Gustav Freytag
Die verlorene Handschrift
Gustav Freytag

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Zweites Kapitel

Ein Tag der Besuche

Der Wagen fuhr vor, Ilse trat, für die ersten Besuche gerüstet, in das Arbeitszimmer des Gatten. »Sieh mich an,« sagte sie, »bin ich so recht?«

»Alles in Ordnung,« rief der Professor, fröhlich seine Frau musternd. Aber es war gut, daß auch ohne seine Hilfe alles in Ordnung war, denn in Toiletten war des Professors kritischer Blick von zweifelhaftem Wert.

»Jetzt fängt für mich ein neues Spiel an,« fuhr Ilse fort, »wie es zu Hause die Kinder geübt. Ich soll bei deinen Freunden anklopfen und rufen: ›Hallo, holla!‹ und wenn die fremden Frauen fragen: wer ist da? dann werde ich antworten, wie's im Spiele geht: ›ein fremdes Bettelweib.‹ – ›Was will sie denn?‹ – ›Für mich ein Stücklein Brot, für meinen Mann 'nen Kuß, weil er mit mir bitten muß.‹«

»Nun, was die Küsse betrifft, welche ich den Frauen der Kollegen austeilen soll,« versetzte der Professor, in die Handschuhe fahrend, »so wäre ich dir im ganzen verbunden, wenn du das Geschäft übernähmst.«

»Ja, ihr Männer seid darin sehr streng,« sagte Ilse, »auch mein Fränzchen weigerte sich immer, das Spiel zu spielen, weil er den dummen Mädeln keinen Kuß geben wollte. – Ach, wenn ich dir nur keine Unehre mache!«

Sie fuhren durch die Straßen. Der Professor erzählte seiner Frau auf dem Wege von Person und gelehrtem Wesen des Kollegen, zu dem sie gerade fuhren. »Zuerst zu lieben Menschen,« sagte er, »der jetzt kommt, ist Professor Raschke, unser Philosoph, und mir ein werter Freund. Ich hoffe, seine Frau wird dir gefallen.«

»Ist er sehr berühmt?« fragte Ilse und legte die Hand auf das pochende Herz.

Sie hielten am äußersten Ende der Vorstadt vor einem niedrigen Hause, Gabriel eilte in den Hausflur, den Besuch anzukündigen. Da er die Küche leer fand, klopfte er an die Stubentür und öffnete endlich, in den Bräuchen des Hauses erfahren, den Eingang zum Hofe. »Herr und Frau Professor sind im Garten.«

Durch den engen Hof traten die Besuchenden in einen Gemüsegarten, dessen Luft der Hauswirt seinem Mieter zur vorsichtigen Mitbenutzung eingeräumt hatte. Unter der Mittagsonne des Herbsttages schritt ein Ehepaar die geraden Wege entlang. Die Frau trug ein kleines Kind auf dem Arme, der Mann hielt ein Buch in der Hand, aus dem er im Gehen seiner Begleiterin vorlas. Um aber auch seine andere zur Zeit wenig beschäftigte Körperseite für die Familie zu verwerten, hatte der Professor die Deichsel eines Kinderwagens an den Bund seiner Beinkleider befestigt und fuhr auf solche Weise ein zweites Kind hinter sich her. Die Wandelnden kehrten den Gästen den Rücken zu und bewegten sich langsam, hörend und vorlesend, tragend und fahrend vorwärts.

»Ein Zusammenstoß in dem engen Wege ist nicht wünschenswert,« sagte Felix, »wir müssen warten, bis sie um das Viereck lenken und uns das Gesicht zukehren.« Es dauerte eine gute Weile, bevor der Zug die Hindernisse der Reise überwand, denn der Professor blieb im Eifer des Lesens zuweilen stehen und erklärte etwas, wie aus seinen Handbewegungen zu erkennen war. Neugierig betrachtete Ilse das Aussehen der seltsamen Spaziergänger. Die Frau war bleich und zart, man sah ihr an, daß sie vor kurzem das Krankenlager verlassen hatte, ihm hing um ein edelgeformtes geistvolles Angesicht langes, dunkles Haar, auf dem der graue Reif lag. Schon waren sie dicht an die Gäste gekommen, da erst wandte die Frau die Augen von dem Gatten ab und erblickte den Besuch.

