechend an die Steine des Friedhofs. Der Prinz sprang herzu, sie aber hielt den Brief wie zur Abwehr gegen ihn und rief: »Der Fürst kommt hierher.«

Der Prinz sah erschrocken auf Gabriel. »Es ist keine Meile von hier,« meldete der erschöpfte Diener, »da überholte ich die fürstlichen Wagen, erst kamen sie mir zuvor, dann wieder ich. Die Pferde arbeiten noch auf der unfertigen Straße, die Brücke aber zwischen hier und Rossau ist kaum noch für Reiter und Fuhrwerk zu überschreiten, ich mußte das Pferd mit dem Postillon zurücklassen, ich glaube nicht, daß sie noch herüberkommen, wenn nicht zu Fuß.« Der Prinz eilte, ohne ein Wort zu sagen, auf dem Wege nach Rossau hinab. Ilse flog, den Brief in der Hand, den Stein hinauf zu dem Vater, der ihr mit dem Herrn von Weidegg entgegenkam. »Gehen Sie, Ihren Fürsten zu begrüßen,« rief sie wild dem Kammerherrn zu, »mein Felix kommt,« rief sie dem Vater zu und warf sich ihm an die Brust.

Vor der Notbrücke, welche nach der Flur von Rossau führte, sammelten sich die Leute. Auch Gabriel eilte an das Wasser zurück, er hatte dort Herrn Hummel getroffen, welcher am Uferrand auf und ab ging und unruhig über den Strom sah. »Die Welt ist erbärmlich klein,« rief Herr Hummel seinem Vertrauten zu, »man trifft sich immer wieder. Wer so gejagt ist wie Sie, sollte sich pflegen, Sie sind erschöpft und sehen mir sehr verändert aus. Setzen Sie sich auf diesen Klotz und behandeln Sie sich mit Hochachtung.« Er drückte Gabriel nieder, knöpfte ihm den Rock zu und klopfte ihm mit der großen Hand auf die Backe. »Ihnen tut eine Stärkung not, aber das Beste, was wir hier haben, ist ein ersoffener Kaulbarsch, und ich möchte Sie nicht als einen scheußlichen Neuseeländer behandeln, der in der Meßbude um einen Groschen Eintrittsgeld rohe Weißfische verzehrt. Nehmen Sie hier die letzte Hilfe eines Pariser Reisenden.« Er zwang ihm eine Tafel Schokolade auf.

Wenige Schritte davon an der Brücke stand der Prinz, er sah mit verschränkten Armen in das Wasser, welches auf der Seite von Rossau den Uferrand erreicht hatte und sich schnell über den Weidegrund und die niedrigen Felder der Stadt ausbreitete, es rauschte vom Damme und spülte die Erde zur Tiefe. Schnell wurde der Riß größer, weiter dehnte sich die Wasserfläche. Auch auf der nächsten Strecke des neuen Weges, welche noch nicht gepflastert war, schimmerten Wasserlachen zwischen den Sandhäuschen und den Karren der Erdarbeiter, der Weg ragte als ein dunkler Streif aus der lehmigen Flut. Noch kamen einzelne Leute von Rossau herüber, sie kneteten im Brei der Straße und hielten sich furchtsam an den glatten Stangen, welche das Brückengeländer ersetzten. Denn das Wasser stieß heftig an die Böcke, es floß dicht unter den Bohlen entlang, und der Ruf der Zuschauer auf der Bielsteiner Seite mahnte zur Eile. Von der Höhe eilte der Kammerherr herzu und sah ängstlich in das Angesicht seines schweigenden Herrn. Ihm folgte der Landwirt. »Dürfte ich tun, wie ich wollte, ich bräche diese wankenden Bretter mit meinen eigenen Händen ab,« sagte er zornig zu Herrn Hummel.

»Die Wagen kommen,« schrien die Leute. Aus dem Tor von Rossau fuhren in gestrecktem Trabe vier Pferde den Wagen des Fürsten heran. Neben dem Fürsten saß der Obersthofmeister. Finster hinbrütend hatte der Fürst die lange Fahrt gemacht, einzelne wilde Worte, ein Blick voll von heißem Haß, das war sein Reiseverkehr mit dem Begleiter gewesen.

