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26. Kapitel.
Der Kinder Auszug

Zu Hameln herrschte, seitdem die Ratten aus der Stadt verschwunden, nur Lust und Freude. Die Sorge und das Mißvergnügen, welche jene Plage über die Stadt gebracht, war geschwunden, und die Bewohner erwachten zu neuem Leben und zu frischer Regsamkeit. Der Verkehr erblühte, wie kaum zuvor, die Landstraße war sicher, seitdem sich die Bürger dem Raubritter überlegen gezeigt, und große Warenzüge bewegten sich durch die Stadt mit nützlichen, kunstvoll und reich gearbeiteten Gegenständen belastet, die in den von keiner Sorge bedrückten reichen Städtern gute Abnehmer fanden. Die Nachbarstädte blickten mit Achtung auf die Wehrhaftigkeit des Hamelner Kriegsvolkes und das Lob dieser Weserstadt erscholl weithin – überall aber pries man Herrn Allardi als den weisesten und tapfersten Mann, denn ihm fiel der Ruhm zu, den rechten Mann ergründet zu haben, der das Befreiungswerk von der Plage vollführte, und er war es, welcher den Kriegszug gegen den Raubritter bewirkte und glücklich entscheiden ließ.

Der Bürgermeister genoß diesen Ruhm, der ihm unverdient zukam, mit der Würde eines Mannes, der überzeugt war, diese Dienste seiner Stadt in Wahrheit erwiesen zu haben – aber die Gewissensbisse wegen des Mordes an Heinrich, und wegen des begangenen Unrechts an Hunold ließen ihn diesen Ruhm als gar teuer erkauft empfinden. Im Kreise der Seinigen, im Rate, auf der Straße, flog ihn oftmals ein jähes Angstgefühl an, das ihn zu Tode erschreckte, denn er gedachte der Drohworte des Spielmanns und das: »Auge um Auge, Zahn um Zahn,« tönte ihm Tag und Nacht in die Ohren, so daß sein Wesen düster und seine Gesundheit hinfällig wurde. Bis in sein Innerstes erschrak er jedoch, als er den Tod der beiden Anstifter des Verrates an Heinrich vernahm – Peter und Paulus im Leben zusammen Böses ersinnend und ausübend, waren von ihrem Geschick an einem Tage ereilt worden. Herr Allardi fand keine Ruhe mehr; rastlos war er im Dienste der Stadt thätig und ein jeder Bürger Hamelns suchte ihm nachzueifern in der Ausübung seiner Pflichten. Hierin stand er unerreicht da; aber nur um sein Gewissen zu betäuben gab er sich dem Dienste der Stadt so eifrig hin, und zitternd gedachte er der Stunde, wo das Verderben auch bei ihm anpochen würde.

In seiner Herzensangst suchte er Trost in der Religion und er ordnete an, daß am Tage St. Pauli, dem 26. Juli, ein feierlicher Dankgottesdienst für die Errettung der Stadt von der allgemeinen Not, in allen Kirchen der Stadt abgehalten werden sollte. Heller Sonnenschein lag an jenem Tage über Hameln, nachdem es die Nacht vorher geregnet hatte und in der Zuversicht, durch Frömmigkeit und Buße der Qualen, welche ihm sein Gewissen bereitete, entledigt zu werden, schöpfte er aufs neue Mut. Als er sich mit seinem Weibe und der ganzen Sippe, im feierlichen Zuge zur Bonifaciuskirche begab, da leuchtete sein Blick und seine Brust hob sich stolz, denn überall, wo er sich zeigte, wurde ihm dankbarer Gruß zu teil. Wie einem fürstlichen Herrscher zollte man ihm Ehrerbietung, als er inmitten der Seinigen in die Kirche trat; die Menge der Gläubigen, welche die Gotteshäuser erfüllte, wuchs stetig an, denn sämtliche Männer und Frauen Hamelns waren in die Kirche geeilt, um ihren Gott zu bekennen und dem Himmel für ihre Rettung zu danken. Nur die Greise und Kranken hatten die Häuser nicht verlassen, wohl aber die Kinder, welche, ohne Aufsicht und von dem goldenen Sonnenschein gelockt, in hellen Haufen auf den Plätzen und in den Straßen der Stadt spielten.