»Welche Freude!« rief der Philosoph und senkte sein Buch in die große Rocktasche. »Guten Morgen, Kollege. Ha, da ist ja unsere liebe Frau Professorin. Frau, binde mir den Wagen ab, die Familienbande hemmen.« – Das Ablösen dauerte einige Zeit, da die Hausfrau die Hände nicht frei hatte und Professor Raschke keineswegs stillhielt, sondern vorwärts strebte und bereits die Hände des Kollegen und der neuen Professorin in seinen beiden Händen festhielt. »Kommen Sie in das Haus, Sie liebe Gäste,« rief er und ging, während Felix seine Frau der Professorin zuführte, mit großen Schritten voran. Darüber vergaß er seinen Kinderwagen, den Ilse über die Schwelle hob und in den Hausflur rollte. Dort nahm sie das verlassene Kind aus den Betten, die beiden Frauen traten, jede ein kleines Werk der Weltweisheit auf dem Arme, in das Zimmer und sagten dabei einander die ersten freundlichen Worte, während das Kleine auf Ilses Arm seine Windmühle schwenkte und das jüngste gelehrte Kind auf dem Arme der Mutter zu schreien begann. Unterdes fuhr Kollege Raschke abräumend in der Stube umher, entfernte Bücher und Papiere vom Sofa, rückte ein ausgebleichtes Sofakissen durch kräftigen Schlag in seine Form, daß der Staub herausfuhr, und bat eifrig: »Nehmen Sie Platz. Aber wie? Sie bemühen sich selbst mit diesem Pupus. Ist's der Säugling, so kann ich's Ihrem schönen Kleide nicht empfehlen. Doch es ist das andere, das gibt bessere Garantien,« verbesserte er sich selbst. Unterdes befestigte sich die Gesellschaft auf den Sitzen. Ilse spielte mit dem Kinde auf ihrem Schoße, während Frau Raschke auf einen Augenblick verschwand und ohne den schreienden Säugling zurückkam. Sie saß schüchtern da, aber sie tat mit leiser Stimme wohltuende Fragen. Nur unterbrach der lebhafte Philosoph immer wieder die Unterhaltung der Frauen, indem er dem Professor die Hand streichelte und der neuen Frau Kollega zunickte: »So war's recht, ich freue mich, daß Sie sich in blühender Jugend an unser Treiben gewöhnen, denn unsere Frauen haben es nicht leicht, das äußere Leben ist enge, das innere anspruchsvoll. Wir sind oft langweilige Gesellen, schwer zu behandeln, mißmutig, mürrisch und widerwärtig.« Und dabei schüttelte er mißbilligend den Kopf über das gelehrte Wesen, und aus seinem Angesicht lachte ein inniges Behagen.

Der Aufbruch des Besuches wurde durch den Pupus beschleunigt, der in der Nebenstube recht jämmerlich zu schreien begann. »Sie wollen schon fort,« klagte der Philosoph gegen Ilse, »dieser Besuch kann nicht gerechnet werden. Sie gefallen mir sehr, Sie haben ein klares Auge, und ich merke, Sie haben ein freundliches Gemüt, und das ist alles. Im Kopfe einen guten Spiegel, der die Bilder der Welt voll und rein zurückstrahlt, und im Herzen eine dauerhafte Flamme, welche andern von ihrer Wärme abgibt. Wer das hat, dem kann's nicht fehlen, selbst wenn ihm das Schicksal auferlegt, Frau eines Stubengelehrten zu sein, wie Sie sind und diese arme Mutter von fünf Schreihälsen.« Und wieder strich er beflissen umher, holte einen alten Hut aus dem Winkel und hielt ihn der Frau Kollega hin. Ilse lachte. »Ja so,« rief er, »es ist ein Herrenhut, er gehört dem Gatten.« – »Auch ich bin versehen,« entschuldigte sich der Professor. »Dann also ist es mein eigener,« entschied Raschke, setzte den Hut entschlossen auf und schritt zur Tür hinaus, die Gäste an den Wagen zu begleiten.

