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21. Kapitel.
Trennung

Wochen waren dahingegangen, seitdem der Ehrenfels in Asche gelegt war und in Hameln freute sich Jung und Alt, daß Herr Cornelius in so kurzer Zeit dem Wegelagerer das Handwerk gelegt hatte. Der Bürgermeister und Rat empfanden diese Freude doppelt, denn die schnelle Ausführung des Kriegszuges gegen Peter hatte sie vor dem Darlehn, welches das Kloster durch Paulus angeboten, bewahrt. Heinrich und Hunold waren schon vor Ostern aus der Stadt verschwunden und niemand wußte wohin; zu gleicher Zeit vermißte die Stadt aber auch einen, den sie bisher wohl verwahrt hielt. Bodo war an demselben Tage, als Hunold aus der Stadt zog, aus dem Kerker entwichen, und das Gespräch der ganzen Stadt behauptete, daß finstere Mächte ihm nur dabei geholfen haben könnten, da durch eigene Kraft bisher nie ein Gefangener aus diesem Kerker entronnen. Bodo hatte bis dahin sein Gefängnis mit den Ratten geteilt und mußte zuletzt den Tieren gradezu Schlachten liefern, um sich ihrer zu erwehren; ein tiefer Haß gegen Peter hatte sich während der wochenlangen Haft in ihm festgesetzt, denn der Ritter hatte nie ernstlich an seine Auslösung gedacht und ihn in der Stadt seinem Schicksal überlassen. In manchen ruhelosen Nächten hatte er dem wilden Peter Rache geschworen, und so unbeständig er auch sonst war, das wußte er, wenn ihm die Freiheit wiedergegeben, den Schwur würde er halten. –

Daß der Spielmann die Stadt verlassen, wollte besonders der Jugend nicht in den Sinn. Noch lange nachdem Hunold der Stadt ade gesagt, ging die Sage von ihm, denn die Kinder erinnerten sich gern des Mannes in der fremden Tracht, und Knaben und Mädchen hatten sich allzu gern nach dem Klang seiner Fiedel in den Straßen Hamelns im lustigen Reigen gedreht. Viele bittere Thränen flossen, als die Kinder hörten, daß ihr Freund, welcher in den wenigen Tagen seiner Anwesenheit ihre kleinen Herzen so für sich eingenommen, seinen Ränzel geschnürt und in die weite Welt hinausgegangen wäre. Nach Kinder Art mochten sie es nicht glauben, und viele zogen oft bis ans Thor, ja bis an die Weserbrücke, um ihn zu erwarten, denn die Jugend hofft stets, und die Kinder waren überzeugt, daß er einst wiederkommen würde.

Aber nicht nur die Jugend, sondern auch die Väter der Stadt fühlten sich unangenehm überrascht, als der Spielmann sein Wort wahr gemacht und die Stadt verlassen hatte. Herr Rathgen und der Gerber waren, so verschieden auch sonst ihre ganze Sinnesart, von dem Zauber, der Hunold umfloß, so hingerissen, daß sie dem Bürgermeister bei der nächsten Zusammenkunft vorwarfen, im Dienste des Klosters zu stehen und nur aus Dienstbarkeit vor der Geistlichkeit dem Fremden den Aufenthalt in Hameln unmöglich gemacht zu haben. Herr Allardi bedauerte jedoch bei sich am meisten, daß der Spielmann, welcher ihm in seiner Kühnheit und bestimmten Weise im ersten Augenblick gefährlich erschienen war, sich selbst so schnell Wort gehalten hatte, denn die Verzweiflung über die Rattenplage war in der letzten Zeit in Hameln so groß geworden, daß es ihm schwer ums Herz wurde, Hunolds Vorschlag von der Hand gewiesen zu haben. Außerdem fiel gerade bei ihm noch ein anderer Umstand ins Gewicht; er handelte mit Getreide und war zu geizig gewesen, um, wie die meisten anderen Bürger, außerhalb der Stadt ein Vorratshaus zu errichten, worin er das Getreide vor den Ratten bergen konnte. Bis vor kurzem schien auch sein Haus vor diesen bösen Gästen gefeit. Tiefe, ins Gestein gesprengte Keller bargen die Vorräte, und die dicken Mauern hatten bisher den Nagetieren Widerstand geleistet, aber die Überzahl der Ratten, welche vor Hunger schon so zudringlich wurden, daß sie kleine Kinder in der Wiege anfielen, ermöglichte es, daß sie seit Ostern auch durch das Felsgestein sich ihren Weg bahnten und nun lustig in all den Getreide- und Mehlsäcken wüteten, welche dort aufgehäuft waren. Die Wahrnehmung, daß der Keller keinen Schutz mehr bot, machte Herrn Allardi sehr traurig und nachdenklich, und bei einer der nächsten Ratssitzungen war er es selbst, welcher den Wunsch aussprach, den Spielmann aufsuchen zu lassen, um wie er sagte, die öffentliche Meinung, welche ihn der Ungerechtigkeit gegen Hunold zieh, zu versöhnen. Ins Geheim jedoch dachte er nur an seinen eigenen Vorteil, wenn er sich auch zuletzt über Hunold eine bessere Meinung gebildet, wie vorher. Seitdem der Spielmann entwichen war, beschäftigte sich sein Sinn oftmals mit ihm, und er wurde bald von dem Urteil der Menge so beeinflußt, daß auch in ihm die Meinung aufkam, Hunold wäre ein ganz außergewöhnlicher Mensch. Von Tag zu Tag stieg die Not in seinen Vorratsräumen; zernagt und zerbissen wurde alles, was nicht von Eisen war, und Korn wie Mehl wurden von den schrecklichen Gästen hart mitgenommen. Sorge lag auf seiner Stirn und er, welcher oftmals über die Rattennot gelächelt, weil er sie nie bisher empfunden, war einer der ersten, welcher in der Ratsversammlung darauf antrug, ein durchgreifendes Mittel gegen die frechen Eindringlinge zu ergründen.