Wen bringt aber dort jene Kinderschar mit hellem Zuruf, unter Tanz und Gesang die Straße hinauf? Hunold ist es, fürwahr, der Spielmann, den die Jugend so lange vermißte, welchen sie dankbaren Herzens bewillkommnet. Die größeren Knaben und Mägdelein tanzen einen Ring um ihn, die kleineren begnügen sich die Straßen mit ihrem Jubelruf zu erfüllen. Einander bei den Händen fassend, bewegt sich die Jugend im Reigenschritt die Straße hinauf, welche zu dem Thore hinaus auf die Landstraße führt. Zwar erscheint der Spielmann seiner Kinderschar heut recht befremdlich, kannte sie ihn doch bis heut nur in seinem dunklen Gewände, in welchem er so vornehm und doch so freundlich aussah und heut trägt er ein Wams und Hosen, welche von bunten Flickchen genäht zu sein scheinen, denn alle Farben strahlen von ihnen aus und in kleinen Vierecken schillert sein Anzug in Rot und Grün, Weiß und Blau. Hunderte von Ärmchen strecken sich dem jubelnd Empfangenen entgegen und von den unschuldigen Lippen ertönt der Wunsch: »O, Hunold, spiel uns etwas, damit wir artig tanzen.« Und der Spielmann lächelt gar eigenartig, als er auch die Kinder des Herrn Allardi unter der Schar erblickt, wie sie, im Verein mit den Sprößlingen der Mitglieder des Rates, ihn flehentlich bitten, sein Liedlein ertönen zu lassen. Ohne Zögern greift seine Rechte in den Beutel, der ihm zur Seite hängt, aus welchem er jetzt jenes seltsame Instrument hervorholt, das ihm Menschen und Tiere bannt. Ein Jauchzen steigt aus der Kinderschar zum sonnenbestrahlten, blauen Himmel empor als er die Pfeife an die Lippen setzt; um ihn her trippelt der Schwarm der Knaben und Mägdelein, der Schwarzen, Braunen und Flachsköpfchen. Die Pfeife erschallte – den offenen Kirchthüren entquollen die frommen Gesänge der Betenden – und durch die Straße lockten die schmeichelnden Weisen der Spielmannspfeife. In tollem Reigen umsprangen die von der Tanzwut befallenen Kinder den buntgekleideten Mann, welcher mit leichten Schritten dem Osterthore zuging. Hell erklang der Pfeifenton, als Hunold mit seinem Gefolge – an die hundertdreißig Kinder – durch den grünprangenden Wald zog und die Wipfel der Bäume schüttelten sich im Winde und ließen die Sonnenstrahlen ab und zu auf den Moosboden huschen; kühl und angenehm feucht war es hier, während das Dorf an der Landstraße von der heißen Junisonne beschienen wurde, in welcher auch der zur Seite liegende Kalvarienberg erstrahlte. Der Spielmann ging auf diese Anhöhe zu und der Kinderschwarm folgte ihm, stets hüpfend und tanzend, ohne daß auch das kleinste Wesen eine Spur von Ermüdung zeigte. Bei der großen Heerstraße traten sie aus dem Wald, und hier brach Hunold plötzlich sein verführerisches Spiel ab. In duftige Nebel gehüllt, welche von der Vormittagssonne beschienen, silbergrau strahlten, lag die Stadt, die er vor einer Weile verlassen hatte vor ihm, und indem sein Auge ihre Häuser und hochragenden Türme erfaßte, streckte er seine Hand gegen dieselbe aus und rief:

»Ihr habt mich herausgefordert! Ihr, Herr Allardi und Ihr, Herren vom Rat dieser mächtigen Stadt, beugtet das göttliche Recht, weil ich ohne Anhänger war und Euch gar wenig vornehm erschien. Aber der Herr rächt die Sünde der Väter bis ins dritte und vierte Geschlecht, vom Beginn bis zum Ende der Welt und wisset, ein ewiges Denkmal stifte ich, wegen Eurer fluchwürdigen Blutthat an dem unschuldigen Jüngling und wegen Eures Wortbruches an mir – und jammern werdet Ihr nach Euren Kindern. Meinen Lohn gab ich daran, denn ruhelos wandle ich umher und schnöden Reichtum – nicht acht' ich ihn deshalb! Aber Eure Rachgier und Euer Hochmut schreien zum Himmel, und die Satzung: ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹, gehe in Erfüllung; das Liebste raubtet Ihr mir und – ich versprach es Euch – ich übe Vergeltung.«