Ilse saß im Wagen eine Weile stumm vor Erstaunen: »Jetzt habe ich Mut, Felix, die Professoren sind noch weniger schreckhaft als die Studenten.«

»Nicht alle antworten so auf die erste Begrüßung,« erwiderte der Professor. »Der jetzt kommt, ist mein nächster Kollege Struvelius, er lehrt wie ich Griechisch und Latein, gehört nicht zu meinen nähern Bekannten, ist aber ein tüchtiger Gelehrter.«

Diesmal war es ein Haus in der Stadt, die Einrichtung des Quartiers ein wenig ältlicher als in Ilses neuer Wohnung. Diese Frau Professorin trug ein schwarzseidenes Kleid und saß vor einem Schreibtisch, der mit Büchern und Papieren bedeckt war. Zarte Dame in mittleren Jahren mit einem kleinen, aber gescheiten Gesicht und einer seltenen Frisur. Denn ihr kurzes Haar war hinter die Ohren in eine große, eingerollte Locke gekämmt, was ihr eine gewisse Ähnlichkeit mit Sappho oder Korinna gab, soweit nämlich ein Vergleich mit dem keineswegs hinreichend ermittelten Haarwuchs der beiden antiken Damen gestattet ist. Frau Professor Struvelius erhob sich langsam und begrüßte die Eintretenden mit steifer Haltung. Sie sprach gegen Ilse ihre Freude aus und wandte sich dann sogleich an den Professor. »Ich habe heut das Werk des Kollegen Raschke angefangen und bewundere den Tiefsinn des Mannes.«

»Alles, was er schreibt, ist erfreulich,« versetzte der Professor, »weil bei allem ein ganzer und reiner Mensch sichtbar wird.«

»Den Vordersatz und Nachsatz gebe ich für diesen Kollegen zu, gegen die Verallgemeinerung des Satzes möchte ich bemerken, daß manches Epoche machende Werk keine hohe Berechtigung haben würde, wenn ein ganzer Mann dazu gehört, um ein gutes Buch zu schreiben.«

Ilse sah scheu auf die gelehrte Frau, welche ihrem Manne zu widersprechen wagte.

»Doch wir wollen uns vereinigen,« fuhr die Professorin so geläufig fort, als ob sie ihre Worte aus einem Buche abläse. »Nicht jedes tüchtige Werk fordert, daß sein Verfasser ein Mann von Charakter sei, aber wer wirklich die edle Qualität hat, wird schwerlich etwas schaffen, was in seiner Wissenschaft ungünstig wirkt. Und allerdings wurzeln die Schwächen eines gelehrten Werkes häufiger, als man wohl annimmt, in einer Charakterschwäche dessen, der das Werk schrieb.«

Der Professor neigte beistimmend das Haupt.

»Denn,« fuhr sie fort, »die Stellung, welche ein Gelehrter zu den großen Zeitfragen seiner Wissenschaft einnimmt, ja selbst die Vorzüge und Mängel seiner Methode sind doch in der Regel aus dem Charakter zu erklären. – Sie haben immer auf dem Lande gelebt,« wandte sie sich zu Ilse, »es wäre mir belehrend, zu erfahren, welche Eindrücke Ihnen das nahe Aneinandersein der Menschen in der Stadt gemacht hat.«

»Ich habe bis jetzt nur mit sehr wenigen verkehrt,« entgegnete Ilse ängstlich.

»Natürlich,« fuhr Frau Professor Struvelius fort. »Ich meine aber, Sie werden mit Überraschung bemerken, daß die größere Nähe nicht immer ein inneres Zusammenleben fördert. Doch Struvelius muß erfahren, daß Sie hier sind.« Sie stand auf, öffnete das Nebenzimmer und rief, lotrecht an der Tür stehend, hinein: »Herr und Frau Professor Werner.« Aus der Nebenstube wurde leises Brummen gehört und eilfertiges Rauschen großer Blätter. Die Professorin schloß die Tür und fuhr fort: »Denn zuletzt leben wir doch durch viele und in wenigen. In der Stadt wählt man aus einer Fülle von Persönlichkeiten mit einer gewissen Willkür. Man könnte reicher sein als man gerade ist. Auch dieses Gefühl verleiht eine Zuversicht. Und solche Zuversicht gibt allerdings die Stadt leichter als das Land.«