Während dessen hatte Hunold seinen Freund Heinrich, der sich zu derselben Stunde, als ihm der Aufenthalt in der Stadt verwehrt wurde, auf flüchtigem Pferde davongemacht, wieder aufgefunden, und die Freude des Wiedersehens ließ Heinrich von neuem erkennen, wie sehr er diesen wunderbaren Mann liebte. Beide zogen sie erfreut dahin. Frühling war es in Feld, Au und Wald, und lichte, grüne Sprossenszeit in ihren Herzen; Jugend lag auf ihren Gesichtern und Lebenslust, denn eine jede drückende Sorge war ihnen unbekannt, und frei fühlten sie sich, wie die Vögel in der Luft. Alles grünte und blühte um sie her, ein sanfter, kühler Wind ließ die Kronen der Bäume sich hin und her neigen; ein jedes ihrer Blätter erzitterte und bebte, und in der Natur herrschte Bewegung, Treiben, frisches, neues Leben. Der Spielmann verstand die Stimmen aller Waldvögel zu unterscheiden, kunstfertig konnte er ihren Gesang nachahmen, und Heinrich wußte oft nicht, ob der süße Laut, welcher ihn begleitete, der Kehle eines Waldvogels entquoll oder den Spielmann zum Urheber hatte. Einige Wochen schon waren sie in der Runde umhergewandert, und manche gastfreundliche Burg hatte ihnen Nachtquartier und Imbiß gegeben. Dort ertönte des Abends vor den freundlichen Wirtsleuten ein Lied, wie jene es noch nie von einem Sänger vernommen, und bedauernd sah man ihnen nach, wenn des anderen Morgens die beiden Jünglinge den gastfreundlichen Ort verließen, denn Hunold hatte sich in die Herzen aller eingesungen und Heinrichs freies und ritterliches Benehmen eroberte seine Wirte im Fluge, daß sie ihn ungern ziehen ließen. –

Eines Tages leuchteten vor ihnen die Türme der Stadt Fulda auf und in dem Fremdenhause des prächtigen Klosters fanden beide Unterkunft. Ihre Namen hatten sie verändert, um jeder Nachfrage zu entgehen, und so vernahmen sie denn, daß in der Osterwoche die Stadt Hameln einen Mann aus ihren Mauern getrieben hätte, der dieselbe binnen wenigen Stunden von der Rattenplage befreien wollte. An dem großen Gasttische des Speisesaales saßen manche edle Fremden und vielfach ward die Meinung laut, daß die Hamelner gegen sich ein großes Unrecht verübt hätten, wenn sie einen Mann, der ihnen diese Wohlthat anbot, aus ihrer Gemeinschaft ausschlossen. Indessen war der Zweifel unter den Anwesenden allgemein, ob der Fremde zu Hameln sein Versprechen hätte erfüllen können und bald war man einig, daß die Ausführung des Vorhabens bei der ungeheuren Menge der Tiere ein Unding wäre. Hunold und Heinrich verrieten mit keinem Worte, wie sehr diese Erzählung sie anging, aber als der feurige Klosterwein das Blut in Wallung geraten ließ, wurden auch sie zu den um den Tisch sitzenden Gästen gesprächiger, und bald erfuhren die Mönche in den Klostergebäuden, welche von ihren einsamen Zellen aus auf die hell erleuchteten Fenster des Fremdenhauses wachsame Augen hatten, daß drüben eine lustige Gesellschaft tafelte, denn fröhliche Lieder und lautes Gespräch tönte von dort zu ihnen herüber. –