Der Hofmann hatte vergebens den Fürsten zu ruhigem Gespräch veranlaßt, sogar die Rücksicht auf die beiden Diener, welche im offenen Wagen hinter den Reisenden saßen, hatte die Stimmung des Fürsten nicht gebändigt. Erschöpft von der stillen Anstrengung dieser Fahrt saß der alte Herr, ein Wächter neben dem Kranken, aber sein scharfer Blick beobachtete jede Bewegung des Nachbars. Als sie aus der Stadt ins Freie fuhren, begann der Fürst lauernd: »Sie kannten den Reiter, der so hastig uns überholte.«

»Er war mir fremd,« sagte der Obersthofmeister.

»Er trug die Botschaft unserer Ankunft in die Berge, man hat sich gerüstet, uns zu empfangen.«

»Dann hat er Ew. Hoheit einen Dienst geleistet, denn schwerlich hatte man im Jagdhaus eine Ahnung von Ew. Hoheit gewichtigen Entschlüssen.«

»Noch sind wir nicht am Ende unseres Dramas, Obersthofmeister,« sagte der Fürst lächelnd, »und die Kunst, das Kommende vorauszusehen, ist verloren. Auch Exzellenz verstehen diese Kunst nicht.«

»Ich habe mich immer begnügt, vorsichtig zu deuten, was meine Gegenwart umgibt, ich habe dadurch zuweilen verhütet, daß die Zukunst mich unangenehm überraschte. Wenn ich durch einen Zufall verhindert würde, in dem Drama, von welchem Ew. Hoheit sprachen, meine Rolle bis zur letzten Szene durchzuführen, so ist dafür gesorgt, daß andere meine Partie übernehmen.«

Der Fürst warf sich auf seinen Sitz zurück. Der Wagen fuhr in dem durchweichten Schutt. Die Pferde stampften und bäumten, der Kutscher sah unsicher zurück. »Vorwärts,« rief der Fürst mit scharfer Stimme.

»Der Erbprinz erwartet Ew. Hoheit zu Fuß an der Brücke,« sagte der Obersthofmeister. Im Schritt ging es vorwärts, der Kutscher bändigte mit Mühe die Pferde, welche vor der glitzernden Wasserfläche und dem Geräusch der Flut scheuten.

»Vorwärts,« befahl der Fürst von neuem.

»Erlauben Ew. Hoheit dem Kutscher, zu halten. Der Wagen kann ohne Gefahr nicht weiter.«

»Fürchten Sie die Gefahr, alter Mann?« rief der Fürst, und der Haß verzog ihm das Gesicht. »Hier sitzen wir beide im Wasser. Gleiches Schicksal, Herr Hofmeister, ein schlechter Diener, der seinen Herrn verläßt.«

»Ich wünsche auch Ew. Hoheit zurückzuhalten,« versetzte der Obersthofmeister.

»Vorwärts,« rief der Fürst wieder.

Der Kutscher hielt. »Es ist unmöglich, gnädigster Herr,« sagte er, »wir kommen nicht mehr über die Brücke.«

Der Fürst sprang im Wagen auf und hob den Stock gegen den Kutscher. Erschreckt peitschte der Mann auf die Pferde, sie bäumten und sprangen zur Seite.

»Halt!« rief der Obersthofmeister. Die ängstlichen Lakaien sprangen bereitwillig herab und hielten die Pferde. Der Obersthofmeister öffnete den Schlag und kletterte aus dem Wagen. »Ich flehe Ew. Hoheit an, auszusteigen.«

Der Fürst sprang heraus, warf noch einen Blick finsteren Hasses auf ihn und eilte zu Fuß vorwärts. Er betrat die Brücke, um ihn rauschte die Flut.

»Bleibe zurück, Vater,« flehte der Erbprinz. Der Fürst lächelte und ging weiter auf den wankenden Brettern. Er hatte die Mitte der Brücke und die tiefe Strömung überschritten, noch wenige Schritte, und sein Fuß betrat das Ufer von Bielstein. Da hob sich neben der Brücke eine zusammengedrückte Gestalt vom Boden und schrie ihm wild entgegen: »Willkommen in diesem Lande, durchlauchtiger Herr, Gnade für die arme Bettlerin. Ich bringe Eurer Hoheit den Gruß der blonden Frauen vom Steine.«

»Hinweg mit der Verrückten!« rief der Kammerherr.