Die Seitentür öffnete sich, Professor Struvelius trat ein mit zerstreutem Blick, scharfer Nase, schmalen Lippen, leider auch mit ungewöhnlichem Hauptschmuck. Denn sein Haar stand so struwwelig über den Schläfen, daß die Annahme wohl berechtigt war, diese Kopftracht sei alter Familienbesitz, eine Erbperücke, welche in früheren naseweisen Jahrhunderten seinem Geschlecht den Namen zugezogen hatte. Er verbeugte sich ein wenig, schob einen Stuhl heran und setzte sich stumm nieder, wahrscheinlich arbeitete er in Gedanken an seinem griechischen Schriftsteller rührig fort. Ilse litt unter der Überzeugung, daß ihm der Besuch eine ungelegene Störung sei und daß seine Frau sich unendlich tief herablasse, wenn sie ihr eine Anrede gönnte. »Sind Sie musikalisch?« examinierte Frau Struvelius.

»Ich darf kaum sagen ja,« erwiderte Ilse.

»Das freut mich,« rief die Wirtin, rückte sich ihr gegenüber und musterte sie mit scharfem Blick. »Wie ich Sie mir denke, dürfen Sie nicht musikalisch sein. Diese Kunst macht uns weich und zieht nur zu häufig gebrochene Existenzen.«

Felix bemühte sich noch ohne sonderlichen Erfolg, den Professor zur Teilnahme an der Unterhaltung heranzuziehen; bald erhoben sich die Besuchenden. Beim Abschiede streckte Frau Professor Struvelius die untere Hälfte des Armes rechtwinklig nach Ilse aus und sagte mit feierlichem Händedruck: »Werden Sie heimisch bei uns.« Und die Anrede ihres Gatten: »Ich habe die Ehre, mich zu empfehlen,« wurde durch die zuklappende Tür entzweigeschnitten.

»Was sagst du jetzt?« fragte der Professor im Wagen.

»Ach, Felix, ich bin recht klein geworden, mein Mut ist dahin, ich möchte am liebsten nach Hause fahren.«

»Sei ruhig,« tröstete der Gatte, »du fährst heut auf dem Jahrmarkt umher und siehst über viele aufgeschlagene Tische. Was dir nicht gefällt, brauchst du nicht zu kaufen. Der nächste Besuch gilt unserm Historiker, einem würdigen Mann, der zu den guten Geistern der Universität gehört. Auch seine Tochter ist eine liebenswürdige junge Dame.«

Ein Diener öffnete den Vorsaal und führte in das Empfangszimmer. An der Wand hingen einige gute Landschaften; ein Flügel, ein zierlicher Blumentisch, die seltenen Pflanzen wohlgeordnet und gepflegt. Die Tochter trat eilig herein, eine feine, stattliche Gestalt mit zwei dunkeln Augen, ihr folgte ein stattlicher Herr von vornehmer Haltung, der fast aussah wie ein hoher Beamter, nur seine lebhafte Weise zu sprechen ließ den Gelehrten erkennen. Mit wohltuender Herzlichkeit wurde Ilse aufgenommen. Der alte Herr setzte sich neben sie, begann eine zwanglose Unterhaltung, und Ilse fühlte sich bald behaglich wie bei guten Bekannten. Sie wurde auch an ihre Heimat erinnert, denn der Gelehrte fragte: »Ist von dem alten Kloster in Rossau noch etwas erhalten?« Felix sah neugierig auf und Ilse antwortete: »Nur die Mauer; auch das Innere ist umgebaut.«

»Es war eine der ältesten geistlichen Stiftungen Ihrer Gegend, hat viele Jahrhunderte bestanden und sicher auf eine weite Umgegend Einfluß geübt. Da ist auffallend, daß die Urkunden des Klosters fast ganz fehlen und die übrigen Nachrichten, soviel mir bekannt, sehr dürftig sind. Man muß vermuten, daß dort noch manches in Verborgenheit liegt.« Ilse sah, wie sich das Angesicht ihres Gatten verklärte, aber er versetzte ruhig: »Am Orte selbst waren meine Fragen vergeblich.«