Fragend sahen die Kinder zu ihm empor, denn sie verstanden ihn nicht und wußten nicht weshalb er in den Wind hinaus redete. Als er geendet, versank er einen Augenblick in tiefes Nachdenken, und sein Auge schweifte, wie Barmherzigkeit für die Jugend empfindend, langsam über die Köpfchen der Kinder. Dann einen tiefen Seufzer ausstoßend, ergriff er die Pfeife und setzte sie an die Lippen. Wie jubelten die Kleinen, als sie einen Laut wieder von seiner Pfeife vernahmen. Entsetzt aber fuhren sie zusammen, als aus dem Instrument ein Posaunenton erklang und der Kalvarienberg sich plötzlich auseinanderthat! Aus seinem Innern entquoll dichter Dampf, aber Hunold schritt auf den Spalt zu und er entlockte seiner Pfeife die süßesten Weisen. Da gab es für die Kinder kein Halten mehr. Mit Aufbietung ihrer letzten Kräfte eilten sie dem Spielmann nach und – der Berg nahm sie und den wunderbaren Spielmann auf, sich hinter ihnen für alle Ewigkeit schließend! …

Von diesem Tage an begann für Hameln großes Leid. Aus der Stadt war mit der fröhlichen kleinen Schar die Freude ausgewandert und düstere Trauer herrschte in ihren Straßen und Häusern. Grade die vornehmsten Geschlechter waren am härtesten betroffen worden und unter den Männern, welche im Rate der Stadt saßen, gab es nicht einen, welcher für seine Familie nicht auch um ein verschollenes Kind weinte. Die Eltern zogen oft hinaus, durch das Thor, über die Landstraße durch den Wald und suchten am Kalvarienberge die Öffnung, welche die Kleinen verschlungen, aber trostlos kehrten sie zurück; was der Berg verschlang, gab er nicht mehr zurück. Herr Allardi, welcher zwei liebliche Kinder unter den Verlorenen sein eigen genannt, ging nicht mehr stolz und aufrecht durch die Straßen; gebeugten Hauptes und demütig schlich er dahin, als wollte er nicht die Leute sehen, welche auf ihn wiesen: »Seht, sein Wortbruch und seine Treulosigkeit ließen über uns das große Unglück kommen, um das wir immer klagen werden.« In stiller Kammer bat er Gott, es bei dieser Prüfung beenden zu lassen, denn nach Jahren noch klangen ihm die Worte Hunolds in die Ohren: »Ihr habt mir das Liebste entrissen, also werde ich Euch auch das Teuerste nehmen« – und wie vorher, so hatte der Spielmann auch hierin sein furchtbares Wort gehalten!

Hedwig und Hilda jedoch lebten auf der Lingenburg und ehrten das Andenken Heinrichs, indem sie Gutes thaten und das Wohl aller ihrer Dienstmannen im Auge behielten. Oft ließ sich die Blinde in die Stadt führen und durch Irma, welche ihr bis an ihr Lebensende eine treue Stütze und Freundin blieb, an das Grab Heinrichs leiten. Eines Tages, als sie mit ihrer Herrin an dem Wirtshause vorüberging, in welchem Hunold und Heinrich mit den Zunftmeistern jenes frohe Beisammensein verlebten, las die Begleiterin Hildes, an der Stirnseite desselben, folgende Inschrift:

 

»Anno 1284 am Dage Johannis et Pauli war dort einen Piper mit allerley Farbn bekleidet gewesen, CXXX Kinder verlocket, binnen Hameln geborn to Calvarie bi den Koppen.«

 

Thränen verdunkelten Irma's Augen und sie behielt das eben Gelesene für sich, denn so oft von diesem traurigen Ereignis oder von Hunold und Heinrich, auch noch in späten Jahren, unter ihnen gesprochen wurde, versank die Blinde in tiefes Nachdenken und ihren Lippen entfuhren die Worte: »Ein edleres Paar gab es nie!«

*

 


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