Der Fürst sah stier auf die wilde Gestalt, er wankte und hielt sich an die Stange des Geländers, der Erbprinz flog ihm entgegen, der Fürst trat mit Widerwillen zurück, sein Fuß verlor den Halt, er glitt an der Seite des schlüpfrigen Brettes hinab in die Flut. Ein lauter Schrei der Umstehenden, der Sohn sprang ihm nach, im nächsten Augenblick war ein halbes Dutzend Menschen im Wasser, unter den ersten Gabriel, bedächtiger folgte Herr Hummel. Die riesige Gestalt des Landwirts ragte aus der Strömung, er hielt den Fürsten, Gabriel und Hummel faßten den jungen Herrn. »Dem Fürsten ist nichts geschehen,« rief der Landwirt dem Prinzen zu und setzte den Betäubten am Uferrand nieder. Der Erbprinz warf sich neben dem Vater auf den Boden. Der Fürst saß auf dem Kies der Straße, die fremde Bettlerin hielt ihm das Haupt, er sah mit verglasten Augen vor sich hin und erkannte nicht den knienden Sohn und nicht das gefurchte Antlitz der Fremden, welche sich über ihn beugte. »Er lebt,« versetzte der Landwirt leise, »aber die Glieder versagen ihm den Dienst.« Auf der andern Seite des Wassers stand der Obersthofmeister, er rief dem Kammerherrn französische Worte zu, dann eilte er mit dem Wagen zurück, befahl zu wenden und nach Rossau zu fahren, um von da den nächsten sichern Übergang zu erreichen. Mit Mühe wurden die Wagen zurückgeschafft.

Unterdes war am Ufer von Bielstein ein Brett der halbzerstörten Brücke abgerissen und der Fürst daraufgesetzt, so gehalten und getragen wurde er dem Gute zugeführt. Die Kinder des Landwirts liefen voraus und öffneten die Tür des alten Hauses. Im Hausflur stand Ilse, farblos wie ein Bild von Stein. Der Fürst war aus dem Wasser gerettet, hatten die Brüder ihr zugerufen, er nahte dem Dach des Hauses, dem er seit zwei Geschlechtern Fluch und Entsetzen war. Sie stand im Hausflur, nicht mehr die Ilse von einst, sondern ein wildes Sachsenweib, das dem Feind ihres Stammes den Götterfluch in das Gesicht schleudert, ihre Augen glühten und die Finger ihrer Hände schlossen sich krampfhaft zusammen.

Die Männer trugen den erschöpften Mann an die Stufen der Treppe. Da trat Ilse auf die Schwelle und rief: »Nicht hier herein.« So gellend war ihr Schrei, daß die Träger anhielten. »Nicht in unser Haus,« rief sie zum zweitenmal und hob die Hand drohend zur Abwehr.

Der Fürst hörte die Stimme, er lächelte und nickte gnädig mit dem Haupt.

»Es ist Christenpflicht, Ilse,« rief der Landwirt.

»Ich bin das Weib des Gelehrten,« rief Ilse finster gegen ihn. »Unser Dach bricht über ihm zusammen.«

»Entfernen Sie Ihre Tochter,« sagte der Erbprinz leise, »ich fordere Einlaß für den Fürsten dieses Landes.«

Der Landwirt trat auf die Stufen und faßte Ilses Arm. Sie riß sich los. »Du jagst deine Tochter aus dem Hause, Vater,« rief sie außer sich. »Bist du ein Diener dieses Herrn, ich bin es nicht. Hier ist nicht Raum zugleich für ihn und meinen Gatten, er kommt, uns zu verderben, seine Nähe bringt Fluch.« Sie riß die Tür des Gartens auf und flog unter den Bäumen dahin, sie brach durch die Hecke und eilte hinab nach der Tiefe. Dort sprang sie auf den Steg, von dem sie vor kurzem die Leute des Dorfes gescheucht hatte, wild brauste unter ihr die Flut, das Holzwerk bog sich und stöhnte. Ein Riß, ein Krach, mit starkem Schwunge hob sie sich auf der andern Seite zum Felsen, hinter ihr wirbelten die Trümmer der Brücke talab. Sie stand auf dem Felsvorsprung vor der Grotte und hob mit wildem Blick die Hände zum Himmel. Hinter ihr kam der älteste Bruder vom Garten gelaufen und schrie auf, als er die Bruchstücke der Brücke dahintreiben sah.

»Ich bin geschieden von euch,« rief Ilse, »sage dem Vater, er soll nicht sorgen um mich, die Luft ist rein, ich stehe im Schutz des Herrn, dem ich diene, und mir ist leicht im Herzen.«


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