»Das ist wohl möglich,« gab der Historiker zu, »vielleicht sind die Dokumente nach Ihrer Residenz gebracht und liegen dort noch irgendwo unbenutzt.«

So rollte ein Besuch nach dem andern ab. Da war der Rektor, Mediziner, ein behaglicher Weltmann in glänzender Einrichtung, seine Gattin eine runde bewegliche Frau mit zwei herausfordernden Augen; dann der große theologische Konsistorialrat, ein langer hagerer Herr mit süßlichem Lächeln, auch bei seiner Gattin alles in übergroßen Verhältnissen, Nase, Mund und Freundlichkeit. Der letzte war der Mineraloge, ein junger gewandter Mann mit einer sehr niedlichen Frau, auch erst seit wenigen Monaten verheiratet. Während die jungen Frauen auf dem Sofa schnell gute Bekanntschaft machten, wurde Ilse zum zweitenmal durch eine Frage des Professors überrascht: »Ihre Heimat ist für mein Fach nicht ohne Interesse; ist nicht eine Höhle in der Nähe?« Ilse errötete und sah wieder nach ihren. Felix: »Sie gehört zum Gute meines Vaters.«

»Ei, dann habe ich jetzt gerade mit einem Funde zu tun, der auf Ihrem Gute gemacht ist,« rief der Mineraloge. Er holte einen Stein von auffallendem strahligen Gefüge herbei. »Dies ist ein sehr seltenes Mineral, das in der Nähe der Höhle entdeckt wurde, ein Apotheker der Gegend hat es mir eingeschickt.« Er nannte ihr den Namen des Minerals, sprach über das Gestein der Höhle und des Felsens, auf welchem das väterliche Haus stand, gerade als wäre er selbst dort gewesen, und ließ sich von Ilse die Linien der Berge und die Steinbrüche der Nähe beschreiben. Er hörte achtungsvoll ihre sichern Antworten und fand die Bodenbildung des Gutes sehr merkwürdig.

Erfreut rief Ilse: »Wir meinten, man kümmere sich in der Welt gar nicht um uns, aber ich sehe, die Herren Gelehrten wissen einiges mehr von unserer Gegend als wir selbst.«

»Wir verstehen wenigstens Wertvolleres dort zu finden als Gesteintrümmer,« erwiderte der Professor artig.

Nach der Heimfahrt trat Ilse in das Zimmer des Gatten, der bereits an seiner Arbeit saß. »Dulde mich heute bei dir, Felix, mir summt der Kopf von all den Menschen, welche eingezogen sind. Das war für mich viel Neues an einem Tage, und viele Freundlichkeit von so gelehrten und vornehmen Geistern. Am gefährlichsten war's bei der belesenen Frau; Felix, es ist wohl unrecht, daß ich jetzt so etwas sage, und sie ist ja um sehr vieles feiner und gescheiter, aber wenn ich dir eine Ähnlichkeit nennen soll mit einer guten alten Bekannten –«

»Rollmaus,« bestätigte der Professor. »Die hier aber ist in der Tat sehr gescheit.«

»Gebe der Himmel,« bat Ilse, »daß sich ihr Herz ebenso treu erweist, aber von ihrer Gelehrsamkeit fühle ich einen Schauder. Sonst gefallen mir die Frauen gut, aber die Männer noch viel besser. Etwas Großes haben sie fast alle, sie sprechen wunderschön, sie sind ungezwungen und sehen recht innerlich froh und seelenvergnügt ans. Natürlich, sie schweben über der Erde wie deine alten Götter, da können sie wohl lustig sein. Ach, und dabei das geflickte Hausröckel, welches der liebe Herr Professor Raschke anhatte. Dem wird Motte und Rost das Seine auch nicht fressen! Und wenn ich mir denke, daß diese vielen klugen Leute mich aufmerksam und gut behandeln, nur meines Hausherrn wegen, so weiß ich nicht, wie ich dir danken soll. Jetzt also bin ich unter die neuen Menschen aufgenommen und ich darf bitten: mein Eingang sei gesegnet.«

Der Gatte reichte ihr die Hand und zog sie an sich. Sie faßte sein Haupt mit ihren Händen und neigte sich darüber.

»Was ist es, worüber du jetzt arbeitest?« fragte sie endlich leise.