In den Fremdenhäusern der Klöster ging es zu jener Zeit gar weltlich zu. Wo der Becher kreiste waren auch gewiß die Würfel zur Hand und bald klapperten dieselben auf den Tischen. Drüben in den dunklen Zellen des Klosters hörten sie manch kräftigen Faustschlag von hier hinüber, wenn der kühne Wurf nicht das ergab, was der Spieler von ihm erhoffte. Mit südlichem Feuer oblag Heinrich dem Spiele. Seine Wangen färbten sich purpurrot, und der starke Wein machte ihm bald die Sinne nebeln, so daß er nicht mehr recht wußte, was er that. Der Spielmann stand hinter seinem Sessel und sah regungslos dem wilden Treiben zu, das sich vor seinen Augen vollzog. Die Teilnehmer am Spiele waren zumeist Kaufleute, welche dem Kloster Güter zugebracht und mit gefüllter Geldtasche am nächsten Morgen von Fulda weg in ihre Heimat reisen wollten. Aber auch ein junger Mann in ritterlicher Kleidung saß an dem großen Tische Heinrich gegenüber, und gerade dieser führte das erste Wort bei dem Spiele, und als die Würfel ihm hinter einander zuwider waren und sich vor Heinrich der Gewinn immer mehr anhäufte, begann Waldemar Allardi, der hochmütige Neffe des Bürgermeisters von Hameln, auf den glücklichen Spieler zu sticheln. Heinrich merkte nur auf das Spiel, aber nahm nicht wahr, daß ihm diese Reden galten und sah erstaunt auf, als Waldemar aufsprang und mit einer lauten Verwünschung gegen den Gewinner das Zimmer verlassen wollte. Kaum begriff jedoch Heinrich, daß der Bursche seiner Ehre zu nahe ging, als er seinen Dolch zog und, obschon von Hunold zurückgehalten, die dreikantige Waffe dem Beleidiger so geschickt nachschleuderte, daß sie dem Hamelner Jüngling tief in den Rücken fuhr. Lautes Geschrei erhob sich, als Waldemar, vor Schreck stöhnend, in dem Flur des Hauses niedersank. Diese Verwirrung benutzte Hunold, um sich und seinen Freund unter dem Schutze der Dunkelheit auf den Klosterhof zu retten. Sie sattelten die ersten besten Pferde, welche unbewacht in den Ställen standen und fanden, da das Kloster noch mehrere Zufuhren erwartete und deshalb die Thore geöffnet waren, zu ihrem Heile einen Ausweg zur schleunigen Flucht.

Kein Wort hatte bis dahin Hunold mit dem Freunde gesprochen; er spornte sein Roß zur schärfsten Gangart an, und Heinrich folgte ihm mit gesenktem Kopfe und recht niedergedrückten Sinnes. Endlich hielt Hunold sein Tier an einem Kreuzwege an, damit es verschnaufe und als Heinrich dasselbe that, sagte er, sich zu ihm wendend:

»Gehe Du auf die Lingenburg zurück, lieber Freund, und lerne erst den Zorn bemeistern. Beherrsche Dich selbst und nie werde der Zorn Dein Meister.«

Doch als Heinrich sein Roß an das des Spielmanns herandrängte und die Arme ausstreckte, um jenen zu umschließen, da ergriff jener die Hände des Jünglings, drückte sie an sich und sah ihm fest in die Augen.

»Nicht der tapfere Arm, nicht der wahre Mut des Kühnen macht groß und mächtig, sondern lerne zuerst Deine Begierden zügeln, und wenn Du dies vermagst, so wirst Du ein Held sein. – Suche für einige Zeit die Verborgenheit, gehe auf die Lingenburg zurück. Hast Du vergessen, daß wir gerade den Abt gebrauchen, um Paulus zu demütigen und Dein Eigentum zurückzuerlangen? Vergaßest Du, daß wir nur gen Fulda ritten, um dem Abt über den verräterischen Mönch die Augen zu öffnen? Nun ist alles dahin. Du brachest den Klosterbann, indem Du dem Jüngling das Eisen nachschleudertest, Du entfremdetest Dir den Bürgermeister, da Du seinen Verwandten nahezu tötetest.«

Thränen rannen über Heinrichs Angesicht und er klagte: »Was gilt mir Besitz, da ich Deiner entbehren muß, o Freund.«

Doch Hunold drängte und ließ nicht nach mit Vorstellungen.

»Gehe zu Deinem Ohm Ottokar und sei ihm in seinem Alter eine Stütze, tröste Deine Base Hedwig und wahre Deinen Besitz gegen Peter, welcher auf der Lingenburg seine Tage dahinbringt und Deinem Ohm böse Gedanken gegen Dich einflößt. Verbirg Dich an sicherer Stelle, denn von Hameln wird man Dir nachstellen. Wenn mein Werk gelungen, wenn ich die Pläne des ränkevollen Mönches zu Schanden gemacht, dann sehen wir uns wieder.«

Er gab seinem Rosse die Sporen und verschwand in der Nacht, viel zu schnell für Heinrich, der ihm nachrief:

»Lebewohl, herrlicher Sänger, liebwerter Freund, ich bin Dir treu bis übers Grab.«


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