»Nichts Großes, nur eine Abhandlung, wie ich sie alljährlich für die Universität zu machen habe.« Er sprach ihr einiges von dem Inhalt der Arbeit.

»Und wenn sie fertig ist, was dann?«

»Dann ist für neue Aufgaben gesorgt.«

»Und das geht immer so fort, vom Morgen bis in den Abend, alle Jahre, bis die Augen versagen und die Kraft zerbricht!« klagte Ilse. »Laß mich heute um etwas Ernstes bitten. Zeige mir die Bücher, Felix, die du geschrieben hast, aber alles.«

»Was ich etwa noch besitze,« sagte der Professor, und holte hier und da aus den Winkeln Bücher und Abhandlungen zusammen. Ilse schlug eine Schrift nach der andern auf, und es ergab sich, daß sie einige von den lateinischen Titeln bereits auswendig wußte. Der Professor wurde darüber eifrig, und ihm fielen immer noch kleine Arbeiten ein, die er vergessen hatte. Ilse aber legte alles vor sich in einem Häufchen zusammen und begann feierlich: »Jetzt kommt für mich eine große Stunde. Denn ich will jetzt von dir erfahren, was in jeder Schrift steht, soweit du deinem Weibe das deutlich machen kannst. Als ich dir schon im geheimen gut war, da fanden die Kinder deinen Namen im Lexikon, wir mühten uns, die fremden Namen deiner Bücher zu lesen und die Oberamtmann hatte in ihrer Weise Mutmaßungen über den Inhalt. Da fühlte ich einen Schmerz, daß ich gar nichts von dem verstand, was du für die Menschheit gearbeitet hast. Seither habe ich immer auf den Tag gehofft, wo ich dich nach dem fragen könnte, was du besser gewußt hast als die andern, und worauf ich stolz sein darf, da ich dir angehöre. Und heut ist die Stunde. Denn du hast mich heut deinen Freunden als deine Frau vorgestellt. Und ich will dein Weib auch da sein, wo dein Schatz ist und dein Herz, soweit ich vermag.«

»Liebe Ilse,« rief der Professor, hingerissen von ihrer ehrbaren Würde.

»Aber vergiß nicht,« fuhr Ilse mit wichtiger Miene fort, »daß ich sehr wenig verstehe, und verliere nicht die Geduld. Ich habe mir ausgedacht, wie ich es haben will. Schreibe du mir die Titel, wie sie in fremder Sprache und wie sie deutsch lauten, in ein Büchel, das ich mir dazu gekauft habe, deine früheste Arbeit zuerst und die jüngste zuletzt. Und dahinter, ob dir die Arbeit sehr lieb ist oder weniger, und welche Wichtigkeit sie für die Menschen hat. Darunter will ich mir bei jeder Schrift aufzeichnen, was ich von deiner Erklärung verstehe, damit ich alles in gutem Gedächtnis behalte.«

Sie trug ein leeres Heft herzu, der Professor suchte wieder noch einzelne Abhandlungen hervor, ordnete sie nach Jahren und schrieb jeden Titel auf eine besondere Seite des Heftes. Dann erklärte er seiner Frau in ihrer Sprache ein wenig, was jeder Schrift Inhalt war, und half die kleinen Bemerkungen in das Notizbuch schreiben. »Was deutsch ist, suche ich selbst zu lesen,« sagte Ilse.

So saßen beide ernsthaft über die Bücher geneigt, und dem Professor pochte das Herz vor Freude über den festen Bedacht, mit welchem sein Weib das Verständnis seiner Tätigkeit suchte. Denn es ist das Los des Gelehrten, daß wenige mit herzlichem Anteil Mühe, Kampf und Verdienst seines Schaffens betrachten. Der Welt gilt er für einen harten Baugehilfen. Was er mit ausdauernder Kraft gebildet, das wird sofort als Baustein verwandt zu dem unermeßlichen Hause der Wissenschaft, an welchem das Geschlecht der Erde seit Jahrtausenden arbeitet. Hundert andere stellen sich darauf, um die eigene Arbeit zu fördern, tausend neue Werkstücke werden darüber gewälzt, noch viele sind, welche danach fragen, wer den einzelnen Pfeiler gemeißelt, noch seltener drückt dem Arbeiter ein Fremder darum die Hand. Dem leichten Werke des Dichters winkt noch lange grüßend zu, wer einmal davor heiteres Lächeln gefunden hat oder gehobene Stimmung. Der Gelehrte wird nur selten und fast zufällig durch einzelne Werke ein werter Freund und Vertrauter seiner Leser. Er stellt nicht der Phantasie lockende Bilder, er schmeichelt nicht zuvorkommend dem sehnsuchtsvollen Gemüt, er fordert strengen Ernst und nüchterne Sammlung vom Leser, und dieselbe Strenge und Nüchternheit wird ihm selbst zuteil bei jedem Urteil über seine Leistung. Auch wo er Ehrfurcht einflößt, bleibt er ein Fremder.

Und doch ist er kein Steinmetz, der unförmliche Masse nach verständigen Maßen zurechtschlägt, auch er schafft mit inneren Kämpfen, mit seinem besten Herzblut, zuweilen unter schwerem Leid, oft mit beglückender Freudigkeit. Auch ihm erblüht, was er seinerzeit darbringt, aus den tiefsten Wurzeln seines Lebens. Deshalb ist dem Gelehrten die Seele, welche das Wackere seiner Arbeit herzlich empfindet, und nicht nur nach dem letzten Gewinn der Wissenschaft fragte, sondern nach dem innern Kampf des Schaffenden, ein kostbarer Fund, ein seltenes Glück. – Jetzt sah Felix mit Rührung, wie sein Weib nach dieser Stellung rang, und dem kräftigen Manne wurde das Herz weich, während er ihr den Namen eines römischen Dichters nannte, den er zu einem fast unbekannten Gedicht ermittelt, und während er ihr von römischen Tribus und von den Geschäften des Senates erzählte.

Als ein jedes verzeichnet war, faltete Ilse die Hände über den Büchern und rief: »Hier halte ich alles. Der Raum, den es einnimmt, ist so klein, und doch waren dafür viele arbeitvolle Tage nötig, und manche Nacht, der größte Teil deines edlen Lebens. Dies hat dir oft heiße Wangen gemacht, wie du heute wieder hast. Dafür hast du gelernt, daß dir dein armer Kopf brannte, und dafür hast du immer in der Stube und zwischen den engen Mauern gesessen. Ich habe die Bücher sonst auch gleichgültig angesehen, jetzt erkenne ich erst, was ein Buch ist, eine stille, unendliche Arbeit.«

»Nicht von jedem ist das zu rühmen,« versetzte der Professor, »aber die besseren sind dafür auch mehr als eine Arbeit.« Er sah liebevoll auf die Wände, an denen hohe Bücherschränke bis zur Decke reichten, so daß die Stube aussah wie mit Bücherrücken tapeziert.

»Mir wird angst vor der Menge,« sagte Ilse und half ihm seine eigenen Werke in eine dunkle Ecke tragen, welche ihnen jetzt als Standquartier eingeräumt wurde. »Sie sehen so gleichgültig aus, und doch mögen viele in Leidenschaft geschrieben sein und auch die Leser aufgestört haben.«

»Ja,« sagte der Gatte, »sie sind die großen Schätzehüter des Menschengeschlechts. Das Beste, was je gedacht und erfunden wurde, bewahren sie aus einem Jahrhundert in das andere, sie verkünden, was nur einst auf Erden lebendig war. Hier steht, was wohl tausend Jahre vor unserer Zeitrechnung geschaffen wurde, und dicht daneben, was erst vor wenig Wochen in die Welt wanderte.«

»Von den Röckchen, die sie tragen, sieht fast eins aus wie das andere,« sagte Ilse, »ich würde mich schwer darin zurechtfinden.«

Der Professor erklärte ihr die Anordnung, führte sie von einem Schrank zum andern und wies ihr einzelne, die ihm besonders lieb waren.

»Und du brauchst sie alle?«

»Gelegentlich wohl noch viele andere. Die hier stehen, sind doch nur ein unendlich kleiner Teil der Bücher, welche je gedruckt wurden. Denn seit sie erfunden sind, liegt in ihnen fast alles, was wir wissen und Bildung nennen. Aber das ist es nicht allein,« fuhr er geheimnisvoll fort, »wenige denken daran, daß ein Buch mehr ist als ein Werk des schaffenden Geistes, das er von sich absendet wie der Tischler einen bestellten Sessel. Zwar an jedem Menschenwerk bleibt etwas von der Seele des Menschen hängen, der es gefertigt. Das Buch aber schließt zwischen seinen Deckeln in Wahrheit den Geist des Menschen ein. Was ein Mann für andere bedeutet, der beste Teil seines Lebens, bleibt in dieser Form für die nächsten Geschlechter, vielleicht bis in die fernste Zukunft. Sowohl die, welche ein gutes Buch schreiben, als auch solche, deren Leben und Tun im Buche dargestellt wird, sie beharren in der Tat lebendig unter uns. Wir verkehren mit ihnen als mit Freunden und Gegnern, wir bewundern und bekämpfen, wir lieben und verabscheuen sie nicht weniger, als wenn sie leibhaftig unter uns weilten. Der Menschengeist, der zwischen solche Deckel eingeschlossen ist, wird dadurch auf Erden unvergänglich, und deshalb dürfen wir sagen, im Buche dauert das geistige Leben des einzelnen, und nur der Geist, welcher eingebucht wird, hat sichere Dauer auf Erden.«

»Aber der Irrtum dauert auch,« rief Ilse, »und die Lügner und die unreinen Geister, wenn sie sich in ein Buch stecken.«

»Auch sie, sie werden durch andere Geister widerlegt. Sehr verschieden freilich ist Wert und Bedeutung dieser Unsterblichen. Bei wenigen bleibt das Schöne und Große, das sie gefunden, für alle Zeiten, viele gelten späterer Zeit nur, weil wir erkennen, wie in ihren Tagen das Wesen der Menschen beschaffen war, andere endlich sind ganz nichtig und unnütz, und solche schwinden schnell dahin. Aber alle Bücher, die geschrieben wurden, vom ältesten bis zum jüngsten, stehen in einem geheimnisvollen Zusammenhang. Denn sieh, keiner, der ein Buch geschrieben, ist durch sich selbst geworden, was er uns ist, jeder steht auf den Schultern seiner Vorgänger. Alles, was vor ihm geschaffen wurde, hat irgendwie dazu geholfen, ihm Leben und Geist zu bilden. Und wieder was er geschaffen, hat irgendwie andere Menschen gebildet, und aus seinem Geist ist in spätere übergegangen. So bildet der Inhalt aller Bücher ein großes Geisterreich auf Erden, von den vergangenen Seelen leben und nähren sich alle, welche jetzt schaffen. In diesem Sinne ist der Geist des Menschengeschlechts eine unermeßliche Einheit, der jeder einzelne angehört, der einst lebte und schuf, und jetzt atmet und Neues wirkt. Der Geist, den die vergangenen Menschen als ihren eigenen empfanden, er ging und geht jeden Tag in andere über. Was heut geschrieben ist, wird morgen vielleicht die Habe von tausend Fremden, wer längst seinen Leib der Natur zurückgegeben hat, lebt unaufhörlich in neuem irdischen Dasein fort und wird täglich in Tausenden aufs neue lebendig.«

»Höre auf!« rief Ilse ängstlich, »mir schwindelt.«

»Ich sage dir das heut, weil auch ich mich als bescheidenen Arbeiter in diesem irdischen Geisterreich fühle. Diese Empfindung gibt mir eine Freude am Leben, die unzerstörbar ist, und sie gibt mir beides, Freiheit und Demut. Denn wer in solchem Sinne arbeitet, der schafft, ob seine Kraft sich groß, ob klein erweise, nicht sich zur eigenen Ehre, sondern für alle. Er lebt nicht für sich, sondern für alle, gleichwie alle, die gewesen sind, für ihn fortleben.« So sprach er ernsthaft, von seinen Büchern umgeben, und die scheidende Sonne warf ihre Strahlen freundlich auf sein Haupt und auf die Behausung seiner Geister an der Wand. Ilse aber sagte, an seine Schulter gelehnt, demütig: »Ich bin dein, lehre mich, bilde mich, mache mich verstehen, was du verstehst.«


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